echo : 1.58 — Vor längerer Zeit einmal wollte ich ein Haus besuchen, das die Fotografin Alice Austen viele Jahre ihres Lebens bewohnte. Ich erinnere mich, es war ein bitterkalter Tag gewesen, Schnee bedeckte Staten Island, und die Luft war so eisig, dass selbst die Möwen nicht zu fliegen wünschten. Vermutlich deshalb, weil es so kalt gewesen war, blieb ich an der Railway Station Clifton im Zug, anstatt auszusteigen und ein paar Meter zu Fuß zu Austens Haus zu gehen. Ich fuhr weiter bis nach Tottenville, wo der Zug eine halbe Stunde wartete, um dann dieselbe Strecke zurückzufahren. Ein Angestellter der Bahngesellschaft dampfte wie eine Lokomotive über den Bahnsteig von Waggon zu Waggon, er schlug Eis von den Trittbrettern des Zuges. Als wir uns wieder in Bewegung setzten, ließ er sich auf eine Bank fallen und schlief sofort ein. Auch auf meinem Rückweg zum Fährschiffterminal stieg ich in Clifton nicht aus, es war noch immer stürmisch, und ich vergaß das Haus, das ich besichtigen wollte, und Alice Austen, die tausende Fotografien Manhattans zu einer Zeit angefertigt hatte, da das Fotografieren noch Mut, Kraft und Ausdauer erforderte. Gestern habe ich ein wenig Zeit auf der Suche nach ihr verbracht. Sie soll als einzige Frau der Insel Besitzerin eines Automobils gewesen sein. Auf einer Fotografie ist ihre Lebensgefährtin Gertrude Tate zu sehen, wie sie stillhält. Die junge Frau sitzt auf einer Veranda, die heute noch existieren soll, umgeben von Blumen, einer Wildnis so wild, dass sie die nahe Küste verbirgt. Auf einer weiteren Fotografie, die ich noch nicht kenne, soll Alice Austen an derselben Stelle im Alter von 26 Jahren zu sehen sein, auch sie sitzend, eine Selbstaufnahme, unter einem Strauß Blumen verborgen ein Gummiball gefüllt mit Luft, die sie mittels einer kräftigen Bewegung ihrer Hand durch einen Schlauch zu ihrer Kamera gepresst haben musste, um die Lichtaufnahme auszulösen. Ein Geräusch vielleicht, wie ein Atemzug möglicherweise, oder ein Seufzen. — stop
Aus der Wörtersammlung: tot
ein päckchen
tango : 17.01 — Einmal, in einem August, stehe ich in einer Schlange wartender Menschen. Der Ort: U.S. General Post Office, New York, 8. Straße. Die Zeit: Kurz vor sechs Uhr abends. Ich bin müde, bin weite Strecken durch die Stadt gewandert. Ich denke noch, wenn ich nicht achtsam bin, könnte ich vielleicht im Stehen einschlafen. Ich überlege, ob ich in diesem Falle umfallen oder einfach so schlafend stehen bleiben würde. Draußen ist es höllisch heiß, schwül und feucht, in der Halle des Postamtes eher kühl. Vor mir, so nah, dass ich sie versehentlich umarmen könnte, wartet eine zierliche, ältere Dame, sie ist vielleicht gerade vom Friseur gekommen, ihr Haar, ein bläulich schimmernder Ball, der heftig duftet. Auf ihren Schultern ruht ein Fuchs, der tot ist. Als sie an die Reihe kommt, tritt sie an den Schalter heran, stellt sich auf ihre Zehenspitzen und legt ein Päckchen auf dem Tresen ab. Mit einer lässigen Handbewegung schiebt sie die Ware zu einer Postangestellten hin. Die Frauen unterhalten sich. Ich kann nicht jedes Wort verstehen, sie sprechen schnell. Ich meine, zu hören, wie die Postangestellte bemerkt, dass das Päckchen leicht sei, so leicht, als ob in ihm nichts enthalten wäre. Die alte Dame erwidert, in dem Päckchen sei sehr wohl etwas enthalten, nämlich 7 x 1 Stunde Schlaf, die sie einem Freund übermitteln würde, der nahe Boston wohne, ein Geschenk. Daraufhin lacht die Postangestellte mit tiefer Stimme. Sie sagt: Das ist ein unglaubliches Geschenk, sie würde auch einmal sehr gerne etwas Schlafzeit geschenkt bekommen. Kurz darauf dreht sich die alte, zierliche Frau auf dem Absatz um, ein feuerrot geschminkter Mund, gepuderte, helle Haut, winzige blaue Augen. Sie durchquert den Saal nach Norden hin. Kleine Schritte, schnell. Kurz vor einer der Türen, da sie die Richtung korrigieren muss, wird sie beinahe aus der Kurve getragen. — stop
über staten island nachts
whiskey : 8.28 — Auf der Suche im Internet nach Propellerflugmaschinen, die von Hand zu bedienen sind, entdeckte ich eine Leihstation für Drohnenvögel nahe des St. George Ferry Terminals, und zwar in der Bay Street, Hausnummer 54. Obwohl ich mich in Mitteleuropa befand, musste ich, um Kunde werden zu können, keine weiteren Angaben zur Person hinterlegen als meine Kreditkartennummer, nicht also begründen, weshalb ich den kleinen Metallvogel, sechs Propeller, für drei Stunden nahe der Stadt New York ausleihen wollte. Auch erkundigte sich niemand, ob ich überhaupt in der Lage wäre, eine Drohne zu steuern, seltsame Sache. Ich bezahlte 24 Dollar und startete unverzüglich mithilfe meiner Computertastatur vom Dach eines flachen Gebäudes aus. Ich flog zunächst vorsichtig auf und ab, um nach wenigen Minuten bereits einen Flug entlang der Metrogeleise zu wagen, die in einem sanften Bogen in Richtung des offenen Atlantiks nach Tottenville führen. Ich bewegte mich sehr langsam in 20 Metern Höhe dahin, kein Schnee, kaum Wind. Die ferne und doch zugleich nahe Welt unter mir auf dem Bildschirm war gut zu erkennen, ich vermochte selbst Gesichter von Reisenden hinter staubigen Fensterscheiben passierender Züge zu entdecken. Nach einer halben Stunde erreichte ich Clifton, niedrige Häuser dort, dicht an dicht, in den Gärten mächtige, alte Bäume, um nach einer weiteren Viertelstunde Flugzeit unter der Verranzano-Narrows Bridge hindurchzufliegen. Nahe der Station Jefferson Avenue wurde gerade ein Feuer gelöscht, eine Rauchsäule ragte senkrecht hoch in die Luft, als wäre sie von Stein. Dort bog ich ab, steuerte in derselben Höhe wie zuvor, der Lower Bay entgegen. Am Strand spazierten Menschen, die winkten, als sie meinen Drohnenvogel oder mich entdeckten. Als ich etwas tiefer ging, bemerkte ich in der Krone eines Baumes in Ufernähe ein Fahrrad, des Weiteren einen Stuhl und eine Puppe, auch Tang war zu erkennen und vereinzelt Vogelnester. Es war später Nachmittag geworden jenseits des Atlantiks, es wurde langsam dunkel. — stop
geräusche des krieges
nordpol : 2.37 — Immer wieder einmal begegne ich im Nachtzug einem Mann, der singt. Der Mann singt sehr leise, kaum jemand scheint sich von seinem Singen gestört zu fühlen. Während er singt, sind seine Augen weit geöffnet, er blickt ins Leere, sein Mund ist geschlossen, Töne, die wir vernehmen, kommen aus seinem Hals heraus, der bebt, wenn er singt. Nur selten habe ich mit dem Mann gesprochen, man kennt sich, man fährt in der Nacht im selben Zug in derselben Richtung, es ist mühsam, mit ihm zu sprechen, weil er stottert. Ich darf ihn nicht ansehen, wenn ich ihn nicht ansehe, kommen manchmal ganze Sätze aus seinem Mund. Ich weiß jetzt, dass der Mann in der persischen Stadt Isfahan geboren wurde, Architektur studierte, gegen irakische Männer kämpfte, die jung waren wie er selbst, und dass er nur durch einen Zufall überlebte. Er konnte fliehen. Er floh zu Fuß in die Türkei, eine lebensgefährliche Reise, Sahin, seine Frau, wurde von irgendjemandem angeschossen, er trug sie kilometerweit durchs Gebirge, nahe der Grenze begegneten sie einem Esel, dem ein Bein fehlte. Sie schliefen unter einem Baum ohne Blätter, in der Nacht schleppten sie sich weiter, der Mond war heiß wie die Sonne und auf den Wegen hockten Schildkröten mit blau schimmernden Augen. Manchmal kommen die Geräusche vom Krieg, sie kommen, wann sie wollen, dann singt der Mann. – stop
vor neufundland 18.02.12 uhr : sterne
zoulou : 3.58 — Leichter Regen, kaum Wind. In der Ukraine, weitere Gefechte. Es wird berichtet, dass zivile Menschen sterben, doch niemand könne mit Sicherheit sagen, vom wem sie getötet wurden, aber sie sind tot. — Funkspruch Noes kurz vor Mitternacht. Vermutliche Tiefe: 858 Fuß. Position: 78 Seemeilen südöstlich der Küste Neufundlands seit nunmehr 1417 Tagen im Tiefseetauchanzug unter Wasser. Ich hörte seine scheppernde Stimme. Folgende Botschaft: ANFANG 18.02.12 | | | > leichte bewegung. s t o p schwingen. s t o p auf und ab und seitwärts. s t o p schlingern. s t o p ein hurricane vielleicht. s t o p hurricane charlie. s t o p oder fred. s t o p oder hillary. s t o p ist es möglich dass ich bald eine nachricht erhalte werde? s t o p ob mir jemand zuhört? e n o r m o u s g r e y f i s h s t r a i g h t a h e a d . s t o p habe lange zeiten keine sterne gesehen. s t o p die sterne sind rund. s t o p zarte finger von licht. s t o p fühler. s to p ob yoko noch lebt? — s t o p | | | ENDE 18.04.01
kleiner kopf
romeo : 22.01 – Ich begegnete gestern am frühen Morgen einem Mann, den ich vor Jahren schon einmal beobachtet hatte. Er wartete unter Fernreisenden stehend vergeblich auf einen Zug. Ich erinnere mich noch gut an unsere erste Begegnung. Er hat sich seither kaum verändert, verfügt nach wie vor über einen ungewöhnlich kleinen, zum Himmel hin spitz zulaufenden Kopf. Damals, im Mai des Jahres 2011, saß er auf einer Bank, Terminal 2, des Flughafens, seine Hände hielten eine Tasse Kaffee vor einen kleinen Mund, kleine helle Augen starrten in diese Tasse, kurz fixierten sie mich, dann wieder die Oberfläche des Kaffees, der sich im Gefäß langsam drehte. Staunend wartete ich in der Nähe des Mannes auf einer weiteren Bank, öffnete ein Buch, aber anstatt zu lesen, sah ich immer wieder hin zu dem kleinen Kopf. Ich konnte mir nicht denken, wie es möglich ist, mit einem derart kleinen Kopf zu überleben. Man stelle sich das einmal vor, der Kopf des Mannes war nicht sehr viel größer gewesen als der Kopf eines Kindes von zwei oder drei Jahren. Eigentlich, dachte ich, müsste dieser Mann tot sein oder aber von eingeschränktem Denkvermögen. Danach allerdings sah der Mann nicht aus, er trug die feine Kleidung eines Geschäftsreisenden, außerdem war er vermutlich in der Lage, aus Blicken Gedanken zu lesen, weswegen ich bald selbst zum Gegenstand intensiver Beobachtung wurde. — Null Uhr zwölf in Kobanê, Syria. — stop
eidechsen
echo : 1.35 — Eine Bekannte, die in einem kurdischen Bergdorf groß geworden ist, erzählte, sie habe als Kind im Sommer mit Eidechsen gespielt, im Winter hüpfte sie vom Dach ihres Elternhauses in den Schnee. Es gab kein Telefon und die Schule lag drei Stunden zu Fuß entfernt. Man konnte die Kinder von Weitem über den Weg springen sehen, wie sie nach Hause kamen, da hatten sie noch 2 Stunden zu gehen. Eine karge Landschaft, kaum Bäume, aber blühende Büsche, deren Namen sich nicht so leicht in die deutsche Sprache übersetzen lassen. Ihren ersten Toten hatte das Mädchen wahrgenommen, als sie noch nicht schreiben konnte. Er lag auf dem Rücken auf einer Straße unweit der Schule. Ein dünner Fluss von Blut kam unter dem Körper hervor, auf dem Fliegen kletterten. Sie habe die Augen fest zugemacht, zu spät. Es ist jetzt eine schwere Zeit für sie und ihre Familie. Ich erzählte ihr von Filmen, die ich gesehen hatte, auf meinem Bildschirm unter dem Dach. Tausende Kinder, Frauen, Männer, die vor IS-Schergen in die Berge flüchteten, ohne Wasser und Nahrung. Natürlich kannte sie alle diese Bilder. Ich sagte, ich wäre beinahe sicher, dass die Art und Weise, wie ich flüchtende, leidende Menschen auf Bildschirmen betrachte, von der Art der Fernrohrbeobachtung sei. Sie antwortete unverzüglich, leise Stimme. — stop
im garten
ulysses : 2.28 — Um mir eine Freude zu machen, gehe ich nachts noch in den Garten. Grüne Falter mit hauchdünnen Flügeln sind unterwegs im Dunkeln. Eigentlich können sie überhaupt nicht fliegen, wie sie wollen, sondern werden von feinsten Strömungen der Luft dirigiert. Kaum habe ich meinen Mund geöffnet, liegt ein flatternder Körper auf der Zunge. Sie schmecken bitter und sie wehren sich tapfer. Diese Fliegen also, und diese Nacht, sternenklar. Ich stehe ganz still, höre einem Flugzeug zu, das südwärts fliegt. Ich warte. Plötzlich ist im Garten jenseits des Zaunes ein Geräusch zu hören. Ein Mann geht gebückt unter Bäumen. Es raschelt. Ich kenne diesen Mann, ich kenne ihn nicht gut, aber ich weiß, dass er bald eine Taschenlampe zücken und in die Knie gehen wird. Er spricht dann, aber so leise, dass ich nichts von den Wörtern hören kann, nicht einmal kann ich sicher sein, dass er Wörter spricht, vielleicht singt er nur vor sich hin, singt, während er mit einer Taschenlampe Gräser beleuchtet. Noch vor wenigen Tagen habe ich mich über den Mann gewundert. In dieser Nacht wundere ich mich nicht. Ich habe erfahren, dass der Mann sich bückt, mit seinem Licht, um nach Schnecken zu suchen. Ich stellte mir vor, der Mann würde seine Beute in eine seiner Hosentasche stecken. Aber so ist das ganz und gar nicht. Sobald der Mann eine Schnecke findet, zückt er im Licht der Taschenlampe eine Schere und schneidet die Schnecke in zwei Teile, sodass sie sich nicht mehr bewegen kann, weil sie tot ist. Ein lautloser Vorgang, so lautlos, dass ich ihn lange Zeit nicht bemerkte, ja, vielleicht niemals bemerkt haben würde, hätte ich nicht von dem seltsamen Verhalten des Mannes erzählt. Nun weiß ich, warum er sich bückt. Noch zehn Minuten, dann geht er wieder ins Haus zurück und auch ich werde nicht mehr da sein. — stop
lichthals
romeo : 1.28 — Noch ein Kind gewesen, beobachtete ich Fliegen und Mücken mit argwöhnischen Augen. Sie waren so wendig, willensstark und ausdauernd in ihrer Jagd nach Zucker oder Blut, dass ich sie fürchtete und bewunderte zur selben Zeit. Sirrende Geräusche. Sturzschraubenflüge. Moskitos, die man niemals lebendig mit einer Hand fangen, aber töten konnte. Das Mikroskop, mit dessen Hilfe ich vor langer Zeit Fliegenleichen untersuchte, habe ich unlängst wiedergefunden. Ein schweres Objekt, schwarz lackiertes Gusseisen, daran befestigt, bewegliche Messingteile, Rädchen insbesondere, ein Spiegel, und ein runder, beweglicher Tisch. Das Gerät war im zurückliegenden Jahrhundert von Ernst Leitz in Wetzlar gefertigt worden. An seinem zentralen Lichthals trägt es die Signatur No. 158461. Robert Koch soll aus dieser Serie der Mikroskope das Mikroskop mit der Ziffer 100000 erhalten haben, Paul Ehrlich das Mikroskop mit der Nummer 150000. Damals, als ich noch klein gewesen war, konnte ich das Mikroskop kaum auf den Tisch heben, an den ich mich zur Untersuchung gefangener Fliegen setzte, sobald früher Abend geworden war. Um eine Fliege sezieren zu können, benötigt man sehr feines Besteck, meine Hände zitterten. Die erste Fliege, der ich mich mit einem Skalpell näherte, wachte auf, sie bewegte ihre Beinchen, ich flüchtete aus dem Zimmer. Die zweite Fliege, die ich untersuchen wollte, war so gründlich tot, dass sie über keinen eigentlichen Körper mehr verfügte, der untersucht werden konnte. Die dritte Fliege öffnete sich, sie war unerwartet feucht gewesen. In einer metallenen Schachtel verwahrte ich meine Opfer. Der Schachtel entkam ein bitterer Geruch. Ich habe nun überlegt, ob ich die Untersuchung der Fliegen oder kleinerer Spinnentiere nicht dringend wieder aufnehmen sollte. — stop
im zimmer. mitternacht
olimambo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balanciere ich vor dem Bücherregal auf einem Stuhl. Noch ist Samstag. Ich erhoffe mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? Ein bemerkenswerter Satz. Wie ich von meinem Stuhl steige und wieder auf dem Boden stehe, halte ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch wurde im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Nun fällt mir auf, dass G. und J. gestorben sind, während P. und ich, der ich das Buch ausgeliehen habe, noch leben. Auch Daniil Charms ist tot und sein Übersetzer Peter Urban seit wenigen Wochen. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen 7 °C. Ich werde mich gleich auf die Suche nach meinen fünf Marienkäfern machen, die im Kühlschrank in einer Schachtel überwintern sollen. Zwei habe ich bereits entdeckt, das war vor drei Stunden gewesen, vermutlich ist das so, dass ich in dieser Minute alle Käfer aus den Augen verloren habe. Aber ich kann immerhin sagen, dass ich die Käfer gesehen, sie mir also gestern nicht eingebildet hatte. Käfer No 1 saß in der Diele nahe der Tür, als würde er warten. Käfer No 2 bewegte sich im Arbeitszimmer über das Fenster, hinter dem es stockdunkel gewesen war. Bevor ich mich auf die Suche mache, sollte ich vielleicht doch noch einmal einen Versuch unternehmen, meinen Daniil Charms zu finden. Gleich vorsichtig, nur nicht stürzen, den Stuhl besteigen. Bisweilen träumte ich, von einem Berg zu fallen. Langsam, ich gehe durchs Zimmer. Und während ich so gehe, erinnere ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südfriedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir gesprochen haben. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied war. — stop