Aus der Wörtersammlung: schal

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daniel pearl

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nord­pol : 6.22 — In weni­gen Tagen wer­de ich die Woh­nung, in der ich lan­ge Zeit leb­te, ver­las­sen, um in eine ande­re, grö­ße­re Woh­nung zu zie­hen. Es wird eine Woh­nung unter dem Dach sein, ver­mut­lich wer­de ich Tau­ben hören, wie sie über mir plau­dernd spa­zie­ren. Ich habe erfah­ren, dass Tau­ben­paa­re auch nachts mit­ein­an­der spre­chen, wäh­rend ande­re Vögel still oder stumm zu sein schei­nen. Aber viel­leicht zwit­schern die­se Vögel, die nicht Tau­ben sind, doch, wenn sie träu­men. Es ist selt­sam, wie ein Frem­der füh­le ich mich nach und nach, wenn ich mich in mei­ner eige­nen Woh­nung bewe­ge. Ich über­leg­te, wer in weni­gen Wochen hier von einem Zim­mer in ein ande­res Zim­mer lau­fen wird. Die­ser Mensch oder die­se Men­schen wer­den zunächst kei­ne Ahnung haben, kei­ne Vor­stel­lung, sagen wir, wer vor ihnen in die­sen Räu­men wohn­te. Es ist denk­bar, dass sie viel­leicht mei­ne Nach­barn fra­gen wer­den. Ich könn­te eine Foto­gra­fie mit mei­nem Namen und einer Bot­schaft hin­ter­las­sen: Hal­lo, hier wohn­te Lou­is, hier an die­ser Stel­le stand mein Schreib­tisch, hier habe ich Tex­te notiert. In einem Win­ter vor lan­ger Zeit, ich ahn­te nicht, dass ich die­se mei­ne Woh­nung ein­mal auf­ge­ben wür­de, hat­te ich die Zeit ver­ges­sen. Ich schrieb Fol­gen­des: Was haben wir heu­te eigent­lich für einen Tag, Sonn­tag viel­leicht, oder Mon­tag? Abend jeden­falls, einen schwie­ri­gen Abend. Wür­de ich aus mei­ner Haut fah­ren, sagen wir, oder mit einem Auge mei­nen Kör­per ver­las­sen und etwas in der Zeit zurück­rei­sen, dann könn­te ich mich selbst beob­ach­ten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, wäh­rend er Tee zube­rei­tet, er sagt: Heu­te machen wir das, heu­te ist es rich­tig. Ein Bün­del von Melis­se zieht durchs hei­ße, sam­tig flim­mern­de Was­ser. Jetzt trägt er sei­ne damp­fen­de Tas­se durch den Flur ins Arbeits­zim­mer, schal­tet den Bild­schirm an, sitzt auf einem Gar­ten­stuhl vor dem Schreib­tisch und arbei­tet sich durch elek­tri­sche Ord­ner in die Tie­fe. Dann steht der Mann, er steht zwei Meter vom Bild­schirm ent­fernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürch­tet. Da ist eine Stim­me. Eine schril­le Stim­me spricht schep­pernd Sät­ze in ara­bi­scher Spra­che, uner­träg­lich die­se Töne, sodass der Mann vor dem Schreib­tisch einen Schritt zurück­tritt. Er scheint sich zur Betrach­tung zu zwin­gen. Zwei Fin­ger der rech­ten Hand bil­den einen Ring. Er hält ihn vor sein lin­kes Auge, das ande­re Auge geschlos­sen, und sieht hin­durch. So ver­harrt er, leicht vor­ge­beugt, bewe­gungs­los, zwei Minu­ten, drei Minu­ten. Ein­mal ist sein Atmen hef­tig zu hören. Kurz dar­auf steht er wie­der in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühl­schrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unru­he, die lan­ge Zeit in die­ser Hef­tig­keit nicht wahr­zu­neh­men gewe­sen war. Ein Mensch, Dani­el Pearl, wur­de zur Ansicht getö­tet. – Was machen wir jetzt? - stop

ping

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sarajevo

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gink­go : 6.38 — Ich habe die­se Geschich­te ges­tern Abend selbst erlebt. Wenn sie mir jemand ande­res als ich selbst erzählt haben wür­de, hät­te ich sie viel­leicht nicht geglaubt, weil sie schon ein wenig ver­rückt ist. Die Geschich­te beginnt damit, dass ich in einem Café sit­ze und auf einen jun­gen Mann war­te, der mir etwas erzäh­len will. Ich bin früh­zei­tig gekom­men, bestel­le einen Cap­puc­ci­no und schal­te mein klei­nes Hand­ki­no an, beob­ach­te eine Doku­men­ta­ti­on der Arbeit Maceo Par­kers in New York, mit­rei­ßen­de Musik, soeben umarmt die Sän­ge­rin Kym Mazel­le den Posau­nis­ten Fred Wes­ley, als der jun­ge Mann, den ich erwar­te­te, plötz­lich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den klei­nen Bild­schirm. Sofort kom­men wir ins Gespräch. Ich fra­ge ihn, wel­che Musik er gehört habe, als Kind in der bela­ger­ten Stadt Sara­je­vo. Jeden­falls nicht sol­che Musik, ant­wor­tet er, und lacht, no Funk, wir hat­ten kei­nen Strom. Avi ist heu­te Anfang drei­ßig, dass er noch lebt ist ein Wun­der. Tat­säch­lich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sara­je­vo erzählt. Ein­mal frag­te ich ihn, was er emp­fun­den habe, als er von Karad­zics Ver­haf­tung hör­te. Anstatt zu ant­wor­ten, perl­te in Sekun­den­schnel­le Schweiß von Avis Stirn. Heu­te schwitzt er schon, ehe er über­haupt zu erzäh­len beginnt, weil er weiß, dass er gleich wie­der berich­ten wird von den Stra­ßen sei­ner Hei­mat­stadt, die nicht mehr pas­sier­bar waren, weil Scharf­schüt­zen sie ins Visier genom­men hat­ten. Man schleu­der­te Papie­re, Ziga­ret­ten, Bro­te, Was­ser­fla­schen in Kör­ben von einer Sei­te der Stra­ße zu ande­ren. Die­se Kör­be wur­den nicht beschos­sen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein klei­ner Jun­ge. Er war so klein, dass er nicht ver­ste­hen konn­te, was mit ihm und um ihn her­um geschah, auch dass ein Holz­split­ter sein lin­kes Auge so schwer ver­letz­te, dass er jetzt ein Glas­au­ge tra­gen muss, das so gut gestal­tet ist, dass man schon genau hin­se­hen muss, um sein künst­li­ches Wesen zu erken­nen. Er sagt, er könn­te, wenn ich möch­te, das Auge für mich her­aus­neh­men. Aber das will ich nicht. Ich erzäh­le ihm, dass ich damals, als er klein gewe­sen war, jeden Abend Bil­der aus Sara­je­vo im Fern­se­hen beob­ach­tet habe. Was das für Bil­der gewe­sen sei­en, will Avi wis­sen. Ich sage: Das waren Bil­der, die ren­nen­de Men­schen zeig­ten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fern­se­hen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und über­all pas­sier­te. Und die­se Geräu­sche. Plötz­lich nimmt der jun­ge Mann mein klei­nes Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopf­hö­rer in sei­ne Ohren ein, hört Maceo Par­ker, Kim Macel­le, Fred Wes­ley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhyth­mus der Musik mit dem Kopf. Ein Wis­pern. — stop

ping

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ein anderes zimmer

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tan­go : 6.30 — Wie­der die Fra­ge, wie lan­ge Zeit ich bereits über Augen ver­fü­ge? Wann genau schal­te­te sich die Über­tra­gung des Lichts für mich ein? Exis­tie­ren noch Erin­ne­run­gen an die­sen ers­ten Moment, Erin­ne­rung von Far­be, Schat­ten, Bewe­gung? Wel­ches Geräusch war ers­te das Geräusch gewe­sen, das ich hör­te? Ein Herz­po­chen, ein Rau­schen viel­leicht, oder ein Stan­dard von Ben­ny Good­man, Musik in aller­nächs­te Nähe, und doch wie aus einem ande­ren Zim­mer kom­mend? — stop

polaroidvogelflug

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schallplatte

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del­ta : 3.58 — Ich stell­te mir eine Schall­plat­te vor, eine Schall­plat­te von 200 Metern Durch­mes­ser, eine Ton­spur von 100 Jah­ren Dau­er. Was könn­te auf die­ser Schall­plat­te ver­zeich­net sein? Die Geräu­sche einer Lich­tung des Ama­zo­nas Regen­wal­des viel­leicht? Oder eine mensch­li­che Stim­me, alle jene Wör­ter eines Lebens, auch in Träu­men gespro­che­ne Wör­ter. Das Schrei­en eines Kin­des. Das Selbst­ge­spräch einer uralten Frau? — stop

ping

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teegedanken

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nord­pol

~ : oe som
to : louis
sub­ject : TEEGEDANKEN
date : dec 21 12 11.05 p.m.

Eini­ge Tage und Näch­te haben wir alle gemein­sam in der Werk­statt zuge­bracht. Noe konn­te uns hören in der Tie­fe, wir hat­ten unse­re Mikro­fo­ne nicht aus­ge­schal­tet, um ihn teil­ha­ben zu las­sen, an unse­rem Leben. Jetzt, lie­ber Lou­is, jetzt, da der Hei­li­ge Abend näher kommt, wird Noe melan­cho­lisch. Er frag­te wie­der nach sei­nen Eltern, ob sei­ne Mut­ter und sein Vater noch leb­ten. Was sol­len wir ant­wor­ten? Was nur, ver­dammt, sol­len wir ant­wor­ten? Nichts als die Wahr­heit? Wir wis­sen es nicht! Und so tun wir unser Bes­tes, Noe auf­zu­hei­tern. Ben­ny Good­man spielt von der Kon­ser­ve: Live at Car­ne­gie­hall. Noe liebt Ben­ny Good­man seit Kind­heits­ta­gen. Wei­ter­hin haben wir Noe in eine leich­te, beru­hi­gen­de Schwin­gung ver­setzt, er pen­delt jetzt unter dem Schiff mit einer Ampli­tu­de von 20 Metern nach links und nach rechts. Indes­sen ahnt Noe nicht, was hier oben bei uns vor sich geht. Es ist näm­lich so, dass wir unse­rem Tau­cher eine Über­ra­schung berei­ten wer­den. Eric, unser Maschi­nist, hat­te die Idee, einen Weih­nachts­baum für Noe zu kon­stru­ie­ren, die Anmu­tung eines Weih­nachts­bau­mes genau­er, der geeig­net ist, in die Tie­fe gelas­sen zu wer­den. Wir haben uns Mühe gege­ben, der Baum ist hübsch gewor­den, drei Meter hoch, ein Gebil­de aus Metall, das über einen Stamm und Äste ver­fügt. Da und dort haben wir Unter­was­ser­fa­ckeln befes­tigt, die wir von der Fer­ne zün­den wer­den. Ein beson­de­rer Abend, lie­ber Lou­is, steht bevor! Ob wir das Licht erken­nen wer­den an der Ober­flä­che des Mee­res? Was wird Noe sagen? Und wie wer­den die Fische, die gro­ßen und die klei­nen Raub­fi­sche reagie­ren? — Es ist jetzt Frei­tag und spät. Ein Duft von Zimt, Gewürz­nel­ken und Kaf­fee strömt durch das Schiff. Am Mon­tag wer­den wir uns ein paar jun­ge Süß­was­ser­wel­se bra­ten. Es geht alles also einen guten Weg. Vor Stun­den noch zitier­te Tau­cher Noe aus dem Gedächt­nis einen wei­sen Satz, den der Phi­lo­soph Gui­do Cero­net­ti in sei­nen Tee­ge­dan­ken notier­te. Noe sag­te: Wenn ich wie ein Ver­lie­rer leben könn­te, wäre ich es etwas weni­ger. — In die­sem Sin­ne, lie­ber Lou­is: Ahoi! Dein OE SOM

gesen­det am
22.12.2012
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polaroidschirme

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eine alte frau

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del­ta : 7.28 — Eine alte Frau in den Schu­hen eines Man­nes. Sie ist klein, sie geht gebückt. Der Mann, zu dem frü­her ein­mal die Schu­he der alten, gebückt gehen­den Frau gehör­ten, muss ein Mann von statt­li­cher Grö­ße gewe­sen sein. Sie kann ihre Füße nicht vom Boden heben, ohne den schüt­zen­den Raum der rie­si­gen Schu­he zu ver­las­sen. Des­halb geht sie in einer Wei­se, als sie wür­de auf Ski­ern lau­fen. Links in der Hand trägt sie einen Stock, auf den sie sich stützt, sobald sie ein­mal ste­hen bleibt. Sie trägt einen grau­en Win­ter­man­tel, graue Hosen, einen grau­en Schal. Auch ihr Haar ist von grau­er Far­be. Eigent­lich fällt sie kaum auf in der Men­schen­men­ge, weil sie zier­lich ist und ohne Laut. Sie wan­dert in ihren Schnee­schu­hen über den Zen­tral­bahn­hof von Müll­ei­mer zu Müll­ei­mer, um jeweils in die Tie­fe der Behäl­ter­schlün­de zu spä­hen. Ich fra­ge mich, was sie suchen könn­te, viel­leicht Fla­schen oder ein Brot oder den Rest eines Apfels. Ich ken­ne die Erschei­nung die­ser Frau, ich ken­ne sie seit Jah­ren. Sie ist ein Leicht­ge­wicht, wenn ich sie mit den schwe­ren, den voll­stän­dig ver­mumm­ten Gestal­ten der New Yor­ker Stra­ßen in Bezie­hung set­ze. Als ich sie zum ers­ten Mal wahr­ge­nom­men habe, dach­te ich: Die­se Frau könn­te mei­ne Mut­ter sein, was ist gesche­hen? Damals sah die alte Frau krank aus und schmut­zig und sie roch sehr streng. Ihre Augen waren gelb­lich ver­färbt, dar­an erin­ne­re ich mich genau, ich über­leg­te, ob sie viel­leicht bald ster­ben wird. Das war vor zwei oder drei Jah­ren gewe­sen. Wie ich sie heu­te wie­der sehe, die alte Frau in den Schu­hen eines Man­nes, den­ke ich, sie ist wie eine Figur, die immer irgend­wo in Bahn­hö­fen anwe­send ist, die immer wie­der über eine die­ser Rei­se­büh­nen schrei­tet, ohne je wei­ter­zu­fah­ren, die­se Wege von Müll­ei­mer zu Müll­ei­mer und wie­der zurück auf der Suche nach etwas Nah­rung oder Pfand. An die­sem Abend über­ho­le ich sie, wen­de und bücke mich, sodass ich ihr nahe­kom­me. Sie hält an, schaut mir in die Augen. Ihre Haut ist weich und weiß und ihre Pupil­len sind klar. Ich sage: Ent­schul­di­gen Sie bit­te. Darf ich ihnen etwas geben? In dem Moment, da sie mir eine Hand ent­ge­gen­streckt, sagt sie mit der Stim­me eines Mäd­chens so hell: Dan­ke, war­um? — stop

polaroidfrau2

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mondstimme

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char­lie : 20.32 — Eine bewe­gen­de Geschich­te erzähl­te Alex­an­der Gerst, Astro­naut der ESA, er wird im Jahr 2014 auf der Inter­na­tio­na­len Raum­sta­ti­on ISS for­schen und arbei­ten. Sein Groß­va­ter sei ein begeis­ter­ter Fun­ker gewe­sen. Er habe in einem Kel­ler­raum, der brumm­te und summ­te, eine Funk­sta­ti­on betrie­ben, Knöp­fe, Schal­ter, Anten­nen, ein fas­zi­nie­ren­der Ort. Ein­mal habe sein Groß­va­ter eine sei­ner Anten­nen zum Mond hin aus­ge­rich­tet und der klei­ne Jun­ge habe kurz dar­auf in das Mikro­fon gespro­chen. Zwei­ein­halb Sekun­den spä­ter sei­en Frag­men­te sei­ner Nach­richt, reflek­tiert von der Mond­ober­flä­che, zurück­ge­kehrt. Der Astro­naut erin­nert sich sei­ner Begeis­te­rung, als er begriff, dass Tei­le sei­ner Per­son gera­de eben in Berüh­rung mit dem Mond gewe­sen waren. — stop

polaroidwalker

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schildkröte

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nord­pol : 6.55 — Ich hör­te eine Geschich­te, die von einer Frau und einem Haus erzählt, das sich in einer alten nord­grie­chi­schen Stadt befin­det. Es ist ein statt­li­ches, stei­ner­nes Haus, die Böden des Hau­ses sind von Holz wie die Trep­pen und Türen. Ein hoch­be­tag­ter Oli­ven­baum steht unweit des Hau­ses. Manch­mal sit­zen dort Sper­lin­ge und pfei­fen. Im Win­ter kann man Wöl­fe hören, wenn man die Fens­ter des Hau­ses öff­net. Gele­gent­lich kom­men Schlan­gen zu Besuch und Eidech­sen und Amei­sen und Schild­krö­ten, ja, es gibt sehr vie­le Schild­krö­ten im Gar­ten des Hau­ses, aber nicht im Win­ter, in kei­nem Win­ter, soweit Men­schen zurück­den­ken kön­nen, hat irgend­je­mand Schild­krö­ten in der Nähe des Hau­ses, im Gar­ten oder in der Stadt gese­hen. In dem stei­ner­nen Haus also wohnt eine Frau. Sie wohnt seit weni­gen Wochen allein, weil ihre Mut­ter gestor­ben ist. Über zehn Jah­re lag die uralte Mut­ter in ihrem Bett und wur­de von ihrer Toch­ter, die gleich­wohl eine älte­re Frau ist, gepflegt. Das ist so üblich in Grie­chen­land, dass sich die jün­ge­ren um die älte­ren Men­schen küm­mern, auch wenn sie selbst schon alte Men­schen gewor­den sind. Als nun die Mut­ter der alten Frau starb, war es plötz­lich sehr still im Haus. Es war so still, dass die Frau glaub­te, ihre Mut­ter noch zu hören. Nachts ver­nahm sie den Wind, aber der Wind war drau­ßen gewe­sen hin­ter den Fens­tern, und sie hör­te das Dach, wie es flüs­ter­te. Manch­mal schloss die alte Frau ihre Augen in der Dun­kel­heit und schlief ein. Es war immer das­sel­be, sie hör­te im Schlaf die Stim­me ihrer Mut­ter, wie sie nach ihr rief, und ihr Atmen und wie ein Glas zu Boden stürz­te und wie die Bett­de­cke gewen­det wur­de. Davon wur­de sie immer­zu wach, und sie hör­te schar­ren­de Geräu­sche von der Trep­pe her, und wie­der den Wind. Das ging Wochen so, kaum eine Nacht konn­te die alte Frau schla­fen, weil sie mein­te, ihre Mut­ter zu hören. Ein­mal vor weni­gen Tagen, nach­dem sie wie­der ein­mal wach gewor­den war, ver­ließ die alte Frau nachts ihr Bett. Sie stieg die Trep­pe hin­ab in die Küche. Wie sie das Licht anschal­te­te, sah sie inmit­ten der Küche eine klei­ne, jun­ge Schild­krö­te sit­zen. Ges­tern erst soll Schnee gefal­len sein. — stop

ping

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anton voyls fortgang

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del­ta

~ : oe som
to : louis
sub­ject : ANTON VOYLS FORTGANG
date : nov 10 12 10.08 p.m.

Es ist gekom­men, wie ich es erwar­tet habe. Noe schweigt. Wir haben ihm Geor­ge Perecs Roman Anton Voyls Fort­gang in die Tie­fe geschickt. Es han­delt sich in unse­rer Ver­suchs­an­ord­nung um das Unter­was­ser­buch No 282, ein Buch, in dem der Buch­sta­be E auf 320 Sei­ten nicht erschei­nen wird. Kurz nach­dem Noe sei­ne Lek­tü­re mit fes­ter Stim­me auf­ge­nom­men hat­te, ver­such­ten wir vor­her­zu­se­hen, wie lan­ge Zeit Noe lesen wür­de, ehe er das voll­stän­di­ge Feh­len eines bedeu­ten­den Buch­sta­bens im Text bemerkt haben wür­de. Er las etwa 10 Minu­ten, dann hör­te er auf, sei­ne Stim­me wur­de zunächst lei­ser, er dehn­te die Wor­te, sag­te, dass ihm etwas merk­wür­dig vor­kom­men wür­de, er kön­ne bis­her nicht sagen, was genau ihm merk­wür­dig erschei­ne, er müs­se nach­den­ken. Wir sit­zen jetzt alle vor den Laut­spre­chern und Bild­schir­men und war­ten. Im Schein der Lam­pe, die Noe und das Buch, das er in sei­nen schwe­ren Hän­den hält, beleuch­tet, sehen wir, dass er sich lang­sam bewegt. Er scheint im Buch zu blät­tern. Er scheint über­haupt noch immer, nach 656 Tagen in einer Mee­res­tie­fe von 820 Fuß schwe­bend, ein guter Beob­ach­ter zu sein, obwohl es nichts zu sehen gibt als etwas Däm­me­rung, wenn Tag gewor­den ist, und ein paar Fische, die ihn von Zeit zu Zeit besu­chen. Ich neh­me an, Noe wird oft an uns den­ken. Er hört uns zu, hört, was wir spre­chen, auch dann, wenn wir unter uns sind, wenn wir ver­ges­sen haben, das Mikro­fon aus­zu­schal­ten. An der Art und Wei­se wie wir atmen, ver­mag Noe zu unter­schei­den, ob Lin, Eric, Mar­tin, Tom, Lil­ly oder ich vor dem Mikro­fon Platz genom­men haben. Gera­de eben beginnt er wie­der zu lesen, er scheint an den Anfang des Buches zurück­ge­kehrt zu sein: In Roca­ma­dour gabs Mund­raub sogar am Tag: man fand dort Thun­fisch, Milch und Scho­ko­bon­bons im Kilo­pack. Und wie­der schweigt Noe. Es ist spä­ter Abend. Sams­tag. Ein Fracht­schiff, hell beleuch­tet, lun­gert am Hori­zont. Ahoi, lie­ber Lou­is. Dein OE SOM

gesen­det am
10.11.2012
1856 zeichen

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hurricane

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char­lie

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : HURRICANE

Es wird Win­ter, nicht wahr, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, es wird Win­ter. Habe Pull­over, Män­tel, Hand­schu­he, Hüte, Schals auf mein Bett gebrei­tet, alles ist jetzt geprüft, ich bin gerüs­tet. Nicht viel ist zu erzäh­len zur Zeit, viel­leicht, dass ich ges­tern am spä­ten Abend die Lek­tü­re eines Romans von Ray Lori­ga auf­ge­nom­men habe, der von der Erfin­dung Man­hat­tans han­deln soll, ein ange­nehm leicht­fü­ßig erzähl­ter Text. Wäh­rend ich las, erin­ner­te ich mich an ein Gespräch, das ich mit einem Matro­sen der Sta­ten Island Fäh­ren noch im Janu­ar führ­te. Er berich­te­te, wie er mit einem der Schif­fe, es war die Andrew J. Bar­be­ri gewe­sen, den Hud­son auf­wärts fuhr, um das Schiff vor dem Hur­ri­kan Ire­ne in Sicher­heit zu brin­gen. Es sei eine unheim­li­che Rei­se gewe­sen, Not­be­leuch­tung an Bord, Möwen waren mit strom­auf­wärts gefah­ren, unbe­wegt saßen sie auf den Hand­läu­fen der Reling, hun­der­te Vögel, als hät­ten sie das Flie­gen ver­lernt. Ein Lot­se, nicht der Kapi­tän, führ­te Kom­man­do über das Schiff. Er selbst habe sich zum ers­ten Mal in sei­nem Leben land­ein­wärts von der Küs­te fort­be­wegt. Ich erin­ne­re mich gern an die­sen klei­nen Mann, der in Brook­lyn groß gewor­den war. Manch­mal trug er eine blin­ken­de Kopf­be­de­ckung, die den Strah­len­rin­gen der Frei­heits­sta­tue nach­emp­fun­den wor­den war. Heu­te, an die­sem Abend, wird er viel­leicht wie­der unter­wegs sein, mit sei­nem Schiff den Hud­son auf­wärts, es geht nun um San­dy, und es geht um Barack Oba­ma. Ich fra­ge mich, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, wen, wenn ihr noch in heim­li­chen Wahl­re­gis­tern ver­zeich­net sein soll­tet, wür­det Ihr wäh­len? Euer Lou­is, sehr herz­lich, wünscht eine gute Nacht!

ps. Mr. Sal­ter hat sei­ne Dro­hung wahr gemacht. Im Hof, ver­packt in meh­re­re Kis­ten, war­tet das Eisen­bahn­ab­teil eines Pull­man­wa­gens dar­auf aus­ge­packt, und in mei­ner Woh­nung mon­tiert zu wer­den. Es ist angeb­lich mög­lich, dass ich mich in das Abteil setz­ten und dort arbei­ten könn­te. Land­schaf­ten, die ich frei wäh­len kann, sol­len an Fens­tern vor­über­zie­hen. Stim­men sind zu hören, das ist sicher, Stim­men aus Nach­bar­ab­tei­len, die nicht exis­tie­ren. Und die Bewe­gung eines wirk­li­chen Zuges unter mei­nen Hän­den. — stop

gesen­det am
28.10.2012
5.16 MEZ
2145 zeichen

lou­is to dai­sy and violet »

MELDUNGEN / ENDE



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