sierra : 22.08 UTC — Wong Kar-Wais Vögel ohne Füße, die niemals landen. Immer wieder eine wunderbare Vorstellung. Ein Bild auch in diesen Monaten, das mich berührt, da ich selbst nicht landen kann in Tagen von Sicherheit. Oder die Vorstellung der Zeppeline, die Jahrhunderte lang wie Wolken langsam um den Erdball schweben. Einmal vor Jahren zeichnete ich ein Rotkehlchen mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier. Ich will erwähnen, dass die Zeichnung des kleinen Vogels, der von rechts her kommend über das Blatt nach links hin segelte, damals missglückte, es war das erste Rotkehlchen gewesen, das ich in meinem Leben zeichnete. Immerhin waren zwei Flügel zu erkennen gewesen und ein Körperchen in der Mitte, ein Schnabel und ein kleiner Kopf. Auch ein roter Fleck auf dem Körperchen in der Gegend des Halses war zu entdecken, weil ich nach einem roten Buntstift suchte, das dauerte recht lange, während der kleine Vogel geduldig wartete, dass ich mit wesentlicher Farbe zu ihm zurückkehren würde. — Weswegen ich ein Rotkehlchen gezeichnet habe? — Nun, ich habe diese Zeichnung angefertigt, weil ich mich fragte, ob irgendwann einmal fliegende Servermaschinen in der Gestalt der Singvögel denkbar sein werden, die in Schwärmen herumfliegen, indessen sie mittels unsichtbarer Wellen miteinander kommunizieren? Wie lange Zeit würden wir diese flüchtigen Schwarmobjekte noch als unsere Geschöpfe verstehen? Wären wir in der Lage, sie jemals wieder einzufangen? — stop
Schlagwort: tage
zeitoun
whiskey : 9.35 UTC — In den letzten 10 Tagen des Oktobermonats lernte meine Schreibmaschine folgende Wörter, die in ihren Prüfverzeichnissen bislang nicht zu finden gewesen waren: Abstandsignale . Aquarelia . Bangsein . Birdy . Brieftaubenwörter . Camar . Carecon . Clustersuche . Contagion . Coronasimulation . Drohnenauge . Drohnensichtung . Drohnenvogel . Drollbirne . Ebolavirus . Eichhörnchenschatten . Fingercurser . Inari. Inzidenz. Jennifer.five . Kolibriwesen . Krokodilmodell . Kürbissuppe . Libellenlarven . Looters . luren . Meeresgewächse . Meereswesen . Monroe . Mundschutzalgorithmus . Nachtschifftag . neuronal . Palanca . Pandemietote . Pandemiezeit . Particleszeichen . Pfuhlschnepfe . Plexiglasscheiben . Resilienz . Rotkopfschildkröten . Sars-Cov‑2 . Sarslämpchen . Schiffpendelbewegung . Schlafdurcheinanderzeit . Seeanemonenblüte . Seetangklumpen . Spätabendmenschen . Spelling . Superdomehalle . Süßwasseranemone . Tänzerraver . Teillockdown . Tresspassangers . Vakzin . Warlogs . Wortkernbilder . Zattere . Zeitoun . Zeppelinwerkstatt . Zeppelinwolken. — stop
vom winterflieder
sierra : 20.01 UTC — Manchmal, wenn es regnete an Nachmittagen, wurde Nacht gemacht. Das Licht des Tages draußen ausgesperrt, nahmen wir Kinder im Wohnzimmer Platz auf dem Sofa, auf dem Boden, auf Stühlen und warteten, dass Vater seine Lichtmaschine, die er längst vorbereitet hatte, endlich starten würde. Da war eine Leinwand, und da waren beschriftete und gerippte Behälter von Kunststoff, in welchen sich Sekundenzeit reihte, Zeitabteile, die wir bald ansehen würden und davon berichten, wann das war und wo das war und wer das gewesen war auf der Leinwand bewegungslos. Da dachte ich einmal, da hast Du Louis aber streng geschaut, da hättest du vielleicht ein Lächeln der Kamera schenken sollen, da kann man jetzt nichts mehr machen. Du schaust aber melancholisch drein, sagte mein Bruder, und ich sagte: Das nächste Bild, weiter, bitte weiter! Und da war dann ein Fliederbaum zu sehen, es war Winter, und der Flieder brütete Schneeflocken aus, und das Lichtgerät rauschte und das blühende Bild stand so lange still, bis mein Vater auf jenen roten Knopf seiner Fernsteuerung drückte. — stop
washington
agenten
echo : 22.07 UTC — Da und dort Augenmenschen hinter Segeltüchern, deren Gesicht insgesamt ich längst vergessen habe, ihre Nasen, ihr Kinn, ihren Mund, aber nicht ihre Namen, nicht ihre Stimmen, die etwas verwirbelt, wie heiser, in meinen Ohren erscheinen. — Samstag. Was noch zu tun ist: Nachdenken über Agenten, wie sie in Simulationen existieren, sterbende Agenten und welche die überleben, Agenten, die einsam sind und andere, die zweisam sind an Donnerstagen, und über junge Tänzerraver, die an Samstagen solange tanzen, bis ihre Großmütter und Großväter nahe Friedhöfe besuchen bis das Spiel von vorn beginnt. — stop
washington
metamorphosen
tango : 15.38 UTC — Eine Frau sitzt an einem Tisch, Sie notiert Ovids Metamorphosen auf eine Papierluftschlange. Wie behutsam sie vorgeht, um das Papier nicht zu zerreißen. Kaum ist sie mit der Beschriftung einer der papierenen Strecken zu Ende gekommen, verbindet sie mit einem Tröpfchen Klebstoff eine weitere noch unbeschriftete Schlange. Kurz darauf notiert sie weiter, sehr feiner Pinsel. Vor drei Jahren war ich dieser Frau zum ersten Mal begegnet. Heut ist sie noch immer frisch, eine Blüte, vielleicht deshalb, weil ihre Aufgabe, ihr Projekt, unendlich zu sein scheint. Victor Klemperers Tagebücher bereits seit Mai, dem 5. — stop
im wartesaal
delta : 11.16 UTC — Alle Welt scheint zu warten auf besseres Wetter, auf E‑Mail, auf Briefe, Anrufe, Begegnungen, Kinder, eine Bitte, eine Entscheidung, einen Dank, eine Nachricht, eine Rückkehr, ein Lebenszeichen, eine Impfung, auf das Ende der Nacht, der Tage, des Lebens. Viel Zeit vergeht. — stop
im regenzimmer
marimba : 0.28 UTC — Seit 1911 Tagen bereits versuche ich von einem Zimmer zu träumen, in dem es immerfort regnet. Ich mache das so, dass ich in den Minuten, da ich einzuschlafen wünsche, überlege, wie es wäre, wenn in dem Zimmer, in dem ich mich gerade befinde, Regen fallen würde. Diese Methode des Regendenkens ist leider bislang nicht sehr erfolgreich gewesen. Immer wieder schlafe ich ein, ohne je vom Regenzimmer zu träumen. Einmal, als ich erwachte, hörte ich wirklichen Regen draussen in den nächtlichen Bäumen. Ich ging dann spazieren und dachte darüber nach, wie sich unsere Menschenwelt verändern würde, wenn wir von einem Tag zum anderen Tag über armlange Zungen der Geckos verfügten? In welcher Form kämen sie in einer vollbesetzten Straßenbahn zum Einsatz? Und wie bei der Liebe? Und wie im Streit? Und was würden diese Zungen wohl im Schlaf unternehmen? Was wäre, wenn wir uns nie wieder berühren dürften, kein Mensch einen weiteren Mensch, ohne zugrunde zu gehen? – stop
kalkutta
echo : 0.25 UTC — Einmal wollte ich nach Kalkutta reisen. Ich dachte, das ist jetzt eine beschlossene Sache. Ich machte mich unverzüglich an die Vorbereitung meiner Reise: Koffer, Regenschirm, Ausweis, Apotheke, Impfungen, Notizbücher, Schreibmaschine, Fotoapparate, Flug hin und zurück, Hotelzimmer, Stadtplan, Literatur, Sonnenhut. Wenige Tage später erreichte mich ein erstes Paket des Dokumentarfilms Phantom Indien von Louis Malle. Ich las, der Film habe insgesamt eine Spielzeit von 6 Stunden und 3 Minuten. Solange Zeit, stellte ich mir vor, könnte eine Fahrt quer durch Kalkutta mit dem Taxi dauern. Es ist nun überhaupt die Frage, wie lange Zeit sollte ich mich mit der Vorbereitung meiner Reise nach Kalkutta beschäftigen? — Lange Zeit in der vergangenen Nacht das nordamerikanische Fernsehen beobachtet. Wie man sich in den Worten, wenn man sie spürt, finden kann, kann man sich im Rauschen rasender Worte verlieren. — stop