echo : 5.05 — Ob ich etwas tatsächlich weiss, ist nicht bedeutend. Wirklich bedeutend ist, ob ein elektronisches System, das sich meiner Zeichen bemächtigt haben könnte, annimmt, dass ich von etwas oder jemandem Kenntnis habe, das oder der als geheim, beziehungsweise gefährlich zertifiziert werden müsste. Vor Jahren, auch heute, immer wieder die Frage: Wie mutig wäre ich im Widerstand gegen den geheimdienstlichen Zugriff einer Diktatur auf meine Person? Wie genau würde ich mich verhalten, wenn man versuchte, mich für Spionagearbeit unter Freunden zu gewinnen? Ich bin in der Suche nach einer Antwort noch keinen Schritt vorangekommen. Stattdessen weitere Fragen. Welcher Art könnten die Werkzeuge sein, Druck auf mich auszuüben? Würde mir Tortur angekündigt oder nahestehende Menschen mit dem Tod bedroht? Existieren Orte meiner Persönlichkeit, die sich als so schwach erweisen, dass man dort Zugang finden könnte? Habe ich einen geheimen Preis? Meine Schreibmaschine? Meinen Reisepass? — stop
Aus der Wörtersammlung: gefährlich
von turku nach kalkutta
nordpol : 5.38 — In der vorletzten Nacht habe ich ein Versprechen eingelöst, das ich mir selbst vor einigen Monaten gegeben habe: Du solltest jeden Text, den Du an dieser oder anderer Stelle veröffentlichen wirst, lesen Wort für Wort. Das ist, möchte man meinen, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, nicht aber, wenn man Textpassagen von erheblichen Ausmaßen publizieren möchte, die von einer weiteren Person oder von einem Computerprogramm aufgeschrieben worden sind. Es handelt sich in diesem Fall um eine Wegbeschreibung, die Strecke führt uns von Turku nach Kalkutta über Land, und zwar zu Fuß. Um kurz nach Mitternacht nahm ich die Lektüre auf, verfolgte meine virtuelle Bewegung mit einem Finger auf meinem Globus, den Tauben nachts in aller Ruhe gern betrachten, wenn sie vor dem Fenster sitzen. Ich nehme an, sie werden die leuchtende Erdkugel für den Mond halten oder für die Sonne. Es war tatsächlich nahe Sonnenaufgang als ich mit meiner Lektüre fertig wurde. Ich weiss nun, dass jene von der Computermaschine vorgeschlagene Strecke, nicht nur beschwerlich werden könnte, vielmehr auch gefährlich sein würde. Lesen sie selbst: Zu Fuß 7.960 km, 1.599 Std.Turku, Finnland nach Kalkutta, Westbengalen, Indien /// Turku Finnland : > Nach Südwesten Richtung Universitetsgatan / Yliopistonkatu 61 Links abbiegen auf Universitetsgatan / Yliopistonkat 18 m Links abbiegen auf Auragatan / Aurakatu 400 m Weiter auf Aurabron/ Auransilta 110 m Weiter auf Kaskenkatu / Kaskisgatan 800 m Weiter auf Kaskentie / Kaskisvägen 1,0 km Weiter auf Nylandsgatan / Nylandsvägen / Uudenmaantie / Route 110 Weiter auf Route 110 10,2 km step by step >
im zug
nordpol : 0.02 — Oder aber ich hebe meinen Blick vom Bildschirm meiner Schreibmaschine. Ich beobachte wiederum in einem Nachtzug reisend einen Film, der vom Überleben in der Stadt Aleppo erzählt. Plötzlich glaube ich zu erkennen, wie ein Mann im Zug mit einer Pistole um sich schießt. Menschen flüchten und fallen um. Ich werde in die Schulter getroffen, und ich denke noch, ich sollte wütend werden, es wäre gut, wenn man ein Löwe zu werden wünscht, wütend zu sein. Einmal stehe ich auf, im Zug herrscht noch Frieden. Ein älterer Mann wirft in diesem Moment mit Wucht einen Blick auf mich: Bist Du gefährlich? Es ist kein angenehmer Blick, es ist ein kalter Blick, den man nicht befragen kann, weil man weiß, dass man keine korrekte Antwort erhalten würde. Auch so herum ist das also möglich. Seltsame Gedanken. — stop
louis im gebirge
nordpol : 0.02 — Wieder während der Nacht lange sitzen. Nichts tun. Nur atmen. Gegen zwei Uhr Abstieg über eine steile Treppe aus der Kammer unter dem Dach, wo im Winter Tauben wohnen. Die Stufen der Treppe knarren bei jedem Schritt, seufzen, sprechen. Auf dem steilen, gefährlichen Pfad in der Nähe des Abgrunds vor der Hütte leichter, kühler Höhenwind. In den Bäumen Geräusche, als würden die Vögel murmeln im Schlaf. Es ist aber deshalb, weil es nie wirklich dunkel wird unterm Himmel voller Sterne. Stundenlang kann man sich von hier aus über das Nahen des Morgens streiten. Wie ich zurückkomme, Licht weit oben, ein kleines Fenster, alle weiteren Fenster sind ohne Licht. Plötzlich bin ich wieder bei mir, trete in die Kammer, die vor Kurzem noch ohne mich gewesen ist. Mein Heft auf dem Tisch. Draußen, von den Wiesen her die Nachtglocken der Kühe, leise, leise. Ich notiere: Beobachtete unlängst eine japanische Reisende, die im Flughafensupermarkt mit ihrem Mobiltelefon 1 halbe Stunde lang Schokoladenengel filmte. — stop
louis im
gebirge
22. mai
2016
marthageschichte
echo : 5.12 — Martha ist 76 Jahre alt. Seit 18 Jahren trinkt sie Likör. Schon am frühen Morgen beginnt sie damit. Sonst nimmt sie wenig zu sich. Die Luft riecht süßlich um sie herum. Aber sie ist gut gepflegt. Und umgefallen ist sie auch noch nie. Nachmittags um 3 fährt sie an den Bahnhof. Das ist die Zeit, da für sie der Abend beginnt. Sie hat dort einen festen Platz. Gleis 15 sitzt sie auf einer Bank. Früher war ihr Stammplatz auf Gleis 8. Jetzt fahren auf Gleis 8 die schnellen Intercityexpresszüge ein und aus, man hat Martha von höherer Stelle aus gebeten, sich auf Gleis 23 auf eine vergleichbare Bank zu setzen. Aber das ist ein Rangiergleis, dort ist nichts los, außer ein paar Junkies, und die sind Martha zu gefährlich. Also sitzt sie auf Gleis 15., man könnte ihre Wahl als einen Kompromiss bezeichnen. Im Sommer trägt Martha Kostümchen. Sie ist gern bunt gekleidet. Wenn es doch nicht immer so drückend und heiß wäre. Die Beine werden ganz dick davon, und die Füße wollen sich den Schuhen nicht länger fügen. Manchmal geht sie ein paar Schritte auf und ab. Martha setzt vorsichtig Fuß für Fuß. Dann lässt sie sich wieder nieder und nimmt sich ein Gläschen voll zur Brust, macht einen kleinen See in das Täschchen ihrer Unterlippe, Karamellgeschmack, den liebt sie sehr, auch Anis und Schokocreme, die blauen Bols mag sie gar nicht. Sobald sie sich wieder gut fühlt, beginnt sie Papiere zu falten, die sie aus ihrer Handtasche nimmt. Sie faltet Himmel und Hölle. Wenn ein Kind auf dem Bahnsteig vorüber kommt, verschenkt sie das Spiel. Mit diesem Spiel habe ich mir früher immer die Zeit vertrieben, sagt sie, da war ich so alt wie du. Oft zerren die Mütter ihr Kind von der alten Martha weg, weil Kinder das alles nicht so genau nehmen. Und Martha sagt: Ich habe in Landau gewohnt. Im Garten hatten wir einen Birnbaum. Im Sommer haben wir Himbeeren gepflückt. Der Keller war dunkel und die Treppe steil. Einmal bin ich die Treppe in Landau heruntergefallen. So erzählt Martha immerzu fort, wie sie im Keller Geister entdeckte, oder von den Schnapsfläschchen im Regal ihres Vaters. Zu diesem Zeitpunkt ist der Zug mit dem Kind längst abgefahren. Sie holt sich jetzt ein weiteres Gläschen vor den Mund, dann ein neues Blatt aus ihrer Handtasche, entweder ist es ein rotes, ein gelbes oder ein blaues. — stop
the look of silence
papa : 0.45 — Als ich gestern Abend den außergewöhnlichen Dokumentarfilm The Look of Silence betrachtete, ist etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Meine Schnecke Esmeralda stürzte nämlich aus 1 Meter Höhe von der Wand auf den Fußboden, woraufhin ich die Schnecke vorsichtig in die Hände nahm und nach möglichen Schäden suchte. Als ich die Schnecke kurz darauf wieder vor die Wand setzte, als Esmeralda nach weiteren 2 Minuten erneut von der Wand stürzte, stoppte ich den Film und überlegte, ob meine Schnecke möglicherweise krank geworden sein könnte. Indessen kletterte Esmeralda, wie unter einem Zwang, zum dritten Mal die Wand hinauf, diesmal jedoch fiel sie nicht auf den Boden zurück. Besorgt verfolgte ich ihre Bewegung mehrere Minuten lang, alles ging solange gut, bis ich die Betrachtung des Filmes fortsetzte. Nach einigen weiteren Versuchen ist nun Folgendes zu berichten. Esmeralda reagiert scheinbar auf Geräusche, die der Film erzeugt. Ich nehme an, meine Schnecke wird von Rufen der Zikaden, welche im Film immer wieder über längere Zeit zu hören sind, müde, sie schläft ein, sie vergisst sich sozusagen, ihre Lage an der Wand, die gefährliche Tiefe unter ihr. Eine erstaunliche Beobachtung. Ich habe bisher noch nicht darüber nachgedacht, ob Schnecken über ein Hörvermögen verfügen, es ist denkbar, dass Schnecken über ein Körperhautohr gebieten. — stop
schnee
olimambo : 2.22 — Ich hörte das Geräusch einer scheppernden Glocke, ein Klingeln oder metallenes Hupen. Ich dachte, irgendjemand wollte mich wecken, obwohl ich doch bereits wach geworden war. Ich spazierte zunächst in die Küche. Das Geräusch wanderte mit. Plötzlich erinnerte ich mich, woher ich das Geräusch kannte, ich hatte über das Geräusch schon einmal notiert. Ich erinnerte mich zunächst an meinen Text und dann an den Ursprung des Geräusches, das ich hörte, oder war es vielleicht genau anderherum gewesen? Das Geräusch meiner Erinnerung kam von einem Glöckchen her, das am Weihnachtsabend hinter einer Tür von meinem Vater durch heftige Bewegung zum Klingen gebracht worden war, ein vertrautes, jährlich wiederkehrendes Geräusch. Einmal bekam ich ein Radio geschenkt. Das Radio war das erste Radio meines Lebens gewesen, ein Transistorempfänger, handlich und doch sehr schwer. Ich weiß nicht weshalb, ich öffnete das Radio mit Hilfe eines Schraubenziehers, ich zerlegte die kleine Apparatur in ihre Einzelteile und wunderte mich. Ein Jahr darauf bekam ich einen Fotoapparat, den ich am darauffolgenden Tag wie zuvor das Radio öffnete und auf das genaueste untersuchte, im Frühling zählte ich Vögel, im Sommer durchsuchte ich das Unterholz nach Knochen von Hasen und Rehen, um sie in meinem Zimmer auf dem Schreibtisch so zu konfigurieren, dass ich sie mir vorstellen konnte. Es ist merkwürdig, wie Geräusche über große Zeiträume hinweg wiederkehren, als wären sie gerade erst in der Wirklichkeit abgespielt worden. Es lässt sich nicht überprüfen, aber sie scheinen sich tatsächlich nicht verändert zu haben, sind unteilbare Wesen. Heute Schnee, sehr leise. — stop
zwergdrache
marimba : 2.24 – Ort: Upper Bay von New York. Zeit: Sommer 1958. Auf einem Fährschiff, dessen Name ich nicht ermitteln konnte, steht am Heck ein Junge im Alter von ungefähr 12 Jahren. Es ist früher Nachmittag, die Schule vermutlich gerade vorüber, der Junge fährt mit dem Schiff von Manhattan nach Hause. Er trägt Halbschuhe, ein helles Hemd, eine Krawatte und ein dunkles Jackett, seine Schultasche lehnt an einem Pfeiler, der für schwere Schiffstaue vorgesehen ist. Im Hintergrund, am Horizont, sind Kräne zu erkennen, die wie eiserne Vögel auf stelzenartigen Füssen stehend, zu warten scheinen. Einige Meter über dem Jungen schwebt eine Möwe, auch sie ist, wie der Junge selbst, reglos in einer Schwarzweißfotografie gefangen. Zwei ältere Personen, eine Frau in einem hellen Kleid, und ein Mann, der einen dunklen Anzug trägt, lungern auf einer Bank. Sie küssen sich gerade auf den Mund, sind vielleicht eigentliche Ursache der Fotografie, der Junge, der gefährlich nah an der Kante zum Wasser steht, ist also möglicherweise versehentlich mit auf das Bild geraten. Eine Hand des Jungen ist nach vorne hin ausgestreckt, es ist seine linke Hand, während seine rechte Hand einen Faden, so fein, dass er kaum noch sichtbar ist, um diese linke ausgestreckte Hand wickelt, als wäre sie eine Spule. Der Junge scheint im Moment der Aufnahme mit seiner Arbeit des Wickelns beinahe fertig geworden zu sein, das Ende des Fadens wird bereits sichtbar, ein kleiner Drache von Papier ist dort befestigt, ein Drache nicht länger als zehn Zentimeter und nicht breiter als sechs Zentimeter, ein Zwergdrache, in der einfach gekreuzten Form der Kinderdrachen, dessen Körper mit Seidenpapier bespannt gewesen sein könnte, unbekannte Farbe, vielleicht blau, vielleicht gelb. Eine erstaunliche Entdeckung. Zweiter Blick. – stop
olkiluoto
romeo : 0.01 — Im Dokumentarfilm Into Eternity aus dem Jahr 2010 eine äußerst spannende Frage entdeckt: Ob vielleicht das Endlager für Atommüll Onkalo, auf der finnischen Halbinsel Olkiluotoi gelegen, welches um das Jahr 2100 herum für alle Zeit versiegelt werden wird, an Ort und Stelle vorsichtig markiert oder aber in einen Zustand versetzt werden sollte, dass es von Menschen vergessen werden könnte? Ein vielstimmiger Text geht dieser Frage nach: Ja, es existiert einerseits der philosophische Ansatz, dass es sinnvoll wäre, das Atommülllager Onkalo zu vergessen, eine Entdeckung wäre demzufolge nur durch Zufall denkbar. Wie aber ist es möglich Vergessen zu organisieren? Anderseits könnte man das Endlager markieren. Ein nahe liegendes Modell wäre ein Stein mit einem Text darauf in geläufigen Sprachen der UN, je mit Hinweisen auf weitere Marker mit je weiterführenden Informationen bis hin zu einer steinernen Bibliothek, die in unterirdischen Räumen angelegt werden könnte. Hauptbotschaften sind: Dies ist ein gefährlicher Ort, bitte stört die Ruhe dieser Anlage nicht! Bildsprache käme nun ins Spiel, drastische Symbole oder abweisend gestaltete Landschaften, welche allerdings nicht zwingend wirkungsvoll sein werden. In Norwegen existiert ein uralter Stein, dessen Unterseite mit einer Runeninschrift versehen war: Do not move. Diese Warnung wurde von neuzeitlichen Archäologen komplett ignoriert. Wenn wir die Zeit spiegeln und 100000 Jahre in die Vergangenheit blicken, müssen wir einsehen, wir haben mit unseren Vorfahren, den “Neandertalern”, sehr wenig gemein. Es könnte sein, dass Menschen der Zukunft, die auf das Lager stoßen, über eine ganz andere Erscheinung verfügen, über andere Sinne und Bedürfnisse als menschliche Wesen unserer Zeit. Die Frage ist völlig offen, ob ein vernunftbegabtes Wesen in Zukunft irgendetwas sinnvoll interpretieren könnte oder wollte. In aller Kürze: Niemand weiß irgendetwas! Es ist existiert die Notwendigkeit einer Entscheidung trotz Unwägbarkeit. Man muss zu diesem Zeitpunkt sagen, was man weiß, und man muss sagen wovon man weiß, dass man es nicht weiß, und auch wovon man nicht weiß, dass man es nicht weiß. — stop
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hong Kong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuss auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herum gekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop