alpha : 2.15 — Weit nach Mitternacht, früher Abend in der Nachtmenschenzeit. Ich habe gerade einen erneuten Versuch unternommen, 18.924.150 Zeichen eines menschlichen Genoms als Sequenz in mein Textverarbeitungsprogramm zu laden. Seit letzten Bemühungen sind drei Jahre vergangen, meine Schreibmaschine, die dritte seither, ist in ihren Berechnungen schneller geworden, und doch scheitert sie mit der 52758. Seite des Dokumentes, bleibt kommentarlos stehen, gefriert, oder hält die Luft an, wieder scheint sie mir mitteilen zu wollen, diesen Unsinn mache ich nicht mit. Man stelle sich einmal vor, wir würden bald erfolgreich sein, eine weitere Schreibmaschine und ich, ein vollständiges Dokument wäre errechnet. Wie ich mich nun auf den Weg mache zu meiner Druckermaschine, die sich in nächster Nähe in einem weiteren Zimmer befindet. — stop
Aus der Wörtersammlung: seite
bombay
bamako : 2.12 — Auf meinem Schreibtisch bemerke ich eine Postkarte, die dort eigentlich nicht existieren sollte. Tausende Figuren bedecken das Schriftstück, Formen, die ich einerseits als Zeichen identifizieren, andererseits ihrer Bedeutung nach nicht entziffern kann, auch die Briefmarke der Postkarte wurde mit Zeichen versehen. Irgendjemand muss, mithilfe einer Lupe, so viele Schriftzeichen wie möglich auf der Postkarte untergebracht haben. Es handelt sich vermutlich um einen Text in singhalesischer Sprache. Weder sind Absätze zu erkennen, noch Wörter, kein Raum für Leere. Die Briefmarke ist unter den Zeichen nur noch schemenhaft zu erkennen, 25 Rupien, Elefanten durchschreiten einen Fluss. Auf die Bildseite der Postkarte wurde kein Schriftzeichen gesetzt. Sie trägt eine berühmte Fotografie Sebastião Salgados: Churchgate Train Station / Bombay. Menschen strömen über Bahnsteige. Sie bewegen sich so schnell, dass sie unscharf erscheinen wie eine Flüssigkeit. Im linken unteren Bereich der Fotografie eine Frau, die sich vermutlich im Moment der Aufnahme kaum oder nur sehr langsam bewegte. Sie hält eine Tasche in der rechten Hand, sie scheint die einzige nicht flüssige Person zu sein, die auf der Fotografie wahrzunehmen ist. — stop – Dienstag. — stop – Sturm von Nordwest. — stop
ein brief
india : 5.56 — Ich entdeckte eine Nachricht in meinem Briefkasten, eine nicht zustellbare Sendung würde im Postamt auf mich warten. Einen Tag später, so gut wie sofort, war ich dort gewesen. Ich stand in einer Schlange von Menschen und überlegte, um welche Sendung, die auf mich in nächster Nähe wartete, es sich handeln könnte. Es war ein nebliger Tag. Möwen waren vom Fluss her tief in die Stadt vorgedrungen. Obwohl eigentlich eher scheue Persönlichkeiten, hockten sie auf dem Fenstersims des Postamtes, als würden sie uns beobachten, Menschen, wie sie warteten, in dem sie langsam in eine Richtung zu einer Schalterreihe vorrückten. Es war eine längere Schlange. Ich holte mein Mobiltelefon heraus und las in einer Zeitung, dass in einer nördlich der Stadt Bagdad gelegenen Gegend Senfgas entdeckt worden sein soll zu einem Zeitpunkt, da es nicht existierte. Es ist sehr merkwürdig, man kann sich in einem Bericht dieser Art verlieren und kommt doch gut voran in einer Schlange von Menschen, ohne berührt zu werden. Nach einer Viertelstunde war ich am Ziel angekommen, ein Schalterbeamter, der sich ganz offensichtlich freute, überreichte mir einen winzigen Brief. Der Brief war derart klein, dass er zunächst zwischen der Beere des Zeigefingers und der Daumenspitze des Mannes, die den Brief fixierten, vollständig verschwand. Kurz darauf hob er den Brief mittels einer Pinzette in die Luft, um ihn auf dem Tresen vor mir abzulegen. Der Mann reichte mir eine Lupe, ich solle mich vergewissern, die Briefmarke fehle. Tatsächlich war auf der Anschriftenseite des Kuverts mein vollständiger Name und meine Adresse vermerkt, eine Briefmarke aber war nicht zu entdecken, vermutlich deshalb, weil Briefmarken für Briefe dieser Größe noch nicht ausgeliefert worden sind. Der Beamte sagte, dass es sich bei diesem Brief, um den kleinsten Brief handele, den er je bearbeitet haben würde, ich sollte ihn gut verwahren: 65 Cent. Der Brief liegt jetzt auf meinem Küchentisch. Ich habe ihn noch immer nicht geöffnet. Es ist kurz vor fünf Uhr. Wieder Nebel. — stop
überall liegen Bücher herum
echo : 2.26 — Früher einmal existierten Bücher, deren Seiten miteinander verbunden waren. Bevor man die Seiten dieser Bücher lesen konnte, musste man sie voneinander trennen. Seltsamerweise hatte ich ihre Existenz vergessen, bis ich soeben solche Bücher in einem Text von Nathalie Sarraute bemerkte. Aber vielleicht ist das Wort vergessen, in diesem Zusammenhang nicht richtig gewählt, ich hatte jahrelang nicht an sie gedacht, im Geheimen waren sie vermutlich immer anwesend gewesen. Sofort begann ich damit, die Umgebung meiner Erinnerung zu erkunden. Ich entdeckte eine Tante. Wenn die Tante zu Besuch kam, küsste sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauchsuppe, weil sie einen Gemüsehändler kannte, der ihr Lauchstangen schenkte. Diese Tante also, deren Gesicht zerfurcht war von unzähligen Falten, schenkte mir einmal ein Buch genau dieser erwähnten Art, ein Buch, dessen Seiten miteinander verbunden waren, sodass ich jede Seite mit einer Schere zunächst von der nächsten trennen musste. Das Buch war kein Kinderbuch gewesen, ich hatte noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu diesem Zeitpunkt, aber Nathalie Sarraute, die damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein könnte, in einem Alter, als mich die Tante mit den Lauchstangen noch besuchte. Sie notierte: Es liegen überall Bücher herum, in allen Zimmern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekommen sind … kleinere, mittlere und große … Ich nehme die Neuankömmlinge in Augenschein, ich schätze die Mühe, die jedes erfordern wird, die Zeit, die es mich kosten wird … Ich wähle eins aus und setze mich mit dem aufgeschlagenen Buch auf den Knien hin, ich umklammere das breite Papiermesser aus grau aussehendem Horn, und ich fange an … zuerst zertrennt das waagerecht gehaltene Papiermesser den oberen Falz der vier zusammenhängenden Doppelseiten, dann senkt es sich, richtet sich wieder auf und gleitet zwischen die beiden Seiten, die nur noch längsseits miteinander verbunden sind … dann kommen die „leichten“ Seiten, sie sind an ihrem langen Rand offen und brachen nur noch oben getrennt werden. Und wieder die vier „schwierigen“ Seiten … und dann vier „leichte“, und dann vier „schwierige“, und so weiter, immer schneller, meine Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwindlig … „Hör jetzt auf, mein Liebling, das reicht, hast du wirklich nichts Interessanteres zu tun? Ich werde beim Lesen selbst aufschneiden, das stört mich nicht, ich mache das ganz automatisch …“ Es kommt jedoch nicht infrage, dass ich aufgebe. — stop / Nathalie Sarraute Kindheit — aus der französischen Sprache übersetzt von Erika und Elmar Tophoven
wanda
delta : 0.18 — Wie Wanda gerade wieder einmal glücklich ist, weil ihm sein Freund Joseph ein Buch Peter Nadas’ schenkte, 1305 Seiten: Das Buch der Erinnerung. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird man vermutlich sagen: Das ist ein schweres Buch. Das Papier scheint dünn zu sein, auch die Schatten der Buchstaben sind gut zu erkennen, so dünn sind die Seiten des Buches, dass das Licht sie zu durchdringen vermag. Wanda hat das sofort bemerkt. Seither nimmt er jede Seite, ehe er zu lesen beginnt, zärtlich zwischen seine Finger, fährt ihre Ränder entlang, legt kurz darauf ein Blatt Papier auf einen Tisch, der sein persönlicher Tisch ist, spitzt einen Bleistift und notiert einen weiteren Satz des Buches der Erinnerung. Winzige, wunderbare Schriftzeichen, akkurat gesetzt. Sobald Wanda am Ende des Satzes angekommen ist, hält er inne, um jedes niedergelegte Wort Zeichen für Zeichen zu prüfen: … hatte ich schon Budaörs erreicht, der Weg dorthin war lang, kurvenreich und dunkel gewesen, eine Art Steilpfad führte hinunter in die Ebene ein umgepflasterter Graben mit gefrorenen Wagenspuren, auf beiden Seiten das dichte Spalier hoch aufgeschossenen Gestrüpps … So arbeitet Wanda Stunde um Stunde voran, er beginnt am Morgen um kurz nach Acht, mittags schläft er von Eins bis Drei, Punkt sechs Uhr abends schließt er das Buch und löscht das Licht über dem Tisch. Vorsichtig verlässt er den Saal, er kann kaum noch sehen. Er sagt, er mache noch dieses eine Buch, aber das hat er schon oft gesagt, seinem letzten Buch folgte ein weiteres letztes Buch, das ihm Joseph schenkte. Joseph ist ein Guter unter den Menschen. Joseph sagt: Solange Du Bücher notierst, solange Du arbeitest, wird Dich niemand fragen ... — stop
shanghai
india : 6.52 — Haruki, der in einer kleinen europäischen Stadt zu Hause ist, erzählte eine Geschichte, die ich kaum glauben mochte. Schon sein Name schien seltsam zu sein. Er habe, sagte er, manchmal das Bedürfnis, mitten in der Nacht zu telefonieren. Nicht weil er fürchte, sterben zu wollen, sondern weil er glücklich sei, wenn er einfach nur los erzählen könne, wenn ihm seine Worte von einem aufmerksamen Ohr sozusagen aus dem Mund gezogen würden. Genau dieses Bild eines Ohres habe er vor Augen, sobald er sich an wunderbare Gelegenheiten erinnere, als er im Erzählen Geschichten entdeckte, die ihm ohne diese Art des Sprechens niemals eingefallen wären. Leider würde ihm inmitten der Nacht niemand mehr zuhören, Menschen, die er persönlich kenne, eilten längst nicht mehr ans Telefon, wenn er sich bei ihnen melde. Er habe deshalb andere, wildfremde Menschen angerufen, die sich bei ihm beschwerten, ob er denn noch bei Verstand sei. Das war der Grund gewesen, weswegen er vor wenigen Wochen damit begonnen habe, Rufnummern in Übersee zu kontaktieren. Es meldeten sich dort Menschen, die Haruki in englischer, französischer, chinesischer oder spanischer Sprache begrüßten. Sobald die Stimme eines Menschen hörbar wurde, begann Haruki zu erzählen. Er formulierte in einer so hohen Geschwindigkeit, dass er sich selbst kaum noch verstehen konnte. 15 Minuten, länger durfte ein Gespräch mit Shanghai nicht dauern. Manchmal vernehme er Stimmen von der anderen Seite her, helle Stimmen, zitternde, wispernde Töne, weshalb er das Telefongerät ein wenig von seinem Ohr entferne, ohne indessen zu verstummen. Nach 15 Minuten verabschiede er sich. Er sage dann: Gute Nacht! — stop
herzgeschichte
tango : 5.12 — In der vergangenen Nacht hörte ich eine Tonaufnahme, die vor einigen Jahren während eines Spazierganges an der Isar in München aufgezeichnet wurde. Ein herbstlicher Tag. Das Rauschen des Flusses, bisweilen tosende Geräusche, wie ein weiteres Gespräch im Hintergrund. Und Hunde, und Gitarrenmusik immer wieder, und Schritte, nicht die Schritte der zwei Gehenden vor dem Mikrofon, sondern Schritte entgegenkommender Passanten. Wir unterhalten uns über Arme und Beine, Muskeln, Sehnen, Nervenstränge. Einmal beginnt es zu regnen, aufschlagende Tropfen sind auf Schirmen deutlich zu hören. Aber wir verlieren kein Wort über den Regen. Die junge Frau, die an meiner Seite wandert, spricht sehr langsam, macht lange Pausen, manchmal scheint sie nicht mir, sondern dem Wasser zuzuhören. Immer wieder erkundigt sie sich, ob das gut so sei, was sie sage, ob ich eine Geschichte daraus machen könne. Sie will nicht, dass ich ihren Namen wiedergebe: Nenn mich ‚junge Frau‘ oder nenn mich ‚Studentin‘. Manchmal sei sie müde, sagt sie, weil sie bis spät in der Nacht als Platzanweiserin in einem Kino arbeite. Sie sei so müde, dass sie einmal im Präpariersaal am Tisch beinahe eingeschlafen wäre. Das Skalpell sei ihr aus der Hand gerutscht und zu Boden gefallen, da sei sie gerade noch rechtzeitig wieder ganz wach geworden. Der Job wäre aber sehr praktisch, weil sie in den Zeiten der laufenden Filme, manchmal lernen könne, sie führe ihren Taschenatlas immer in ihrer Handtasche mit sich, Notizen und das Skript. Als Kind habe sie ihren Eltern gesagt, dass ihr Herz nicht dort schlagen würde, wo es bei den anderen Kindern üblich wäre. Sie fühlte ihr Herz immer auf der rechten Seite schlagen. Niemand habe sie ernst genommen. Nicht einmal ihr erster liebster Freund habe ihr zugehört, und auch nicht ihr zweiter Freund, der immer an der falschen Stelle sein Ohr an ihre Brust gelegt habe. Der dritte Freund war ein Mediziner gewesen, ein Student, der habe endlich nicht nur nach ihr, sondern auch nach ihrem Herzen an der richtigen Stelle gesucht. Er habe gesagt: Ein Situs inversus, eine Normabweichung. In dieser Sekunde habe sie beschlossen, Ärztin zu werden. — stop
am karibasee
alpha : 20.22 — Nadine Gordimer erzählte vor wenigen Tagen in einem Fernsehgespräch, man habe vor langer Zeit ihren Roman Burger’s Daughter auf geheimen Wegen zu Nelson Mandela ins Gefängnis geschmuggelt. Auf denselben geheimen Wegen sei ihr kurz darauf ein persönlicher Brief Nelson Mandelas übermittelt worden, zeitlebens ein kostbares Dokument. Ich hörte Nadine Gordimer’s helle Stimme zum ersten Mal. Während ich lauschte und ihr anmutiges Gesicht betrachtete, erinnerte ich mich an den ersten Moment, da ich vor Jahren die Lektüre einer ihrer Erzählungen aufgenommen hatte, Something out There. Ich folgte damals nach wenigen Sätzen dem Wunsch, in der digitalen Sphäre eine Fotografie des Karibasees zu suchen, weil Nadine Gordimer vom künstlichen Gewässer in der Savannenlandschaft erzählte, von Elefanten gleichwohl, die sich in seine Fluten stürzten, um uralten Wanderrouten zu folgen. — Was hatten die ertrinkenden Tiere dort unter dem Wasserspiegel gesehen? — Wovon hatten sie gehört in ihrer letzten Lebenssekunde? — Ich las von der Tiefe des Sees, von Fischen, die in ihm leben sollen, von der Luftfeuchtigkeit und vom Gewicht der Elefantenkörper, von der Biodichte ihrer Körper und von Kulturen in Seenähe siedelnder Menschen. Und während ich so vor mich hin studierte, von Seite zu Seite, von Link zu Link, verging eine Stunde Zeit. Plötzlich erinnerte ich mich an das Buch, das ich neben mir abgelegt hatte, und setzte meine Lektüre fort. — Heute ist Nadine Gordimer gestorben. — stop
zola jackson
marimba : 3.25 — Leichter, gnädiger Regen heute Nacht. Gegen zwei Uhr nehme ich Gilles Leroys Roman Zola Jackson zur Hand. Ich schaue auf die Uhr, fange an zur vollen Stunde, versuche so viele Seiten des Buches zu lesen in dieser kommenden Stunde wie möglich, ohne auf Gefühle, die Wörter erzeugen könnten, verzichten zu müssen. Um drei Uhr lege ich das Buch zur Seite. Drei Falter sind in die Wohnung vorgedrungen. Ich weiß nicht weshalb, ich meine in ihren pelzartigen Erscheinungen verkleidete Wesen erkennen zu können. Wenn ich einen Gedanken, der vielleicht seltsam ist, der Erfindung sein könnte, lange genug betrachte, vermag ich die Konsequenzen dieses Gedankens wahrzunehmen, als wäre die Erfindung tatsächlich vor mir in der Luft, und flatterte herum, und suchte an den Wänden meines Zimmers nach einem Ausgang in den Tag, der niemals existierte. — stop
von stäbchen von rädchen
delta : 6.12 — Im Traum hatte ich an einer Apparatur gearbeitet, mit deren Hilfe ich bald in der Lage sein werde, handschriftliche Notizen derart zu verkleinern, dass ich Papiere von der Größe einer Briefmarke beschreiben könnte, sagen wir, eine Erzählung von 85 Seiten à 1800 Zeichen auf einer Luftpostmarke Finnlands zu 80 Cent. Ich könnte in dieser Arbeit der Verkleinerung oder Verdichtung auf eine Lupe verzichten, würde auf üblichen Papieren notieren, während mittels mechanischer Übertragung, fast geräuschlos von hunderten Stäbchen zu hunderten Rädchen, Zeichen für Zeichen in mikroskopische Dimensionen transkribiert werden würde. Eine Bibliothek könnte in wenigen Jahren mit mir in einem Briefmarkenalbum reisen, eine Bibliothek, deren Mikrogrammbücher selbstverständlich nicht lesbar wären, ohne sie unter ein Mikroskop zu legen, eine Bibliothek jedoch, die mich glücklich stimmen würde, ich wüsste, dass sie existiert und mit ihr die Möglichkeit des Lesens all der versteckten Geschichten, die im Moment des erinnernden Gedankens, schon wieder so groß geworden sind, wie sie immer waren. — stop