sierra : 15.08 – Heute Morgen, der Koffer lag bereits geöffnet auf dem Bett, konnte ich wieder das Wasser hören, wies sich in nächster Nähe bewegte. Hatte ein Ohr an eine Zimmerwand gelegt, da waren Stimmen, die sich mit dem Wasser unterhielten, gedämpfte Geräusche, Wörter, die ich noch nie zuvor vernommen hatte. War dann spazieren in den Schatten, habe Namen gesammelt, Türen und ihre Farben, die Gestalt der Treppen, der Briefkästen, der Fensterräume, Menschenspuren, durch alltägliche Bewegung der Jahrhunderte in die Steinhaut der Straßen eingetragen. Wilde Leitungen kreuzten von Haus zu Haus. Ich stellte mir vor, Schnüre ummantelter Luft, jedes Telefon sei mit weiteren Telefonen durch je eine eigene Leitung verbunden. Und da waren beleuchtete Christusfiguren an Häuserecken. Ein paar Jungs spielten Fußball gegen stärkste Neigung des Bodens, mit einem Ball, der ostwärts flüchten wollte. Am Hafen hockten Männer auf leichten Stühlen von Holz. Sie schaukelten Ruten über klarem Wasser, in dem kein Fisch zu sehen war. Lange Zeit der Beobachtung. Die Männer plauderten in ihrer weichen maltesischen Sprache, für einen Moment war mir gewesen, als ob sie durch Beschwörung, durch ihr Lachen, Fische erzeugten, die genau in dem Moment ihrer Entstehung sich in die wartenden Haken der Jäger verbissen, um auf der Stelle in die Luft gezogen zu werden, Fische mit silbernen Bäuchen, blauen Rücken, gelben Augen, Erfindungen, wie Wörter aus dem Nichts, die sich zu Linien formieren und bleiben. Dann weiter. — stop
Aus der Wörtersammlung: blau
malta : operation odyssey dawn
echo : 22.01 – Zu Fuß die Straße von Mdina rauf zu den felsigen Höhen, ihrem großartigen Blick südwärts über das Meer. Links und rechts der asphaltierten Straße, Felder, wie in Fächer gelegt von steinernen Wällen umgeben. In den Blättern der Kakteengewächse sitzen Schnecken in Höhlen und schmausen vom faulig gewordenen Fleisch. Was ich höre in diesen Minuten des Laufens ist der Wind, der sich an den Widerständen der wilden Landschaft reibt. Er scheint gegen die steilen Felsen, die schon in nächster Nähe sind, himmelwärts zu pfeifen, ein afrikanischer Wind an diesem Tag ein Mal mehr, ein Wind aus einem militärischen Operationsgebiet, das einen Namen trägt: Odyssey Dawn. Aber vom Krieg ist nichts zu sehen an dieser Stelle, in diesem Moment, da ich die Cliffs erreiche, wie mein Augenlicht sich zu einem Kameralicht verwandelt, wie das Land unter den Füßen weicht, wie ich für einen kurzen Moment glaube, abheben zu können und zu fliegen weit raus auf himmelblaue Wasserfläche, deren Ende nicht zu erkennen ist. Kein Flugzeug, kein Schiff, außer einem kleineren Boot, das auf dem Weg nach Misurata sein könnte, eingeschlossenen Menschen Mehl und Medikamente zu bringen. Tauben lungern im bereits tief über dem Horizont stehenden Licht der Sonne auf warmen Steinen, Eidechsen, grün und blau und golden schimmernd, sitzen erhobenen Kopfes und warten. Sie benehmen sich, als hätten sie noch nie zuvor ein menschliches Wesen gesehen. — stop
malta : 81er bus
echo : 22.05 – Sagen wir das so: Ich bin heute, an diesem sonnigen Montag mit dem Bus hin und her übers Land gefahren, mit einem 81er-Bus, mit Luca’s Bus, und zwar die Strecke von Valletta nach Rabat bis rauf zu den Dingli Cliffs, von wo man weit aufs Meer hinaus südwärts nach Afrika schauen könnte, wenn die Erde nicht rund wäre wie wir sie vorgefunden haben. Luca ist ein Busfahrer aus Leidenschaft. Er trägt ein blaues Hemd, seine Arme sind gebräunt wie sein Gesicht, rechts, von wo die Sonne kommt, etwas stärker als von links. 47 Cent kostet eine einfache Fahrt nach Rabat. Jeder, der hereinkommt, wird begrüßt: Welcome, welcome! Dann 15 Kilometer stetig dem Himmel zu, links und rechts der Straße, Spuren von Weizen, Tomaten, Kartoffeln, Inseln blühender Blumen, Mohn und Margeriten und Linien von Kakteenpflanzen, als seien Meereswellen zu fleischigen Blattkörpern gefroren für alle Zeit. Da und dort ein Dorf, Büsche, Orangenbäume, Windräder, Funkantennen. Nach einer Stunde kommt man dann an in Rabat oder Mdina, man weiß jetzt, dass man über einen Knochenkörper verfügt, und man ahnt, dass Luca seinen Weg noch finden würde, wenn er einmal blind geworden sein sollte. Luca sammelt Marienbilder wie ich Überraschungen sammle, Momente wie diesen, da Luca bemerkt, dass ich nicht aussteigen, dass ich wieder mit ihm zurückfahren werde, dass der Bus und er selbst für mich bedeutender sind, als Orte und Landschaft, die wir durchreisen. Jetzt darf ich ihn fotografieren und sein Armaturenbrett, Diesel, Diesel! Und ich darf ihm eine Frage stellen, ich wollte nämlich wissen, ob es für ihn denkbar ist, seinen Bus einmal bis hin unter die Decke mit Wasser zu füllen, ob er sich vorstellen könne, mit einem Bus voll lebender Fische über Land zu fahren. Luca’s Hupe, eine Lufttrompete. — stop
malta : fallschirmregen
nordpol : 16.22 – Aus heiterem Himmel setzt sich vor der Nationalbibliothek eine uralte britische Lady zu mir in den Schatten. Helle, faltige Haut, die sich mit dem Seewind über ihren dürren Körper hinzubewegen scheint. Sie trägt einen grünen Sonnenhut, gelbe Ledersandalen und einen langen beigefarbenen Rock; hellblaue Augen, Stecknadelpupillen, die mich fixieren, kein Lidschlag. Wo ich herkomme, will sie wissen, was ich da notiere, ob ich mit dem Internet verbunden sei. Indem sie mir zuhört, lehnt sie sich in ihren Stuhl zurück, um sich sofort wieder zu nähern, wenn sie selbst zu sprechen beginnt. Dass es ein Wunder sei, wie schnell die Deutschen nach dem Krieg wieder wohlhabend geworden sind. Ja, die Deutschen, sagt sie mit ihrer hellen Stimme, alles, was die Deutschen tun, machen sie gründlich. Einmal, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, regneten eines frühen Morgens Fallschirme auf die Ebenen Maltas herab. Sie hatten es nicht leicht mit der Landung, da waren überall steinerne Wälle zum Schutz vor dem Wind. Kurz darauf fielen Bomben auf den kleinen Ort Mosta. Wenn Sie Zeit haben, besuchen Sie Mosta, das müssen Sie unbedingt tun! Eine Bombe traf die Kirche, dorthin hatten sich hunderte Menschen geflüchtet, aber die Wände, das Gewölbe waren unbesiegbar gewesen. Eine weitere Bombe traf den Marktplatz und tötete ein Dutzend Hühner. Die alte Frau spricht jetzt langsam und präzise, als erwartete sie, dass ich ihre Erzählung Wort für Wort im Kopf mitschreiben würde. Eine ihrer Schwestern sei verwundet worden, ein Splitter habe den Onkel, der sich auf sie geworfen habe, glatt durchschlagen. Ihr Vater habe dann ein Zelt im Haus für die Familie errichtet, weil das Haus sein Dach verloren hatte durch den Luftdruck, als ein benachbartes Grundstück einen Volltreffer erhielt. Es ist schon ein Wunder, sagt sie und lächelt, es ist schon ein Wunder. - stop
alesund
romeo : 22.58 — Plötzlich bin ich in Alesund am Meer. Meine Arme liegen traumwärts auf einem Tisch von Holz. Bäume wachsen auf ihrer Haut, Regenwälder, dicht. Wenn ich mich mit einem Ohr nähere, hör ich das Brüllen der Affen, das Singen der Vögel. Blaues, ewiges Licht. Die Erde steht still. Ein schneeweißes Schiff gleitet geräuschlos am Pier vorüber. Eisberge schaukeln am Horizont. Wenn ich sie betrachte, schlafe ich auf der Stelle ein. — stop
luftteilchen
romeo : 6.02 — Wie mich das begeistert, Details einer Geschichte nachzudenken, feinsten Teilchen einer Wirklichkeit, die später einmal unsichtbar sein werden in der Zeichenlinie auf Papieren, nur für mich wahrnehmbar im Moment der Erfindung. Ein Duft. Ein Geräusch. Die Farbe der Wolken über einer Landschaft. Oder eine Bewegung. Die Bewegung einer Hand, eines Mundes, einer Schrift. Das Murmeln einer Stimme im Schlaf. Gestern habe ich darüber nachgedacht, welcher Art ein Geschenk sein könnte, das ich mit mir nehmen würde, wenn ich ein befreundetes Ehepaar besuchte in seiner wohlgestalteten Wohnung, die eine menschliche Wohnung ist, aber eben vollständig mit Wasser gefüllt. Ich dachte, dass ich ihnen eine Schmuckschnecke zum Geschenk machen sollte, ein ganz besonderes Exemplar von der Größe einer Hand, das nun über die Wände der unterseeischen Behausung gleiten und musizieren würde, warme, leise pfeifende Geräusche. Diese freundliche Molluske könnte von innen her blau beleuchtet sein, so weit lässt sich das gut denken. Wie aber verpacke ich mein Geschenk, ja, wie zum Teufel lassen sich 2 Pfund Süßwasserschnecke artgerecht verschnüren? — stop
an der nachtzeitküste
ginkgo : 6.00 – Flughafen. Terminal 1. Drei Uhr und fünfzehn Minuten. Ich stoße auf Charlie, 36, Arbeiter. Der Mann, der in Togo geboren wurde und lange Zeit dort gelebt hatte, sitzt unter schlafenden Reisemenschen an der Nachtzeitküste. Er sieht seltsam aus an dieser Stelle, ein Mann, der in seinem Leben noch nie mit einem Flugzeug reiste, stattdessen in Zügen, Bussen, Schiffen durch den afrikanischen Kontinent Richtung Europa geflüchtet war, ja, merkwürdig sieht Charlie aus, wie er so unter schlummernden Nordamerikanern, Usbeken, Chilenen, Japanern, Neuseeländern sitzt. Er trägt Sicherheitsschuhe, ein kariertes Holzfällerhemd und Hosen von kräftigem Stoff, mit Katzenaugen besetzte dunkelblaue Beinkleider, die in jede Richtung reflektieren. Nein, unsichtbar ist Charlie, auch im Dunkeln, sicher nicht. Er macht gerade Pause, trinkt Kaffee aus einer schreiend gelben Thermoskanne und genießt ein Stückchen Brot und etwas Käse, den er aus einer Dose fischt. Sorgfältig kaut er vor sich hin, nachdenklich, vielleicht weil er sich auf ein Spiel konzentriert, das er seit Jahren bereits an dieser Stelle wartend studiert. Charlie tippt Lotto. Charlie ist ein Meister des Lottospiels, Charlie spielt mit System. Er hat noch nie verloren. Er hat noch nie verloren, weil er noch nie einen wirklichen Cent auf eine der Zahlenreihen setzte, die er in seine Notizbücher notiert. Charlie ist ein beobachtender Spieler, Vater von fünf Kindern, immer ein wenig müde, weil er eben ein Nachtarbeiter ist. Wenn ich mich neben ihn setze und ihm zusehe, wie er mit einem roten Kugelschreiber Zahlenkolonnen in seine Hefte notiert, freut er sich, macht eine kleine Pause, erkundigt sich nach meinem Befinden, und schon schreibt er weiter, analysiert, rechnet, sucht nach einer Formel, die seine Familie zu einer reichen Familie machen wird. Einmal frage ich Charlie, ob er noch Briefe schreiben würde an seine Eltern in Lomé. Ja, sagt Charlie, jede Woche schreibe er einen Brief an seine Eltern, die am Meer leben, am Atlantik nämlich. Ein andermal will ich wissen, warum er nicht einen Computer einsetzen würde, um vielleicht schneller finden zu können, was er sucht. Charlie lacht, sieht mich an durch kräftige Gläser einer Brille, sagt, dass er wisse, wie bedeutend Computer seien für die Welt, in der wir leben, seine Kinder spielten mit diesen Maschinen, für ihn sei das aber nichts. Und sofort schreibt er weiter. Eine ruhige, klare Schrift. Rote Zeichen. In diesem Moment begreife ich, dass ich einer Beschwörung beiwohne, einem Gebet, Malerei, einer Komposition, der allmählichen Verfertigung der Idee beim Schreiben. Hermann Burger — stop
kairobildschirm
sierra : 6.28 — Regen, erste Milde des Jahres. Ein Freund, arabischer Jazzmusiker und stark wie ein Bär, erzählte vor wenigen Stunden, er sei versucht gewesen, während der Rede Husni Mubaraks am Donnerstagabend, sein Fernsehgerät zu zertrümmern. Kann ich nun von einem Wunder sprechen, dass in der zurückliegenden Nacht in den Straßen Kairos nicht rasende Gewalt ausgebrochen ist? Merkwürdig der Augenblick, als sich nachmittags über den hellblauen Himmel der riesigen Stadt ein Hubschrauber fortbewegte, sandfarben und so klein, dass er kaum noch sichtbar gewesen war, ein Luftfahrzeug, in dem sich vielleicht ein Menschendespot befand, von dem ich nicht sagen kann, ob er je verstehen wird, was geschehen ist. Kurz darauf das Beben des Bodens, seismografisch messbar unter Tausenden tanzender Füße, die ihre Schuhe wieder tragen. Auf meinem Fernsehbildschirm erweist ein General mit einer irritierenden militärischen Geste den Opfern des Aufstandes seine Ehre. — stop
luftpostbrief
lima : 0.55 — Manchmal sitze ich im Zug und fotografiere mit meinem Kopf. Ich betrachte eine Frau, einen Mann, ein Kind für zwei oder drei Sekunden, und versuche mir bereits in der nächsten Minute ein Lichtbild in Erinnerung zu rufen. Ich denke: blauer Schal, Hände, feine Hände, Augen blau, Augen müde, Augen glücklich, blau und müde, Turnschuhe, gelbe Turnschuhe, Zeitung, was für eine Zeitung, Haarfarbe, Schneehaut, Mund, lächelnder Mund, hörte eine fremde Sprache, was für eine Sprache könnte das gewesen sein? Ich sitze also mit einem Bild in meinem Kopf im Zug und lausche einer Stimme. Das Bild spricht. Das Bild lebt weiter. In jedem Bild, das in einem Zug aufgenommen wird, findet sich Bewegung, jene Stimmbewegung vielleicht, oder bereits die Bewegung der Erfindung. Weshalb waren die Augen müde und ihr Ausdruck glücklich? Eine Liebesgeschichte? Oder war es die Zeitung? Ja, was war das noch für eine Zeitung? Vielleicht ein Irrtum, vielleicht war die Zeitung keine Zeitung, sondern ein Brief gewesen, ein lang erwarteter Brief, ein Brief, liebevoll von Hand geschrieben, ein Luftpostbrief, leicht, sehr leicht, ein Brief, noch kühl vom Flug. stop. Das Geräusch des Papiers. stop. Knisternd. stop. Aufstehen! stop. Den Zug verlassen! stop. Mit geschlossenen Augen. — stop
interview tahrir square februar 2011 kurz vor ausbruch staatlicher gewalt gegen aktivisten/innen auf dem platz source : zero silence project
nachtvogel
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : NACHTVOGEL
Eine merkwürdige Novembernacht neigt sich dem Ende zu. Ich habe, liebe Daisy, liebe Violet, in den vergangenen Stunden mehrfach den Versuch unternommen, einen Vogel von blauem Gefieder, der ein paar Runden durch meine Wohnung geflogen war, aufzufangen, das heißt, meine Hände in einer Weise darzubieten, dass der Vogel auf ihnen landen konnte, ohne auf den Boden zu fallen. Ich dürfte eine kuriose Erscheinung gewesen sein, wie ich mich verrenkte, wie ich dem Vogel folgte, wie ich Geräusche machte, als könnte ich in der Sprache der Vögel sprechen. Und jetzt ist es bald fünf Uhr und der Vogel ist immer noch hier. Er flattert herum, ein ausdauerndes Geschöpf von der Größe eines Tennisballes, orangefarbene Augen, gelber Schnabel, ein sehr besonderes Wesen, weil es sich um einen Vogel ohne Füße handelt. Sicher werdet Ihr Euch fragen, wie es möglich sein kann, dass der Vogel ohne seine Füße überleben konnte, dass er nicht längst in irgendeiner Ecke zerschellte, und überhaupt, wie es dazu gekommen war, dass der Vogel seine Füße verlor. Das alles liegt noch völlig im Dunklen. Ich habe keine Ahnung, nicht die geringste Vorstellung, sodass ich nun warten muss, solange warten, bis mir etwas einfällt, das noch fehlt, um vollständig werden zu können. Wie geht es Euch überhaupt? Denkt Ihr noch an die Frage, die ich Euch unlängst stellte? Ich wollte wissen, ob Ihr dort Oben für die Ewigkeit noch immer leiblich miteinander verwachsen seid? – Euer Louis, sehr herzlich, wünscht einen guten Tag!
gesendet am
11.11.2010
5.05 MESZ
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