delta : 0.02 — Wie jetzt der Sommer näherkommt, ändert sich alles. Im Winter erfrieren Menschen, im Sommer fallen sie versehentlich aus Fenstern, die sie zum Vergnügen geöffnet haben. Bernhardt L., der mich besuchte, erzählte von seinen Erfahrungen, die er mit Todesursachen betrunkener Menschen sammelte. Es war ein angenehmer Abend. Eigentlich wollten wir nicht von traurigen Geschichten sprechen, aber dann wurde es doch wieder einmal ernst. Wir saßen auf Gartenstühlen vor dem Fenster zu den Bäumen, die in den Himmel staubten, und beobachteten meine Schnecke Esmeralda, die sich der frischen Abendluft näherte. Sie kroch zielstrebig über den Boden hin, dann die Wand hinauf und ließ sich auf dem Fensterbrett draußen nieder. Wenn sich Schnecken setzen, bewegen sie sich kaum noch, ihr feuchter Körper scheint indessen etwas breiter zu werden. Mein Bekannter Bernhardt L. war sehr interessiert an der Existenz Esmeraldas in meiner Wohnung, er hatte sie noch nie zuvor gesehen und nie von ihr gehört. Er wollte wissen, woher sie gekommen war, wie alt sie wohl sei, und warum sie diesen schönen Namen Esmeralda von mir erhalten habe. Ich erinnere mich, wie er mit einem Finger zärtlich über Esmeraldas Häuschen strich, während er von einem unglücklichen Mann erzählte, der ein Zeitwirtschaftler von Beruf gewesen sein soll. Dieser Mann habe Minuten gezählt, Sekunden, in der Beobachtung arbeitender Menschen in einer Fabrik. Seine Aufgabe sei gewesen, Zeiträume aufzuspüren, die durch Veränderungen in den Bewegungen der beobachteten Menschen eingespart werden könnten. In einem Brief, der sehr ausführlich sein Unglück notiert, habe er berichtet, dass es ihm zuletzt nicht möglich gewesen sei, eine Tasse Kaffee von der Küche in sein Wohnzimmer zu tragen, ohne darüber nachzudenken, ob es wirtschaftlich sei, mit nur einer Tasse Kaffee in der Hand die Räume zu wechseln, wenn es doch möglich wäre, zwei Tassen Kaffee zur gleichen Zeit zu transportieren. — stop
Aus der Wörtersammlung: arbeit
20 Gramm : eine Künstlerin erzählt
zoulou : 18.25 — Inés, die mehrere Jahre lang in einem zentralen Madrider Postamt arbeitete, erzählt, sie habe in der Stunde etwa 3200 Kurzbriefe mit der Hand sortiert. Jeder ihrer Arbeitstage dauerte 6 Stunden reiner Arbeitszeit, das heißt, Stundenzeit ohne Pause, da ihre Hände ruhten. Manchmal, wenn ihre rechte Hand schmerzte, habe sie mit der linken Hand sortiert, da sei sie aber nicht so schnell gewesen. Einmal habe sie errechnet, pro Nacht oder Schicht mit ihren Händen 385 Kilogramm angehoben und durch die Luft transportiert zu haben. Sie lebte damals in der Calle José Abascal in einem kleinen Atelier unter dem Dach, nun, im Alter von bald 40 Jahren, könne sie Grund der Bilder, die sie zeichne, hervorragend leben. Einmal wohne sie in London, dann wieder in Berlin, München, Paris. Manchmal träume sie noch von Briefen, die sie in ihrer postalischen Zeit gerne betrachtet habe, Kuverts, die selbst Kunstwerke gewesen seien, liebevoll gestaltet. Aber das genaue Betrachten der Briefe war natürlich nicht gestattet, da das Betrachten eines Briefes viel zu lange dauere. Dass ich jetzt Zeit habe, niemals hetzen muss, sogar selbst entscheiden kann, wie schnell ich mein Abendbrot zu mir nehme, ist mein größtes Glück. — stop
chicago
tango : 6.05 — Im Palmengarten abends bei leichtem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konnte. Ich bemerkte nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regenschirm saß, auch der Mann hatte einen Regenschirm über sich aufgespannt. Kaum hatte ich Platz genommen, notierte ich zunächst eine Liste von Büchern in mein Notebook, die sich mit der Arbeitswelt der Menschen beschäftigen. Sie schreiben schnell, sagte der Mann plötzlich, sie sind wohl geübt. Sie haben vielleicht etwas im Kopf, das sie loswerden wollen. Als ich mich dem Mann zuwendete, bemerkte ich, dass er den Regenschirm in eine langsame Drehung versetzt hatte, sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Wenn das meine Schreibmaschine wäre, könnte ich Ihnen genau sagen, was sie gerade geschrieben haben. Ich kann hören, was meine Schreibmaschine schreibt. Der Mann machte eine kurze Pause. Was haben sie denn aufgeschrieben, wollte er dann wissen. Ich antworte: Einige Namen, Namen, die sie vielleicht schon einmal gelesen haben. Melville. Bukowski. Upton Sinclair. Max von der Grün. – Gelesen nicht, antwortete der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upton Sinclairs Dschungelbuch existiert in englischer Sprache als Hörbuch für Blinde oder für Menschen, die nicht lesen wollen. Ich würde gerne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lachte. Ich höre dem Regen gerne zu, aus meiner Sicht der Dinge ist das so, als würde der Regen schreiben, hören Sie, wie es regnet, wie es schreibt. Ist das nicht wunderbar! – Ich fragte den Mann, ob er denn lesen oder hören könne, was der Regen genau notiert in diesem Augenblick. – Aber natürlich, antwortete der Mann, es ist mit jedem Regen etwas anderes, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas anderes, als dieser Regen hier, der über einem kleinen See niedergeht. Für einen Moment stand der Regenschirm neben mir ganz still. Ich hörte ein Flüstern: Dieser Regen hier erzählt von Chicago. — stop
lilly
delta : 0.05 — Ich wollte mit einem armen Menschen sprechen, wollte erfahren, wie es ist, mittellos geworden zu sein. Ich hatte Glück, eine Bekannte, die für die Bahnhofsmission arbeitet, erwähnte eine seltsame Frau, Lilly, die sich seit Monaten auf den Bahnsteigen 22, 23 oder 24 gewöhnlicherweise aufhalten würde, sie sei sehr lieb und sehr arm und würde gerne erzählen. Ich entdeckte Lilly auf einer Bank sitzend, Bahnsteig 18, sie war zunächst eher scheu gewesen, aber dann doch bereit sich mit mir zu unterhalten. Ja, Lilly. Sie spricht schnell, wenn sie spricht, und sie schämt sich ein bisschen, vielleicht deshalb, weil sie ahnt, dass sie nicht so gut riecht, wie sie gerne riechen möchte, und ihr Haar, das hell geworden ist an der ein oder anderen Stelle, scheint feucht und klebrig geworden zu sein vom Talg. Ich fasse zusammen, was Lilly etwas durcheinander herumerzählte. Wenn eine Frau arm geworden sei, wenn eine Frau auf der Straße leben müsse, erklärte Lilly, sollte sie zunächst versuchen, solange Zeit wie möglich ihren Status der Armut zu verbergen, sie sollte so wirken, als habe sie noch Geld zur Verfügung, als sei alles in Ordnung, dann würde man sie aus den Warteräumen eines Bahnhofes beispielsweise oder eines Flughafens nicht vertreiben. Sie trage aus genau diesem Grund noch immer einen Hosenanzug, manchmal, bei gnädigem Licht, wirke sie so, als würde sie zur Arbeit gehen oder soeben von der Arbeit kommen. Meine Schuhe sind geputzt, und wenn ich sie schonen werde, sollten sie doch noch lange Zeit als Schuhe einer erfolgreichen Frau erscheinen. Ich habe gelernt, im Sitzen zu schlafen, weiß jederzeit, wo ich mich waschen könnte, auch meine Bluse, meine Strümpfe, es ist sehr anstrengend, mich selbst und meine Kleidung in allgemein zugänglichen Toilettenräumen zu säubern, immerzu bin ich erschöpft, niemand kennt mich persönlich, weiß, woher ich komme, ahnt, wer ich einmal gewesen bin. Ich esse sparsam, ich esse, was ich finde, und trinke aus öffentlichen Brunnen. Ich darf nicht rauchen, ich darf keinen Alkohol trinken, das ist ja selbstverständlich in meiner Lage! Einmal im Jahr nehme ich einen Zug und fahre im Winter nach Süden, ein weiteres Mal fahre ich im Sommer nach Norden, aber das ist nur ausgedacht. Ich lese Zeitungen, die ich da und dort entdecke. Ich spreche mit den Tauben, leise, sehr leise, damit ich nicht verrückt werde. In meinem Koffer befindet sich eine zweite Bluse, und dies und das und ein Paar Turnschuhe, ein Halstuch in roter Farbe, ein Halstuch in gelber Farbe, ein Halstuch in blauer Farbe, das grüne Tuch trage ich gerade in diesem Moment, ich habe einen schönen Hals, nicht wahr! Ja, ich darf nicht rauchen und nicht trinken und nicht verrückt werden, das ist dringend, ich muss bei mir sein, ich fürchte Schlafhäuser, ich fürchte diese schrecklichen Schlafhäuser, ich bin mir nicht sicher, ob ich noch bin. — stop
tokio
ginkgo : 0.22 — Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, und auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen. Der Junge konnte laufen, und er konnte an eine Türklinke heranreichen. Es steckte keinerlei Absicht dahinter, nur der instinktive Tourismus des Kindesalters. Eine Tür war dazu da, aufgestoßen zu werden; er ging hinein, blieb stehen, schaute. Da war niemand, der ihn beobachtet hätte; er drehte sich um und ging fort, wobei er sorgsam die Tür hinter sich zumachte. — Ich erinnerte mich an diese Zeilen Julian Barnes, als ich zum ersten Mal von B. hörte, der eine tiefe Leidenschaft für die Stadt Tokio entwickelt haben soll, obwohl er nie dort gewesen ist. Was weiß ich von B. an diesem Abend? Eigentlich nicht sehr viel. B. ist 52 Jahre alt, ungefähr 1,88 Meter groß, schlank, studierte slawische Sprachen, arbeitete als Übersetzer, Altenpfleger, Autor von Restaurantbeschreibungen, Dramaturg, Postschaffner, seit vier Jahren nun weder das eine noch das andere, weil er wohlhabend geworden ist durch unerwartete Erbschaft. Er blieb damals vor vier Jahren in seiner kleinen Wohnung, kaufte sich einen Computer mit einem großen Bildschirm und muss irgendwie in Tokio gelandet sein. Seinen ersten Besuch mittel der Streetviews (Google-Maps) beschreibt er als ein wesentliches Ereignis seines Lebens, er sei irgendwo in der Stadt gelandet, habe sich gewundert über die Enge der Straße, auf welcher er sich plötzlich befand, und über Bäume, die aus Häusern zu wachsen schienen. Ein Mann stand vor einem Getränkeautomaten, er schaute in die Kamera, die ihn gerade ablichtete. Seine Augen, durch Unschärfe verfremdet, waren nicht zu erkennen, aber eine Zigarette, die der Mann zwischen Finger seiner rechten Hand geklemmt hatte. So, erzählte B., habe es angefangen. Stunde um Stunde, Tag für Tag, bewegte er sich fortan durch die Stadt. Immer wieder entdecke er Spuren seltsamster Geschichten. Ich habe eine Tür geöffnet. — stop
landschaft überall
romeo : 1.02 — Irgendwann, nachdem er wach geworden am Nachmittag, muss K. einen Brief notiert haben. Bei diesem Brief nun handelt es sich um einen besonderen Brief, denn er ist von einem mutigen Mann ausgedacht, von einem Mann, der lange Zeit überlegte, wie er seine Gedanken formulieren sollte, an den Vorstand, der über sein Leben zu bestimmen wünscht. K. solle anstatt vier in Zukunft sechs Nächte einer Woche zur Arbeit an den Maschinen erscheinen. Es sind feine, ja zarte Worte, die K. für seine Ansprache wählte, ich hätte sie ihm niemals zugetraut, höflich und traurig: Nun werde ich, schrieb K., sechs weitere Stunden in einem Zug verbringen, die nicht bezahlt sein werden, Stunden, da meine Frau mich vermissen und möglicherweise einmal deshalb verlassen wird, es ist eine Tragödie! Ich habe diesen Brief, in dem von einer Tragödie die Rede ist, vor wenigen Minuten fotografiert, er wurde von Hand geschrieben, ich erkannte die Schrift eines betrunkenen Kindes, diese Hände, sie zitterten, weil K. sich fürchtete, in dem Moment, da er schrieb, oder überhaupt. Ob er mir den Brief auf seinem Computer aufschreiben könne, fragte ich K.: Würdest Du mir Deinen Brief bitte per E‑Mail senden, damit ich ihn weitergeben kann? So etwas habe ich nicht, antwortete K., einen Computer, E‑Mail, Internet. Er habe auch kein Telefon, fuhr er fort, kein Telefon mit Schnur, und auch kein Telefon, das er sich in die Hosentasche stecken könnte. Du bist der erste Mensch, setzte K. hinzu, der einen Brief, den ich geschrieben habe, fotografiert, als sei er eine Landschaft. Manchmal begegne ich K. im Zug, der zum Flughafen fährt, ich grüße ihn und er freut sich. Er liest dort seit Jahren immer in demselben Buch. Manchmal hält er das Buch fest an seine Brust gedrückt, dann ist er eingeschlafen. — stop
nachtflug
india : 0.18 — In diesem Jahr ist er spät zu mir gekommen, der Winter längst vorüber. Ein Falter segelte gestern Abend durch mein Arbeitszimmer, bald saß er auf dem Boden. Ich näherte mich sehr vorsichtig, hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. — Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Ein paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ob ich den Falter füttern sollte? Vielleicht würde er etwas Himbeermarmelade zu sich nehmen. Ich stelle mir vor, der Falter könnte 254 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der rasch bei mir zu Kräften kommen möchte. Ja, das ist denkbar, immer wieder denkbar. Gestern, das will ich schnell noch erzählen, habe ich Flugversuche unternommen mit einer filigranen Rückenpropellerdrohne. Es handelt sich um die Nachbildung eines Taubenschwänzchen, demzufolge ist sie nicht größer als 50 Millimeter. Ich habe ihr beigebracht, mir zu folgen, wenn ich durch meine Wohnung spaziere. In dieser Verfolgung ist sie bereits sehr präzise, außerdem so schnell in ihrer Bewegung geworden, dass ich sie mit bloßer Hand nicht fangen könnte. Einmal näherte sie sich meiner Schnecke Esmeralda. Das war ein Moment von höchster Aufmerksamkeit, ein Verhalten, als würde das Taubenschwänzchen mit Esmeralda sprechen, sehr seltsam, anrührend, die Kirschbäume blühen. — stop
slow
himalaya : 18.08 — Er schreibe, erzählte M., damit sich in seinem Leben nicht alles wiederhole, Tag, Nacht, Winter, Sommer, wenn ich erfinde und das Erfundene notiere, dann ist das so, als würde ich neues Land entdecken, das ich betreten, auf dem ich spazieren kann. Deshalb bleibe sein Leben spannend, es würde ihm wohl nie langweilig werden, auch wenn er sich wochenlang mit ein und derselben Frage beschäftigen würde, zum Beispiel, weshalb er noch nie eine Fliege bemerken konnte, die auf dem Rücken fliegen kann, obwohl sie doch längst erfunden worden sei. — Vor wenigen Minuten habe ich an M. seit langer Zeit wieder einmal gedacht, es war vielleicht deshalb gewesen, weil ich einen Film beobachtete, der von der Arbeit und dem Leben John Irvings erzählt. Der Schriftsteller erwähnt Folgendes: Jener Zeitraum, wenn ein Buch veröffentlicht wird, wenn alle Leute mit dir darüber reden, ist sehr kurz, es ist nach wenigen Monaten vorbei. Dagegen hat das Schreiben des Buches vielleicht vier, fünf, sechs oder sogar sieben Jahre gedauert. Und für das nächste Buch benötigt man dann wieder so lange. Durch das Ringen habe ich gelernt, dass man diesen langen Prozess lieben muss. Man muss es lieben, zu üben, dieselbe Bewegung hundertmal zu wiederholen, mit demselben langweiligen Sparringspartner. Es dauert lange, Zentimeter für Zentimeter, hier etwas durchstreichen, diesen Satz an diese Stelle, den Satz hier weg und dorthin schieben, die Leute würden einschlafen, wenn sie einem Schriftsteller bei der Arbeit zusehen, oder einem Ringer beim Training. Es war wichtig für mich, das zu lernen. — stop
vor neufundland 18:22:58 uhr : webstimme
alpha : 22.01 — Fiebertage. Ich meine, stürmischen Wind vor den Fenstern zu hören. Ein helles Geräusch weiterhin in meinem Kopf, leise, zu jeder Zeit. Einmal stehe ich auf, schalte meine Computermaschine an, entdecke eine Nachricht Noes. Tag 1498 im Taucheranzug vor Neufundland, Tiefe 84 Meter. ANFANG 18.22.58 | | | > ich höre das ticken einer uhr. s t o p ich könnte die zeit zählen. s t o p weitermachen. t w o b l u e f i s h e s i n l o v e s t r a i g h t a h e a d. s t o p solange ich lache ist leben in meinem gehäuse. s t o p der duft der kirschblüten. s t o p von einem atemzug zum anderen. s t o p stark. s t o p süß. s t o p vielleicht flieder? t w o y e l l o w f i s h e s l e f t h a n d. s t o p ich stelle mir vor ich arbeitete im weltraum. s t o p grandiose idee. s t o p da ist etwas das nicht stimmt. s t o p eine menschliche stimme in meiner nähe. s t o p eine warme menschliche stimme so nah dass ich den luftzug spüre der sie webt. s t o p < | | | ENDE 18.24.28
furcht vor pegida
echo : 0.12 — Ihr Sohn heißt Miran, ihre Tochter Shirin. Sie selbst wurde im Osten der Türkei geboren, ihre Kinder, 12 und 14 Jahre alt, in der Bundesrepublik Deutschland. Einen Mann gibt es nicht mehr. Sie arbeitet in einem Café, eine fröhliche, zierliche Frau, ihr Haar ist pechschwarz, eigentlich bereits grau oder weiß. Seit sie im Café arbeitet, ruhen unter Beeren-Muffins, Schwarzwälderkirsch Torte, Käsekuchen und Apfelstrudelscheiben, auch kurdische Plätzchen, Kulice, mit Walnüssen, Mandeln, Zimt und Zucker gefüllt. Ich weiß schon von der ein oder anderen wilden Geschichte, die sie erlebte, kurze Geschichten sind das, eilig während einer Tasse Kaffee erzählt, eigentlich kleine Romane, weil ich sie nicht vergessen kann, weil sie sich erzählen wie von selbst. Gestern ist eine weitere Geschichte hinzugekommen. Anisun berichtete, sie werde am kommenden Wochenende nach einem Weihnachtsbaum suchen wie jedes Jahr um diese Zeit, doch, doch, nach einem Weihnachtsbaum, in diesem Jahr sei sie spät dran, ja, ja, mit allem, was man sich denken kann, aber elektrische Kerzen, schon immer, seit die Kinder in die Schule gehen, komme ein Baum ins Haus, ja, wir sind Aleviten, auch die Kinder, aber immer haben wir Weihnachten gefeiert, man trifft sich, Freunde, Schwestern, Brüder, Onkel, Tanten, und kocht und freut sich, und die Kinder bekommen Geschenke, doch, doch, du brauchst dich nicht zu wundern, wir feiern gern, ja, ja, wir fürchten uns, eine Handvoll Furcht, es ist ein schlimmes Jahr gewesen, auch für uns Aleviten, das ist meine Heimat hier, und wieder fürchte ich mich, wir sprechen nicht viel darüber, wir hoffen, dass es nicht näher kommt. — stop