romeo : 16.25 — Mit einer jungen Ärztin im Gespräch über Menschen, die sich aus modischen Gründen von kleineren Teilen ihrer Wangen trennen, um sie durch edelste Hölzer zu ersetzen, je nach Teint, stellte ich mir vor, hellere oder etwas dunklere Materialien, die man polieren kann, die glühen wie die Substanzen feiner Pfeifenköpfe. Ich erzählte diese Gedankengeschichte bei einer Tasse Schokolade, rückte mit meiner Fantasie langsam vorwärts, weil ich erwartete, sie würde vielleicht aufspringen und sich entfernen wollen. Stattdessen stellte sie die Frage, ob man die Materialien des Waldes, über die ich nachgedacht hatte, als Schmuckware betrachten sollte, die im Fleisch des Körpers schwimmen würde, oder eher um Bojenkörper, welche mit einem der Gesichtsknochen verbunden sein müssten. Sie machte eine kleine Pause und noch ehe ich antworten konnte, stellte sie nüchtern fest: Die Ränder der Natürlichkeit sind ein Problem. stop. Kurz nach vier Uhr und fast schon dunkel. Seit einer Stunde Regen. Er kommt in einer Weise vom Himmel gefallen, dass ich ihn wieder hören kann. — stop
Aus der Wörtersammlung: essen
schlafen in turku
echo : 8.28 — Ist Ihnen vielleicht bekannt, dass Wale, Pottwale genauer, wenn sie schlafen, Kopf nach oben im Wasser schweben? Langsam sinkende Türme, leise singend, leise knatternd, friedvolle Versammlungen, die mit dem Golfstrom treiben. Wenn Sie einmal wach liegen sollten, wenn Sie nicht schlafen können, weil Sorgen Sie bedrängen oder andere schmerzvolle Gedanken, wird es hilfreich sein, eine Tauchfahrt zu unternehmen im Kopf durchs Bild der träumenden Wale. Oder Sie reisen an die Ostsee, nehmen die nächste Fähre nach Turku. Sie werden dann schon sehen. Ballone, zum Beispiel, Ballone werden Sie sehen am Horizont, Ballone am dämmrigen Himmel, dort müssen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu erreichen, eine Stunde oder zwei, nicht länger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwarten, man wird Sie freundlich begrüßen, man wird Sie fragen, wie lange Zeit Sie zu schlafen wünschen, welcher Art die Dinge sind, die Sie zu vergessen haben, die Sie beschweren. Man wird Ihren Blick zum Himmel lenken und Sie werden erkennen, dass unter den Ballonen Menschen schweben, aufrecht und reglos, in Daunenmäntel gehüllt, von einem leichten Wind hin und her geschaukelt, hunderte, ja tausende Menschen. — - Stille herrscht. — - Nur das Fauchen der Feuermaschinen von Zeit zu Zeit. – Guten Morgen! Heute ist Dienstag oder Mittwoch oder Samstag. Auf nach Turku!
lichtwellensegel
romeo : In der vergangenen Nacht war ich begeistert in Chicago auf dem Bildschirm. Ich hatte deshalb keine Zeit, einen Text zu schreiben oder über einen Text nachzudenken. Will nun stattdessen ein kleines Stück zitieren, das ich im Oktober des vergangenen Jahres bereits notierte, als ich sehr glücklich gewesen war. Folgendes: Man stelle sich einmal ein Zimmer vor, ein freundliches, helles Zimmer von allerfeinster Quallenhaut, von Wasser, von Salz, von Licht. Man könnte dieses Zimmer, und alles, was sich im Zimmer befindet, das Quallenbett, die Quallenuhr, und all die Quallenbücher und auch die Schreibmaschinen von Quallenhaut, trocknen und falten und sich 10 Gramm schwer in die Hosentasche stecken. Und dann geht man mit dem Zimmer durch die Stadt spazieren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaffeehaus und wartet. Man sitzt also ganz still und zufrieden unter einer Ventilatormaschine an einem Tisch, trinkt einen Becher Kakao und lächelt und ist geduldig und sehr zufrieden, weil niemand weiß, dass man ein Zimmer in der Hosentasche mit sich führt, ein Zimmer, das man jederzeit auspacken und mit etwas Wasser, Salz und Licht, zur schönsten Entfaltung bringen könnte. – Null Uhr acht: Haben wir noch alle Tassen im Schrank? — stop
callas box
alpha : 8.02 — Gestern Abend die Arbeiten an Callas Box 2.0 aufgenommen. Suchte zwei Stunden einen Zugang zur Struktur seltsamer Codes, die ich vor Jahren notierte. — Früher Morgen jetzt. Erste Straßenbahnen kreuzen vor dem Fenster. Vom Dach her, durch den Kamin getragen, das Gespräch der Tauben. Für einige Stunden habe ich die schwere Mechanik der Zeit vergessen. — stop
=
echo : 8.58 — v e n o l e n g e f ä ß
mumbai — darjeeling
echo : 8.55 — Das 8‑jährige Mädchen Puja in dem Dokumentarfilm Geboren im Bordell, von dem man berichtet, dass es in seinem Leben noch nie Nein gesagt haben soll. Ein düsterer Ort an dem Puja lebt, orangefarbene, von Fliegen umschwirrte, rußige Glühbirnen, eine vollkommen überfüllte Wohnung, Schmutz, der Lärm der Freier Tag und Nacht. Und doch gibt es etwas in Pujas Leben, das ihr Freude bereitet. Sie besitzt einen Fotoapparat. Sie geht mit ihm auf die Straße und fotografiert Passanten. Das sind feine Aufnahmen, die Puja macht, kein fotografierter Mensch wird böse, sobald sich der merkwürdige Fotoapparat Pujas auf sie richtet. Da steht ein kleiner Mensch in einem roten Kleid, dessen Kopf sich in eine Maschine mit zwei Augen verwandelt. — Mitternacht. stop. Während ich arbeitete an einer kleinen Geschichte über Billy, den Kentaur, seltsame Stille. Kein Laut von draußen, drinnen nur das sehr langsame Klappern der Tastatur. Jetzt sanfte Gedanken pflegen, Musik hören, ins Café gehen, dann die Vorbereitung einer Reise nach Indien irgendwann wieder einmal aufnehmen: Mumbai – Darjeeling in Zügen.
wasser
echo : 2.15 — Seit Stunden die Fenster weit geöffnet, und obwohl ich einen Pullover tragen muss, um nicht zu frieren, halte ich die Nacht da draußen für eine Sommernacht. Es ist jetzt zwei Uhr und fünfzehn Minuten. Soeben habe ich Joseph Brodskys feinsinniges Venedig Buch Ufer der Verlorenen auf den Tisch gelegt, um eine Passage daraus abzuschreiben. Als ich die Tastatur in eine günstige Position rückte, sehe ich gerade noch, wie meine Springspinne zwischen zwei Tasten verschwindet, weshalb ich zunächst nicht wagte, auch nur ein Zeichen einzugeben, um sie nicht vielleicht zu verletzen oder gar zu töten. Habe das kleine weiße Klavier dann über dem Schreibtisch herumgedreht und etwas geschüttelt und wenn ich mich nicht täusche, ist mein Freund unter dieser unerwarteten Bewegung herausgefallen. Natürlich bin ich mir nicht ganz sicher, die Spinne ist sehr schnell, und deshalb schreibe ich diese und die folgenden Zeilen sehr behutsam, in einer Weise, sagen wir, die Joseph Brodskys genauer Beobachtung und seinem präzisen Ausdruck angemessen ist. Über den Geruch schreibt er das Folgende: Ein Geruch ist schließlich auch eine Verletzung des Sauerstoffgleichgewichts, ein Einbruch anderer Elemente – Methan? Kohlenstoff? Schwefel? Stickstoff? Je nach Intensität dieser Beimischung erhältst Du einen Duft, einen Geruch, einen Gestank. Es ist eine Frage von Molekülen, und Glück, so nehme ich an, ist der Augenblick, wenn Du die Elemente Deiner eigenen Zusammensetzung im freien Raum gewahrst. Davon gab es eine beträchtliche Anzahl da draußen, im Zustand totaler Freiheit, und ich spürte, dass ich in der kalten Luft in mein eigenes Selbstportrait hinaustrat.
sirius
kilimandscharo : 0.28 — Gegen Mitternacht stehe ich im Arbeitszimmer, hebe beide Arme, mache Flügel, weil ich darüber nachdenke, wie es wäre, gewichtslos zu sein. Ich habe mir vorgestellt, dass man vielleicht einmal auf die Idee kommen wird, Menschen zu erfinden, die ohne Knochen sind, weil sie Knochen nicht benötigen, weil sie ohne jede Schwere im Weltraum existieren auf großer Fahrt. Diese Menschen würden von einer kräftigen Haut begrenzt, legten sich vielleicht in wabenförmigen Strukturen zur Ruhe, wären faltbar und weich wie Medusen. Wenn sich zwei dieser Medusenmenschen in einem schwerelosen Raum begegneten, würden sie sich in einer Zartheit umschmeicheln, die uns Knochenmenschen grundsätzlich fremd ist, weil wir in der Begegnung, auch in der Liebe, gewohnt sind auf Widerstände stoßen zu wollen, auf Gegenwehr, auf eine Festigkeit, die wir benötigen, um sagen zu können, das bin ich und das bist Du. Ist das nicht ein bezaubernder Film, wie sich nahe des Siriussternes zwei uralte Medusenwesen durch einen Tango atmen, wie sie verliebt ihre pulsierenden, ihre lichtdurchlässigen Lungen betrachten? Wie könnten diese Wesen bekleideten sein, welche Bücher würden sie lesen, welche Musik würde sie in glückliche Schwingung versetzen, was werden sie essen, was werden sie trinken, was werden sie einmal von mir denken, wenn sie lesen, was ich heute Nacht bereits für sie aufgeschrieben habe? — stop
radar
echo : 0.05 — Ist es vielleicht möglich, mit einer sehr feinen Waage zu messen, um wie viele Pikogramm mein Gehirn schwerer geworden ist, weil ich Ray Loriga gelesen habe? Wird eventuell mein Gehirn leichter, wenn ich ein Telefonbuch auswendig lerne? Wie viel wiegt die Nachricht auf dieser Welt, dass Zeng Jinyan ( Bürgerrechtlerin / Peking ) verschwunden ist? — stop
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop