india : 0.02 — Begeistert, nachdem ich in einem Wörterbuch der englischen Sprache zur Übersetzung der Zitronenfalter Variationen gesammelt habe. Brimstone butterfly, herrlicher Klang! Ich erinnerte mich, dass mir das Wort brimstone schon einmal begegnete, ich meine das Wort vor langer Zeit in Jan Gabrials Buch My Life with Malcolm Lowry entdeckt zu haben, ein vulkanisches Wort, und weil ich mir nicht ganz sicher gewesen war, noch einmal der Blick ins Kompendium. Eine Meeresgeschichte der Schwefelfalter wird nun denkbar, wie sie von salzigen Winden über Zinnobersand gewirbelt werden. Und da ist noch eine weitere, eine vielleicht seltsame Beobachtung an diesem Abend. Das ist nämlich so, ich kann nichts sagen über den eigentlichen Duft der Schmetterlingswesen. — stop
Aus der Wörtersammlung: sprache
lufthupe
ginkgo : 6.25 — Ob sich die Trompetensprache der Tiefseeelefanten von der Trompetensprache der Steppenelefanten unterscheidet? — Lässt sich diese Frage fotografieren? — stop
meerestee
charlie : 0.03 — Jedes Wort als winziges Tier betrachten, mit einer je sehr langen Lebensgeschichte. Das Wort Himmel, zum Beispiel, ein feines Wesen, seine vielfältige Gestalt in den Sprachen dieser Welt, Zeichenmäntel, irrlichterndes Plankton in einer Tasse Meerestee. Und so fliegen die Wörter in Herden durch Luft und Raum um den halben Erdball herum von einem Menschen zu einem anderen Menschen in Sekundenschnelle. Hier werden sie gelesen, ein Tier nach dem anderen Tier, behutsam, scheu. — Gute Nacht und guten Morgen!
amerikafahrt
marimba : 0.02 — Sekundenbriefmarke aus dem Jahr 1959, zu einer Zeit notiert, da ich selbst, auch als Idee, noch nicht geboren war: Das Taxi war groß wie eine Lokomotive. Und es war grellgelb angestrichen wie ein deutscher Briefkasten. Auf seinem Dach funkte es blaurote Lichtsignale, sie ähnelten dem blitzenden wachsamen Auge der Polizei, und für eine Weile hatte ich das Gefühl, ein Ehrengast zu sein, der eskortiert und ohne Berührung mit Land und Leuten an ein Ziel gebracht werden soll. Die Polster des Wagens waren hart, und der nackte Stahlboden war schmutzig; man bot dem Fahrgast den Transport, man bot ihm nicht mehr. Andauernd erreichten den Wagenlenker durch die Luft gesandte Botschaften; Unsichtbare sprachen zu ihm, beschworen ihn, quälten ihn, hetzten ihn. Zuweilen antworte der Mann den Stimmen der befehlenden Luftgeister. Wolfgang Koeppen A m e r i k a f a h r t
hydra No 2
lima : 22.55 — Es schneit angeblich, mag es schneien. Über dem Schnee und seinen Wolken scheint der Mond. — Was haben wir heute eigentlich für einen Tag, Sonntag vielleicht oder Montag? Abend jedenfalls, einen schwierigen Abend. Würde ich aus meiner Haut fahren, sagen wir, oder mit einem Auge meinen Körper verlassen und etwas in der Zeit zurückreisen, dann könnte ich mich selbst beobachten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, während er Tee zubereitet, er sagt: Heute machen wir das, heut ist es richtig. Ein Bündel von Melisse zieht durchs samtig heiße, flimmernde Wasser. Jetzt trägt er seine dampfende Tasse durch den Flur ins Arbeitszimmer, schaltet den Bildschirm an, sitzt auf einem Gartenstuhl vor dem Schreibtisch und arbeitet sich durch elektrische Ordner in die Tiefe. Dann steht er, steht zwei Meter vom Bildschirm entfernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürchtet. Da ist eine Stimme. Eine schrille Stimme spricht scheppernd Sätze in arabischer Sprache, unerträglich diese Töne, sodass der Mann vor dem Schreibtisch einen Schritt zurücktritt. Er scheint sich zur Betrachtung zu zwingen. Zwei Finger der rechten Hand bilden einen Ring. Er hält ihn vor sein linkes Auge, das andere Auge geschlossen, und sieht hindurch. So verharrt er, leicht vorgebeugt, bewegungslos, zwei Minuten, drei Minuten. Einmal ist sein Atmen heftig zu hören. Kurz darauf steht er wieder in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühlschrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unruhe, die lange Zeit in dieser Heftigkeit nicht wahrzunehmen gewesen war. Ein Mensch, Daniel Pearl, wurde zur Ansicht getötet. – Was machen wir jetzt? — stop
brooklynites
tango : 6.03 – Das langsame Durchqueren einer nächtlichen Landschaft fremder Stimmen: Ten-four. David-David. Woman, black, in confusion. 75, Varickstreet. 12th floor. Ten-four. Ten-four. Sergeant? — Ich hatte, meiner neuen Leidenschaft folgend, den Klängen des New Yorker Polizeifunks zuzuhören, gegen Mitternacht eine Verbindung über den Atlantik hergestellt. Wie das dann genau gekommen sein mag, all das Flüstern in der Dunkelheit, kann ich nicht sagen, vielleicht war zu einer Zeit, da ich noch wach gewesen war, meine transatlantische Übertragung für zwei oder drei Stunden unterbrochen gewesen, oder man schwieg in New York, weshalb ich die geöffnete Verbindung vergessen haben könnte. Ich schlief jedenfalls ein gegen zwei Uhr, müde geworden vom Denken, und wie ich so schlief, kehrten die Stimmen zurück, ich träumte Geräusche, die in der amerikanischen Sprache plauderten. Ten-Four. Ten-four. Auch meine eigene Stimme, sie berichtete von einer Wanderung durch Brooklyn, war in der Dämmerung deutlich zu hören gewesen. Ein schnelles, ein rasendes Sprechen, Louis, als hinge sein Leben davon ab. Dann fehlte ihm ein Wort, ein entscheidendes Wort. Von suchender Stille erwacht. — stop
schweizer jazz : paul nizon
india : 0.03 — Gestern bin ich Paul Nizon wiederbegegnet. Durfte beobachten, wie er in Paris eine seiner Arbeitswohnungen spazierte. Natürlich waren zwischen ihm und mir eine Kameralinse, ein Bildschirm und dort etwas vergangene Zeit aufgespannt. Trotzdem konnte ich ihn gut erkennen. Er trägt jetzt einen kleinen runden Bauch vor sich her und sein Haar ist grau geworden, und doch ist er ganz der alte, verehrte Schriftsteller geblieben. Vor allem seine schöne Stimme, das sorgfältige Sprechen, die warme Melodie der Sprache, das Schweizerische, hier waren sie wieder, und auch das Tonbandgerät, das auf einem Tisch ruhend die Luftwellen der notierten Sätze eines Tages erwartete. In diesem Moment, grad ist Dienstag geworden, erinnere ich mich, dass ich Paul Nizon einmal persönlich begegnet war in der Straße, in der ich wohne, und daran, dass ich damals dachte: Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Er trug einen grauen Mantel, weiß der Teufel, weshalb ich die Farbe seines Mantels gespeichert habe, und einen Hut, nehme ich an. Und da war noch etwas gewesen, mein Herz nämlich schlug in einer Weise, dass ich’s in meinem Kopf hören konnte. — Ein Frühlingsabend. — Ja, ein Frühlingsabend. — Und ich sagte zu mir: Louis, reg dich nicht auf! Du bist an einem flanierenden Geist vorüber gekommen. – Nacht. stop. Schnee. stop. Flügel. — stop
parachute jump
~ : louis
to : Mr. jonathan noe kekkola
subject : PARACHUTE JUMP
Jonathan, bester Freund, wie es Ihnen wohl gehen mag? Haben Sie Weihnachten unter Tannen in einem Zelt verbracht? Haben Sie vielleicht vergeblich versucht, mich zu erreichen? War verreist für ein paar Tage, hatte eine gute Zeit. Reisen, das ist wie träumen, verstehen Sie! Als ich eines Morgens, noch schlaftrunken, in meine Wohnung zurückkehrte, blühten vor den Fenstern Kakteen. Sie dufteten, wie nur Kakteen duften, süß und kräftig, und ich wunderte mich, wie das gekommen sein mag, alle zur selben Zeit, alle im Winter. Eine Nachricht war da noch auf Band gesprochen. Mrs. Monterey erzählt, sie habe in ihrem Hotel im Bear State Park, einem Wanderer ein Zimmer vermietet, einem Mann, groß und schweigsam. Dieser Mann soll Ihnen, lieber Kekkola, derart ähnlich gewesen sein, dass Sie’s höchstpersönlich gewesen sein müssen. Das will ich nun glauben, wünschen, hoffen Kraft meiner Kinderseele. Kein Wort habe der Mann gesprochen, stattdessen seltsame Zeichen in die Luft geschrieben. Ich kenne diese Zeichen! Die Sprache der Taucher! Und wenn ich das in dieser Weise schreibe, werter Jonathan, werden Sie schon einsehen, dass es sinnlos ist, so zu tun, als seien Sie nicht mehr am Leben. Bald wirds meterhoch schneien und wir werden alle untergehen. Erwarte Sie am Strand von Coney Island, Höhe Parachute Jump / 2. Mai 3 pm. – Ihr Louis, Ihr Schneemann.
gesendet am
6.01.2010
22.50 MEZ
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louis to jonathan
noe kekkola »
caravelle
romeo : 0.02 — Ich überlegte, ob ich, wenn ich bei wolkenlosem Himmel in 33000 Fuß Höhe befindlich aus einem Flugzeugfenster spähen würde, ein Schiff erkennen könnte, ein Schiff von der Größe der Queen Mary sagen wir, einen Luxusdampfer, der zur Zeit meiner Geburt noch regelmäßig zwischen New York und Southampton über den Atlantik hin und her gependelt war. Ich stellte mir zunächst einen Berg vor von entsprechender Höhe, einen Berg, der Himmel und Flugzeug berührte, kurz darauf ein Schiff. Und ich ahnte sehr bald, dass ich das Schiff wohl eher nicht, vermutlich aber die ihm folgende Spur im Wasser erkennen würde, Wellen und Wirbel von Luft. Eine junge Frau, so unsichtbar wie das Schiff, an dessen Heck sie steht, betrachtet die Spur, die das Schiff im Wasser hinterlässt. Einmal wirbelt eine Bö ihren Hut durch die Luft. Sie schaut zum Himmel. Ein Blitzen vielleicht. Ten-four. Charlie. Charlie. Kurz nach Mitternacht. Klirrende Kälte. — stop
engelgeschichte für geraldine
delta : 0.03 — Vor langer Zeit habe ich eine kleine Geschichte geschrieben, die von Engeln erzählt. Ich kann nicht genau sagen warum, ich habe diese Geschichte bereits zweimal aus dem Licht der Öffentlichkeit zurückgezogen, sie aber nie gelöscht. Als ich gestern nun über die Kindheit eines Mädchens nachdachte, das in einer vornehmen Gegend Manhattans aufgewachsen ist, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich habe nach ihr gesucht. Ich werde sie jetzt für Geraldine an dieser Stelle endgültig notieren. Liebe Geraldine, wo auch immer Du sein magst, diese folgende Geschichte gehört Dir. Hör zu: Einmal, immer nur einmal im Jahr, kommen die Engel der Stadt New York in einer Kirche zur großen Versammlung geflogen. Die steinernen Engel kommen von den Friedhöfen her, die hölzernen Engel aus den Gartenlauben, kostbare Porzellanengel öffnen ihre Vitrinen und segeln über den Hudson durch die kühle Abendluft. Auch von den Tapeten steigen Engel auf, verlassen ihre Postkartenzimmer, Bücher und Zeilen, in welchen sie vermerkt worden sind Zeichen für Zeichen. Sie steigen aus den Träumen der Kinder, der Mütter, der Väter, wie Menschen aus Straßenbahnen steigen sie aus. Sobald sie Luft unter ihren Schwingen fühlen, werfen sie ihre Goldstaubmäntel von den Schultern, springen aus Badewannen, stark schon unterm Wasser geschmolzen, löschen das Licht, das auf ihren Köpfen flackert, umflattern noch einmal kurz die Häupter der steinernen Marien, auf deren Händen sie um ein weiteres Jahr gealtert sind. Es ist kaum richtig Nacht geworden, da kann man es in den Kellern schon ächzen hören, wenn sie sich mit vereinten Kräften gegen die schweren Deckel der Truhen stemmen, in denen sie aufgehoben sind von Fest zu Fest. Man muss sich, sofern man ein Mensch ist, nur im Dezember in Manhattan, Queens oder Brooklyn am richtigen Tag zur richtigen Stunde vor einen Engel setzen. Sobald es dunkel geworden ist, setzt man sich hin und wartet. Man wartet nicht lange, man wartet eine Stunde oder zwei und plötzlich ist der Engel fortgeflogen. Nach Süden ist er geflogen, oder nach Norden, auf kürzestem Weg vorbei an bebenden Vögeln zur größten Kirche der Stadt. Dort nimmt der Engel unter Engeln Platz. Überall sitzen sie inzwischen bis unter die Gewölbe, auf der Kanzel, den Betstühlen, den heiligen Figuren, auch auf den Mosaiken des Bodens, den Chören, dem Altar, den Verstrebungen der Kreuze, den Knochenfiguren, ja, auf Christus selbst haben sie Platz genommen. Sie sind alle sehr leicht. Im Grunde wiegen sie nichts. Sie sind von der Schwere eines Wunsches und sprechen in einer von keinem Forscher erschlossenen Sprache. Fröhliche Engelgestalten, jawohl. Sie lachen, das Lachen der Engel, wie tolle Fledermäuse lachen sie, so hell. Dann, kurz nach Mitternacht ist’s geworden, kommt einer der drei großen Engel, immer kommt nur einer von ihnen und immer kommt er zu spät, wurde aufgehalten im Auftrag befindlich, einmal ist es Gabriel, dann Raphael, dann Michael. Sehr langsam, ein Künstler des Fliegens, schwebt er herein, nimmt Platz auf den Stufen, schlägt die Beine übereinander und leuchtet. Ruhig sieht er unter die Versammlung, während er seine gewaltigen Schwingen hinter dem Rücken faltet. Jetzt werden die kleinen Engel andächtig und still. Vereinzelt kommt noch ein vergesslicher Kundschafter durchs Kirchenschiff gerast, da und dort trudelt ein betrunkenes Federwesen von höherer Stelle. Ist dann alles schön geordnet, erhebt der Erzengel seine Stimme. Es ist ein Singen, ein wunderbarer Altsopran, eine unerhört schöne Sprache. Er sagt: Guten Abend, Engel.