Aus der Wörtersammlung: schlaf

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schnee

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del­ta : 2.05 — Mit­ten in der Nacht wach­te ich auf. Vor den Fens­tern fiel Schnee, buschi­ge Flo­cken­pe­l­ze, sehr dicht, aus der Ent­fer­nung, ein hel­ler, sich bewe­gen­der Schat­ten. Esme­ral­da hock­te auf dem Fens­ter­brett und sah hin­aus. Sie schien tat­säch­lich Schnee­flo­cken zu beob­ach­ten, viel­leicht des­halb, weil es in der Woh­nung zur Nacht­zeit, ich hat­te geschla­fen, nichts wei­ter zu unter­su­chen gab. Ich über­leg­te, ob es mög­lich wäre, die klei­ne Schne­cke, die nun seit Okto­ber des Jah­res 2013 in mei­ner Nähe lebt, ein­mal mit nach New York zu neh­men. Ich müss­te sie im Hand­ge­päck ver­stau­en, heim­lich, viel­leicht in einer Dose ver­ber­gen, die belüf­tet ist. Ich könn­te eine Hand­voll Sul­ta­ni­nen als Schne­cken­pro­vi­ant mit mir neh­men in der Hosen­ta­sche, Esme­ral­da füt­tern, wäh­rend wir über den Atlan­tik flie­gen. Es ist selt­sam, ich habe lan­ge Zeit dar­über nach­ge­dacht, wer mir Esme­ral­da geschenkt haben könn­te, wer sie vor zwei Jah­ren für mich in eine Schach­tel setz­te und wes­halb. Vor eini­gen Wochen, als Esme­ral­da gera­de fried­lich schla­fend vor mir auf dem Schreib­tisch auf einer Bana­ne saß, näher­te ich mich mit einem Ohr und lausch­te an ihrem Häus­chen. Ich hör­te nichts oder nur eine Vor­stel­lung, ein sum­men­des Geräusch. Bald wäre ich auf­ge­stan­den, woll­te mir fei­nes Werk­zeug aus der Küche holen, woll­te ein äußerst fei­nes Loch in Esme­ral­das Schne­cken­ge­win­de boh­ren. Als hät­te sie geahnt, was ich plan­te, als hät­te sie mei­nen zugleich nach­denk­li­chen wie bereits ent­schlos­se­nen Blick bemerkt, rich­te­te Esme­ral­da ihre Füh­ler nach mir aus und mus­ter­te mich. Ich mein­te in die­sem Augen­blick ein Lächeln in ihrem Gesicht bemerkt zu haben. — stop

nach­rich­ten von esmeralda »
ping

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von muffins

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tan­go : 1.10 — In der ver­gan­ge­nen Nacht hat­te ich einen lus­ti­gen Traum. Ich beob­ach­te­te, wie ich mit einem gespitz­ten Stück blau­er Krei­de in mein Papier­no­tiz­buch notier­te. Ich schrieb unge­fähr ein Wort auf eine Sei­te. Sobald das Wort, das ich schrei­ben woll­te, über zu vie­le Zei­chen für den Umfang einer Sei­te mei­nes Notiz­bu­ches ver­füg­te, über­leg­te ich, ob viel­leicht ein kür­ze­res Wort exis­tie­ren könn­te, um das län­ge­re Wort zu erset­zen. Plötz­lich näher­te sich eine Hand von der Sei­te her, nahm mir das Stück Krei­de behut­sam aus den Fin­gern, reich­te mir statt­des­sen einen Blei­stift, und ich schrieb in gro­ßen Buch­sta­ben wei­ter, die von Sei­te zu Sei­te immer klei­ner wur­den, klei­ner und klei­ner, bis ich mei­ne Schrift nicht mehr lesen konn­te. Immer noch Traum. Ich gehe spa­zie­ren. Fri­scher Nacht­schnee knis­tert unter mei­nen Füßen. Es ist ein son­ni­ger Tag in Brook­lyn, am Ende einer Stra­ße schim­mert das Meer. Ein paar glän­zen­de Flug­zeu­ge schwe­ben dort über den Him­mel, sie flie­gen auf dem Kopf. Kurz dar­auf betre­te ich ein Café, es ist, glau­be ich, das Buon Gus­to in der Mon­ta­gue Street. Vor einer Vitri­ne in der Tie­fe des schma­len Rau­mes war­tet ein Poli­zist. Er ist groß und von kräf­ti­ger Sta­tur und sei­ne Haut sehr schwarz, und ich den­ke, er weiß, dass ich den­ke, dass er sehr schwarz ist, und er lacht und deu­tet ins Inne­re der Vitri­ne, wo ein gutes Dut­zend Muf­fins auf apri­ko­sen­far­be­nen Deck­chen ruhen. Einer der klei­nen Kuchen bewegt sich, ein Blau­beer­muf­fin, seit­wärts ragt ein gefie­der­tes Flü­gel­chen her­aus, das wild um sich schlägt, wes­halb der klei­ne Kuchen sich immer schnel­ler auf der Stel­le dreht. Sei­te an Sei­te ste­hen der rie­si­ge Mann und ich, ein klei­ner Mann, leicht vor­ge­beugt und stau­nen über das Gesche­hen in der Vitri­ne. Plötz­lich wird es still, der Flü­gel ist im Muf­fin ver­schwun­den, und der Poli­zist flüs­tert mir zu: Er gehört zu Ihnen, nicht wahr! Ich ant­wor­te: Ich glau­be, er ist ein­ge­schla­fen. — stop

muscheln1

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vom gecko

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marim­ba : 0.55 — Ges­tern, wäh­rend ich noch schlief, hör­te ich ein Geräusch, wel­ches die Ankunft einer E‑Mail mel­de­te, die gera­de in die­sem Augen­blick, da ich noch nicht wach gewor­den war, an mei­ne Schreib­ma­schi­ne aus­ge­lie­fert wur­de. Ich hat­te viel­leicht ver­ges­sen, sie aus­zu­schal­ten, oder aber es exis­tie­ren E‑Mailvarianten, die in der Lage sind, schla­fen­de Com­pu­ter zu wecken, sowie Men­schen, die in ihrer Nähe schlum­mern. Javier hat­te wich­ti­ge Nach­rich­ten für mich. Ich ant­wor­te­te ihm rasch: Lie­ber Javier, ich freu mich sehr, dass Sie sich die Mühe mach­ten, mir zu schrei­ben. Obwohl wir uns nicht per­sön­lich ken­nen, wol­len Sie mich groß­zü­gig auf einen Feh­ler auf­merk­sam machen, der mir vor weni­gen Tagen unter­lau­fen ist. Ich dan­ke Ihnen herz­lich. Sie haben in dem Film eines rus­si­schen Kame­ra­teams, von dem ich erzähl­te, ent­ge­gen mei­ner eige­nen Beob­ach­tung doch eini­ge offen­sicht­lich leben­de Men­schen ent­deckt, für­wahr, ich habe sie nun gleich­falls wahr­ge­nom­men, fünf Per­so­nen, ver­mut­lich Män­ner, die in der obe­ren Hälf­te des Bild­aus­schnitts von der 18. bis zur 24. Film­se­kun­de zu erken­nen sind. Ich fra­ge mich, wie konn­te ich sie über­se­hen? Und ich fra­ge mich wei­ter­hin, ob jene Män­ner in dem Moment, da der Droh­nen­vo­gel über ihnen flog, zum Him­mel schau­ten, ob sie die flie­gen­de Bild­ma­schi­ne wahr­neh­men konn­ten, und wenn ja, wes­halb sie nicht flüch­te­ten. Mit jedem Tag ent­ste­hen wei­te­re Fra­gen, die ich viel­leicht nie­mals beant­wor­ten kann. Ges­tern hör­te ich, dass die Ohren der Geckos mit­tels eines Tun­nels mit­ein­an­der ver­bun­den sein sol­len. Wenn man nun einem Gecko mit­tels einer Taschen­lam­pe in sein lin­kes Ohr leuch­te­te, wür­de das Taschen­lam­pen­licht aus sei­nem rech­ten Ohr wie­der her­aus­kom­men. Wie ich mich über die­se Nach­richt freu­te. Herz­li­che Grü­ße sen­det Ihnen Ihr Lou­is — stop
ping

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nachtmann

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vic­to­ry : 0.55 — Es ist 1 Uhr mit­ten in der Nacht und es reg­net. Ein Mann kommt auf sei­nem Fahr­rad weit unten pfei­fend die Stra­ße ent­lang. Etwas ist selt­sam, er kommt sonst zu ande­rer Zeit, er kommt sonst immer um 3 Uhr, nie­mals frü­her, und nie­mals, wenn es nach halb 4 Uhr gewor­den ist. Ich habe vor eini­ger Zeit von die­sem Mann bereits berich­tet, dass ich ihn ein­mal von oben her beob­ach­tet habe, dass er sich in einer Wei­se ver­hält, als wür­de er selbst eine abge­schlos­se­ne Geschich­te sein, zu der sich nichts wirk­lich Neu­es hin­zu­fü­gen lässt. Heu­te Nacht stell­te ich mir vor, sei­ne Erschei­nung könn­te viel­leicht glän­zen, weil er nass ist, sei­ne Hau­be, sein Man­tel, sein Fahr­rad. Viel­leicht wird er hoch­schau­en zum Dach, wird das Licht sehen hin­ter mei­nen Fens­tern, wird sagen: Der Nacht­mensch ist wie­der da! — Ich muss mich geirrt haben. Es ist tat­säch­lich so, dass sich die­ser Mann zu ver­än­dern scheint, sei­ne Geschich­te, nicht nur die Geschich­ten in den Zei­tun­gen, die er zu schla­fen­den Men­schen bringt. Min­des­tens wird der Mann immer älter, wie ich immer älter wer­de, und sein Fahr­rad, als ich vor drei Wochen ver­reis­te, noch ohne, ver­fügt plötz­lich über einen Motor, der knat­tert. — stop

handzeichnung

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uhrwerke

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alpha : 2.05 — Im Traum betre­te ich ein Zim­mer, das voll­stän­dig weiß ist und voll hel­lem Licht. Nichts zu hören. In der Mit­te des Zim­mers sitzt ein unbe­klei­de­ter Mann auf dem Boden, sei­ne Haut strahlt bei­na­he so hell wie die Wän­de, der Boden und die Decke des Zim­mers. Der Mann scheint zu schla­fen, sei­ne Augen sind geschlos­sen. Obwohl ich auf Zehen­spit­zen gehe, mache ich Geräu­sche, aber ich kann nicht sagen, ob der Schla­fen­de mich wahr­neh­men kann. Im Näher­kom­men ver­neh­me ich ein Rau­schen, das von dem Mann unmit­tel­bar aus­zu­ge­hen scheint. Einen Schritt spä­ter ent­de­cke ich tau­sen­de Uhren in der Grö­ße der 5 Cent­mün­zen. Sie lie­gen unmit­tel­bar unter der Haut des Man­nes gebor­gen, Sekun­den­zei­ger­schat­ten krei­sen dort, tau­sen­de Zei­ger, eine eigen­tüm­li­che Erschei­nung, als wür­de die Haut des Man­nes leicht ange­ho­ben sein, als wür­de sie über sei­nem Kör­per schwe­ben, sich frei bewe­gen. Die Uhren im Übri­gen zei­gen unter­schied­li­che Zei­ten an. So kon­zen­triert ich auch suche, ich kann kein Prin­zip ent­de­cken, das die Zei­ten der Uhr­wer­ke regelt. Selbst unter den Augen­li­dern des Man­nes bemer­ke ich Uhren. Ich schla­fe dann ein im Traum. — stop
ping

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south ferry

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del­ta : 5.15 — Heu­te Nacht vor dem Fens­ter wie­der eine Stil­le, dass ich für einen Moment fürch­te­te, mein Gehör ver­lo­ren zu haben. Dann leich­ter Regen. Man sieht es den Bäu­men nicht an, aber sie schla­fen. Gegen fünf Uhr erin­ne­re ich mich an Uwe John­sons Jah­res­ta­ge. Es ist ein schwe­res Buch, das ich aus dem Regal hebe, 1702 Sei­ten fei­nes Papier, sei­ne Buch­sta­ben sind von Jahr zu Jahr klei­ner gewor­den, höchs­te Zeit, den Roman in eine Lese­ma­schi­ne zu laden. Ich stell­te mir vor, wie Lou­is ein­mal Uwe John­sons Werk, indem er liest, in groß­for­ma­ti­ge Notiz­bü­cher über­tra­gen könn­te. Oder eine Bril­le: Sonn­abend ist der Tag der South Fer­ry. Der Tag der South Fer­ry gilt als wahr­ge­nom­men, wenn Marie mit­tags die Abfahrt zur Bat­tery ankün­digt. Die Fäh­ren zwi­schen der Süd­spit­ze von Man­hat­tan und Sta­ten Island sah sie zum ers­ten Mal vom Tou­ris­ten­deck der ›France‹ aus, da muss­te sie noch über die Reling geho­ben wer­den. Sie starr­te feind­se­lig auf den Hoch­haus­kak­tus Man­hat­tans, der zu Rie­sen­ma­ßen wuchs, statt zu mensch­li­chen abzu­neh­men; mit Neu­gier betrach­te­te sie die Fähr­boo­te, die neben dem Über­see­schiff das New Yor­ker Hafen­be­cken aus­ma­ßen, mehr­stö­cki­ge Häu­ser von blau abge­setz­tem Oran­ge, rasch lau­fend wie die Feu­er­wehr. Sie nick­te benom­men, als Gesi­ne ihr die Fahr­zeu­ge nicht erklä­ren konn­te; bei einem Aus­flug erkann­te sie den Typ auf den zwei­ten Blick, obwohl die Fähr­por­ta­le ihr das Äuße­re mit Scheu­klap­pen zuge­hängt hat­ten. Die South Fer­ry war ihr ers­ter Wunsch an New York. — stop
ping

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es ist abend

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marim­ba : 6.02 – Wie Schnee, ein gutes Dut­zend Men­schen­fo­to­gra­fien. Von L., die über einem Buch ein­ge­schla­fen ist, wie sie an einem Küchen­tisch sitzt, den Kopf auf ihre Hän­de gebet­tet, sie muss bemerkt haben, dass sie gleich das Bewusst­sein ver­lie­ren wird. Von M., der im Wald über eine Wie­se vol­ler Schnee­glöck­chen spa­ziert, ein Manu­skript in der lin­ken Hand, des­sen Sät­ze er aus­wen­dig ler­nen muss, um sie auf einer Büh­ne zu spre­chen. Er geht schnell, weil kaum noch Zeit ist, aber das ist auf der Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie nicht zu erken­nen. Von P., die vor einer Erd­mul­de unter einer Bir­ke steht. Das Grab der Eltern ist ver­schwun­den, der Hügel vol­ler Blu­men, ein Gedenk­stein, aber die Bir­ke ist noch da, sie war schon da, als sie gebo­ren wur­de, und sie weiß, dass tief da unten auch die Kno­chen der Eltern noch immer anwe­send sind. Von I., der sich, wie ein Jahr zuvor, Tag für Tag dar­über freut, dass er das Wort Kühl­schrank zu erin­nern ver­mag. Von J., die einen Foto­ap­pa­rat auf sich selbst rich­tet an einem Abend, da sie bemerkt, dass das Sau­sen in ihren Ohren plötz­lich ver­schwun­den ist, wie sie der Stil­le lauscht. Von K., die über eine Stra­ße stürmt auf dem Weg zum Tanz, bar­fuß, ihre roten, fla­chen Leder­schu­he in der rech­ten Hand, und obwohl es reg­net, wir­beln nas­se Blät­ter hin­ter ihr durch die Luft. Von N., deren Schwes­ter in Kobanê kämpf­te, wie sie schläft. Die Schwes­ter soll N. ähn­lich gewe­sen sein, aber nie­mand weiß das so genau, weil die Schwes­ter vor 15 Jah­ren in den Unter­grund ver­schwand, weil sie in den Ber­gen kämpf­te, weil der Krieg mit Men­schen­ge­sich­tern macht was er will, weil sie nie wie­der zurück­keh­ren wird. Von M., die im Dezem­ber noch in den Ber­gen wan­der­te auf einer Alm, wo der Schnee Mus­ter auf eine Wie­se zeich­ne­te, wie sie auf der Haut der Som­mer­kü­he anzu­tref­fen sind. Von dem klei­nen H. aus Alep­po, der sich wun­dert, dass er noch immer lebt. Er zeigt gera­de Sie­ges­zei­chen mit bei­den Hän­den, als der Foto­graf sei­ner­seits sei­ne letz­te Auf­nah­me macht. Von K., der mit geschlos­se­nen Augen auf einer Vio­li­ne spielt, die aus Stirn­kno­chen eines gestran­de­ten Wales geschnitzt wur­de. Von Y., die in einem fei­nen dun­kel­blau­en Kos­tüm nahe Colum­bus Cir­cle im Cen­tral Park neben einem Roll­kof­fer steht und mit einem Eich­hörn­chen spricht, das mit gespitz­ten Ohren vor ihr sitzt. Es ist Abend. — stop


ping

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louis an louis

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romeo : 6.55 – Du wirst Dich viel­leicht wun­dern, lie­ber Lou­is, wes­halb ich für Dich notie­re in die­ser Wei­se auf eine Sei­te Papier von Heiß­luft­bal­lo­nen über der Stadt Tur­ku, unter wel­chen in Kör­ben schla­fen­de Men­schen woh­nen. Ich erzähl­te Dir von einer schnee­wei­ßen Spin­ne mit acht hell­blau­en Augen, die im Gefrier­fach Dei­nes Kühl­schranks wohnt. Erin­nerst Du Dich? Wie wir durch Istan­bul fah­ren im Win­ter im Wagen einer alten Stra­ßen­bahn auf der Suche nach Mr. Pamuk. Wir sind allein im Wag­gon, es ist schon spät, wir sit­zen gleich hin­ter der Kabi­ne des Fah­rers und erzäh­len laut­hals von der Erfin­dung der Trom­pe­ten­kä­fer. Der Fah­rer, ein älte­rer Herr, nickt immer­zu mit dem Kopf, und wir über­le­gen, ob er unse­re Spra­che viel­leicht ver­ste­hen könn­te, also erzäh­len wir wei­ter, wir erzähl­ten von Vögeln ohne Füße, die nie­mals lan­den, von Tief­see­ele­fan­ten, die den Atlan­tik in Her­den durch­strei­fen, und von der Sekun­de da Mel­ly Cus­aro, wohn­haft in Brook­lyn, an ihrem 10 Geburts­tag beschloss, Astro­nau­tin zu wer­den. Wenn Du die­sen Brief lesen wirst, lie­ber Lou­is, wird ein Jahr spä­ter sein. Ich habe die­sen Brief vor genau 365 Tagen für Dich auf­ge­schrie­ben, ver­bun­den mit der Anwei­sung, ihn am 1. Dezem­ber 2015 an Dich zuzu­stel­len. Im Text sind wesent­li­che Pass­wort­ker­ne für Dei­ne Schreib­ma­schi­ne ent­hal­ten, gut ver­steckt, Du wirst sie, sofern not­wen­dig, wie­der­erken­nen. Wür­dest Du bit­te noch in die­ser Stun­de, da Du mei­nen oder Dei­nen Brief gele­sen haben wirst, Pass­wort­ker­ne, mit neu­en Phra­sen und Geschich­ten ver­se­hen, einen wei­te­ren Brief notie­ren, zu sen­den an Lou­is im Auf­trag: Zuzu­stel­len am 14. Dezem­ber des Jah­res 2016. Sei herz­lich gegrüßt. Alles Gute! Dein Lou­is – stop
drohne16

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vor schnee

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marim­ba : 6.18 – Ein Zoo­lo­ge, L., mit dem ich ges­tern am spä­ten Abend tele­fo­nier­te, erzähl­te von einer Rei­se nach Grön­land im ver­gan­ge­nen Früh­ling. Er sei ein­ge­la­den gewe­sen, an der Besich­ti­gung eines schla­fen­den Wales teil­zu­neh­men, der in einer tie­fen Bucht vor Oqaats­ut senk­recht mit dem Kopf nach oben im kal­ten Was­ser schweb­te. Ein groß­ar­ti­ger Anblick, die­ser mäch­ti­ge Kör­per, umschwärmt von See­hun­den, die unter glei­cher­ma­ßen neu­gie­ri­gen Fischen wil­der­ten. Von der nau­ti­schen Gesell­schaft der Uni­ver­si­tät Oslo sei­en meh­re­re Kame­ras ein­ge­setzt gewe­sen, die den Wal Zen­ti­me­ter für Zen­ti­me­ter unter­such­ten. Ers­te Hin­wei­se deu­te­ten auf eine mög­li­cher­wei­se noch unbe­kann­te Spe­zi­es hin. Man sei am zwei­ten Tage der Unter­su­chung behut­sam mit­tels eines Kör­per-U-Boo­tes in das Inne­re des Wales vor­ge­drun­gen, habe in die Dun­kel­heit des Magens geleuch­tet, um dort zwei sehr alte Käm­me von Elfen­bein vor­zu­fin­den, ein Kof­fer­ra­dio, drei Ret­tungs­rin­ge ohne Beschrif­tung, einen Peil­sen­der, sowie fünf Bücher, die merk­wür­di­ger­wei­se von was­ser­fes­ter Sub­stanz gewe­sen sei­en. Am kom­men­den Sonn­tag, so L., rei­se er nach Oqaats­ut zurück, der Wal schla­fe noch immer, er habe indes­sen kaum an Kör­per­mas­se ver­lo­ren, was höchst erstaun­lich sei. – Frei­tag. Frü­her Mor­gen. Die Luft duf­tet nach Schnee. – stop
basskäfer

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5 stunden

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nord­pol : 10.22 – Ich beob­ach­te das Fern­seh­ge­rät. Eine Repor­te­rin des ame­ri­ka­ni­schen Fern­se­hens berich­tet aus St. Denis, einer klei­ne­ren Stadt nord­öst­lich der grö­ße­ren Stadt Paris. Sie erzählt in Echt­zeit fünf lan­ge Stun­den lang. Die Sen­dung beginnt gegen 4 Uhr mor­gens, da ist es noch dun­kel am Him­mel, aber eine Stra­ße der klei­ne­ren Stadt wird hell erleuch­tet von Blau­licht und Schein­wer­fern der Kame­ras, die nach Bil­dern und Geräu­schen eines schwe­ren Kamp­fes suchen. Schüs­se sind zu hören, rhyth­misch, drei oder vier dump­fe Deto­na­tio­nen. In Haus­ein­gän­gen, vor Stra­ßen­ecken, auf einer Kreu­zung war­ten Poli­zis­ten und Sol­da­ten, sie bewe­gen sich so, als wäre tiefs­ter Win­ter, sie schei­nen über­haupt ner­vös zu sein. Hin­ter der Flucht alter Häu­ser­fas­sa­den, die auf dem Bild­schirm in einer schein­bar unver­rück­ba­ren Ein­stel­lung zu sehen ist, tobt die­ser Kampf, das ist sicher, es heißt, eine Frau habe sich mit­tels eines Spreng­stoff­gür­tels getö­tet, von Fest­nah­men wird berich­tet, Namen jun­ger, berühm­ter Ter­ro­ris­ten wer­den pos­tu­liert. Weil doch nur sel­ten hör­bar geschos­sen wird, wer­den etwas spä­ter, es ist Tag gewor­den, hell, immer wie­der Sze­nen einer Zeit auf den Bild­schirm gespielt, als noch Dun­kel war am Him­mel, als noch geschos­sen wur­de, sodass alle es hören konn­ten, die gera­de erst wach gewor­den sind. Ges­tern erzähl­te mir Nas­rin, die in einem Café am Flug­ha­fen arbei­tet, ein Kol­le­ge deut­scher Mut­ter­spra­che habe sie gefragt, ob M., ein wei­te­rer Kol­le­ge, viel­leicht sich freu­en wür­de, dass in Paris so vie­le Men­schen getö­tet wor­den sei­en. Sie habe geant­wor­tet, er sol­le M. doch selbst befra­gen, wor­auf­hin der Kol­le­ge deut­scher Mut­ter­spra­che gesagt habe, ihm wür­de M. ja doch nie­mals die Wahr­heit sagen. Da habe sie nicht wei­ter­ge­wusst, sie habe den Wunsch gehabt, sofort ein­zu­schla­fen oder auf­zu­wa­chen. – stop
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