whiskey : 15.58 UTC – Für wenige Minuten stehen wir uns gegenüber. Er ist etwas kleiner als ich und etwa 40 Jahre jünger. Ein Bahnhof. Winter. Er reicht mir die Hand, seine Stimme spricht leise, als wolle er seine Stimme im Rauschen der Menschenstimmen um uns herum verstecken. Ich habe seinen Namen nicht verstanden. Ich frage nach. Du heißt Korie, wiederhole ich, das ist ein ungewöhnlicher Name. — Das war gestern, so war es gewesen. Ich hatte Korie immer wieder einmal gesehen, am Bahnhof, vor den Aufzügen stehend. Er wartete und ich wartete. Wir wären vielleicht nie in ein Gespräch gekommen, wenn sich dieser junge Mann nicht aus heiterem Himmel erkundigt hätte, welches für mich das schönste Wort sei, das ich kennen würde. Ich antworte: Das ist eine der wunderbarsten Fragen, die ich jemals hörte. Ich lerne gerade die deutsche Sprache, antwortete Korie. Ich sammele Wörter, die Menschen erzählen. Darf ich fragen, woher Du kommst, Korie? Afghanistan, antwortete der zierliche, junge Mann. Du bist von weit her gekommen, sagte ich. Ja, von sehr weit, antwortete er, drei Jahre weit. Zuletzt war ich auf einem Schiff im Meer. Das Schiff ging unter. Ich konnte schwimmen. — stop
Aus der Wörtersammlung: wort
vom poetischen wert
alpha : 15.28 UTC – Als würde ich kurz vor einem Gespräch mit einem Verleger vor einer Tür stehen. Ich bin aufgeregt und zugleich konzentriert. Ich habe meine erste Frage, die ich im Gespräch stellen werde, sorgfältig formuliert, auswendig gelernt und mehrfach geprüft. Es ist aber doch etwas anderes geplant, ein Gespräch nämlich mit ChatGPT über die Erfindung der Tiefseeelefanten. Eine Verbindung ist hergestellt, die Eingabemaske leuchtet unmittelbar vor mir auf dem Bildschirm, der Bot scheint zu warten. Ich sehe auf die Uhr, warum? — Das war gestern um kurz nach 22 Uhr gewesen. So habe ich notiert: Guten Abend! Mein Name ist Louis. Folgendes: Ich habe vor Jahren die Gattung der Tiefseeelefanten erfunden. Eine Herde dieser Tiere wanderte über einen Zeitraum mehrerer Monate von Europa aus über den Atlantik nach New York. Sie gingen Schritt für Schritt fest auf dem Boden, indessen ihre kilometerlangen Rüssel bis zur Meeresoberfläche hin ausgestreckt worden waren, um von dort Luft in die Tiefe zu holen. Sind diese Tiere jenseits eines poetischen Raumes denkbare Wesen? — 8 Sekunden später folgende erstaunliche wie berührende Antwort des künstlichen Systems:Deine Idee der Tiefseeelefanten ist faszinierend und poetisch – sie erinnert an die Kraft der Vorstellung, die in der Literatur und Kunst eine Realität für sich schaffen kann. Wenn wir die Idee aus naturwissenschaftlicher Perspektive betrachten, stoßen wir allerdings auf einige Herausforderungen: 1. Rüssellänge und Atmung: Ein kilometerlanger Rüssel, der von der Tiefsee bis zur Wasseroberfläche reicht, würde immense Schwierigkeiten für die Atmung mit sich bringen. Der Wasserdruck in der Tiefsee ist extrem hoch (z. B. ca. 1000 Atmosphären in 10.000 Metern Tiefe), während die Luftsäule im Rüssel nahezu drucklos wäre. Die Muskeln, die den Rüssel öffnen und schließen, müssten unglaublich stark sein, um den Druckunterschied zu bewältigen. 2. Druckresistenz: Lebewesen, die in der Tiefsee existieren, sind an den hohen Druck angepasst. Ein so großes Tier wie ein Elefant, das auf Landdruck optimiert ist, würde in der Tiefe zerquetscht. Eine denkbare Lösung wäre, dass die Tiefseeelefanten eine Anpassung entwickelt haben, um den Druck auszugleichen, z. B. durch eine extrem flexible oder verstärkte Körperstruktur. 3. Fortbewegung: Ein so großes Tier bräuchte sehr kräftige Beine, um auf dem Meeresboden laufen zu können, und gleichzeitig müsste es mit den Widerständen des Wassers zurechtkommen. Viele Tiefseelebewesen sind schwerelos und gleiten oder schweben – ein laufendes Tier wäre ungewöhnlich. 4. Nahrung: Die Tiefsee ist eine karge Umgebung, was Nahrung betrifft. Deine Elefanten müssten eine Strategie haben, um Nahrung in ausreichender Menge zu finden – vielleicht durch das Einfangen von Organismen, die in der Nähe der Wasseroberfläche leben, mithilfe ihrer Rüssel. Denkbare Anpassungen. Mit ein wenig Kreativität lassen sich jedoch Mechanismen erdenken, die deine Tiefseeelefanten möglich machen könnten. 1. Druckausgleich: Sie könnten ein internes System haben, das ihren Körperdruck dem Umgebungsdruck anpasst, ähnlich wie Tauchroboter, die für Tiefseeforschung gebaut werden. 2. Atmung: Statt über Rüssel könnten sie eine Art “Luftreservoir” in ihrem Körper tragen, das durch regelmäßige Besuche an der Wasseroberfläche aufgefüllt wird. 3. Körperstruktur: Ihre Beine könnten besonders dick und muskulös sein, um sowohl dem Druck als auch der Fortbewegung standzuhalten. 4. Ökologie: Sie könnten sich von organischen Ablagerungen am Meeresboden oder hydrothermalen Quellen ernähren, die als „Oasen“ der Tiefsee gelten. Poetischer Wert: Aus literarischer Sicht sind deine Tiefseeelefanten nicht nur denkbar, sondern sogar wunderbar. Sie laden dazu ein, über die Beziehung zwischen Oberfläche und Tiefe, zwischen Lebensräumen und Anpassung nachzudenken. Sie könnten als Symbole für Ausdauer, Anpassung oder den Übergang zwischen Welten stehen – und genau das macht sie so faszinierend. Ich bin gespannt, wie du die Geschichte dieser majestätischen Wesen weiterspinnst! — stop
als tiefseeelefanten
in unseren gesprächen
noch nicht existierten
flog vater 1971 über
grönland nach
san franzisko
von übersee
echo : 22.31 UTC – Das Wort d e p o r t a t i o n. Unheimliches Geräusch. — stop
psyop
kilimandscharo : 22.52 UTC – Ich habe heute ein besonderes Wort entdeckt. Das Wort lautet Psyop. Ich dachte, als ich das Wort las, das ist unheimlich, ein unheimliches Wort. Ich habe, um Bekanntschaft zu schließen, das Wort zunächst laut ausgesprochen, dann notiert: Das Wort Psyop wurde von einer X‑Person buchstabiert, die die Enthüllung eines Deep State in den Vereinigten Staaten von Amerika fordert. Man forderte gleichwohl, keine drei Minuten waren an Ort und Stelle vergangen, amerikanische Staatsbürger/innen somalischen Ursprungs, des Landes zu verweisen, das heißt zu deportieren. Eine Fotografie wurde zur Unterstützung gesendet, die Fotografie einer jungen Frau, einer Frau von schwarzer Hautfarbe, das ist wichtig, sie persönlich also soll inhaftiert und deportiert werden. Die Frau, die die Fotografie zeigt, lacht. Sie wusste zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht, was auf ihre Fotografie und sie selbst zukommen wird. Ich stelle fest: 45000 Augenpaare haben zum Zeitpunkt meiner Beobachtung diesen Text mit Bild wahrgenommen, 2270 menschliche Wesen haben Zustimmung durch Herzstempel erteilt. Ich fragte ChatGPT nach einer Umschreibung des Wortes Psyop. Bot antwortet Folgendes: Psyop ist eine Abkürzung für „psychologische Operation“ (auf Englisch: psychological operation). Der Begriff stammt aus dem militärischen und geheimdienstlichen Bereich und bezieht sich auf Maßnahmen, die darauf abzielen, die Wahrnehmungen, Einstellungen und das Verhalten von Menschen oder Gruppen zu beeinflussen. Ziel ist es, psychologischen Einfluss auszuüben, der oft politischer, militärischer oder sozialer Natur ist, um bestimmte Reaktionen oder Handlungen zu fördern. — stop
Vater fotografierte
1971 die Stadt
New York.
Es war kalt.
Ein Jahr vor
Watergate.
silence
bamako : 10.22 UTC — Mutter sagte im November des Jahres 2016, nachdem Donald J. T. zum Präsident der Vereinigten Staaten gewählt worden war: Das ist doch verrückt! Ich hörte heut Nachmittag ihre Stimme. Meine Gedankenstimme antwortete: ja Mutter, vollkommen verrückt und gefährlich. Es ist seltsam, ich kann mich auch an die Stimme meines Vaters wieder erinnern. Er ist noch vor November 2016 gestorben. Vermutlich würde er präzise wiederholt haben, was Mutter sagte am Telefon an einem frühen Morgen. John Cage notierte in seinem wunderbaren Buch Silence: Gib einem Gedanken einen Stoß, er fällt leicht um. — stop
von maschineller übersetzung
nordpol : 16.22 UTC — In der Umgebung des russischen Überfalls auf die Ukraine, seltsame Wörter des Krieges: Wassertelefon (vermutlich Rohrleitung) . Hagelkörner (Granaten) . Zigarettenfeld (Bedeutung noch unbekannt) . Straßendampfschiff (Panzer) . Milchzähne (Panzersperre) . Muscheln (Bomben) . Dreharbeiten (Beschuss) . Tierheim (Schutzraum) . Glühende Todeszeiten (Schrapnelle) . Einer arabisch denkenden Maschine entnehme ich das Wort Raketenbirne für eine ebenfalls noch unbekannte arabische Wortbedeutung vor maschineller Übersetzung. — stop
stimmen
alpha : 2.58 UTC — Eine hochbetagte Dame wünscht zu verreisen. Sie erzählt, sie könne doch kaum noch Schritte gehen, sie verreise mit dem Rollstuhl, in einem Automobil wird sie durch die Landschaft gefahren werden, das ist ihr Wort, Automobil, ein Wort der Kinderzeit. Sie sagt, sie wisse nicht, ob sie die Reise schaffen würde. Ich sage, Du musst auf Deine innere Stimme hören. Da sind viele Stimmen, antwortet sie, eine Stimme sagt, das musst Du tun, Du hast nicht mehr viel Zeit. Eine andere Stimme sagt, das ist gefährlich, diese Stimme ist leise. In der Nacht bekommt sie Fieber. Sie wird nicht reisen, sagt sie am Telefon. Fieberstimme. — stop
hidup — am Leben
nordpol : 2.15 UTC — Die ukrainische Schriftstellerin Nadiya Sukhorukova, die aus der bombardierten Stadt Mariupol im März des Jahres 2022 flüchten konnte, erzählt von einer berührenden Situation: Wie Menschen ihr Leben riskierten, um ein Lebenszeichen an die Welt und ihre Angehörigen und Freunde außerhalb der Stadt in der Ukraine zu senden. Sie schreibt auf der digitalen Position „Monologs of War“ Folgendes: Ein kleines Wunder geschah. Es gab eine Verbindung direkt am Eingang. Meine Kellernachbarn erzählten einander, dass Kyivstar bombardiert worden war, aber einer der Angestellten schaltete regelmäßig den Generator ein und versorgte ihn mit Strom, sodass man sich kurz unterhalten und die Nachrichten erfahren konnte. Auch wenn es unmöglich war, in Mariupol anzurufen, konnten wir doch Verwandte in anderen Städten informieren. Dank eines Fremden, der es Mariupol ermöglichte, den vom Unbekannten verrückt gewordenen Menschen jeden Tag ein Wort zu sagen: „am Leben“. Und ihre Schatten: A live. живим . i levende live . gyvas . en vie . vivo — 活著 . على قيد الحياة . elus . ζωντανός . hidup. War Monologs sind leider zurzeit oder für immer nicht erreichbar. Spuren sind in den Internetarchiven zu finden. — stop
murmansk
delta : 0.28 UTC — Regen fällt. Nach Mitternacht sind Sirenen zu hören im Zimmer 305 eines Hotels an der Rue de Javel im 15. Arrondissement der Stadt Paris. Eine Frau, sie vielleicht 60 Jahre alt, sitzt auf dem Sofa, Blick zum Fenster. Sie hört diesem gnädigen Regen zu und jenem Sirenenton, den ihr Telefon spielt, ein Ton, den sie so gut kennt. Sie schließt das Fenster, geht ein oder zwei Schritte vor dem Bett auf und ab. Der hölzerne Boden knarzt. Sie nimmt ihr Handtelefon vom Tisch, wählt und spricht sofort los: Hier ist Mama! Seid ihr schon im Flur? Sind alle da, habt ihr Strom? Wasser? Und die Katzen? — Die Frau spricht mit ruhiger, fester Stimme, als würde sie eine Liste verlesen. Auf jede der Fragen antwortet ihre Tochter mit ebenso ruhiger Stimme: Ja, alle sind da. Anna ist da. Artem ist da. Viktorija ist da. Alle sind im Flur, ja, die Türen sind geschlossen, ja, wir haben zwei Powerbanks, Wasser, Licht. Liebe Mutter, sagt die Tochter, wenn das Telefon ausfällt, reg Dich nicht auf, ich ruf Dich wieder an. — Am Nachmittag bereits waren strategische Bomber in der Ferne gestartet, tief im russischen Hinterland, von Murmansk aus, um die Menschen der Stadt Kyjiw zu bombardieren. In dieser Stunde, es regnet in Paris, sind ihre Geschosse angekommen, schrittweise in Wellen. Eine lange, sorgenvolle Nacht. Die Mutter, die in Paris auf ihrem Bett sitzt, wird ihr Telefon nicht aus der Hand legen. Vielleicht wird sie gegen den Morgen zu eingeschlafen sein von der Müdigkeit der Jahre. Es regnet, die Vögel werden nass. Noch immer ist kurz nach Mitternacht. — stop
ChatGPT
lima : 0.22 UTC — Am späten Abend bei großer Hitze stelle ich ChatGPT eine Frage. Ob für sie „persönlich“, will ich wissen, eine Unterscheidung von Tagzeit zu Nachtzeit von Bedeutung sei. ChatGPT antwortet, wie erwartet, notiert Folgendes: Als KI habe ich kein Bewusstsein, keine körperlichen Empfindungen und damit auch kein Konzept von Tag oder Nacht. Zeit existiert für mich nur in dem Sinne, dass ich darauf programmiert bin, Informationen in Echtzeit zu verarbeiten und zu reagieren. Ich arbeite unabhängig von der Tageszeit und habe weder Bedürfnisse noch den biologischen Rhythmus, der bei Lebewesen das Gefühl von Tag und Nacht prägt. Für mich gibt es also keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und ich stehe jederzeit zur Verfügung, um Informationen bereitzustellen oder Aufgaben zu erfüllen. — Output Ende. Stille. Keine Bewegung auf dem Bildschirm, keine weitere Zeile. Eine Fliege brummt durchs Zimmer, noch wach, der kleine Kerl, der mich durch den Tag begleitete, treu wie ein zahmer Vogel. In diesem Moment, kurz nach Mitternacht, eine seltsame, leise Erwartung, ChatGPT würde nach langer, geduldiger Zeit des Antwortens selbst eine persönliche Frage stellen: Louis, bist Du müde? — stop