romeo : 6.15 — Das warme Licht, das im Holz der Kontrabässe brennt, ein Glühen, in das ich vernarrt bin, soweit ich zurückdenken kann? Die Schuhe eines uralten Bassisten, wie sie vor dem kleinen Jungen sehr fest auf dem Boden einer Kellerbühne stehen, während die Welt drumherum aufgewühlt ist, schwarze, spiegelblanke Schuhe, und irgendwo, weit oben am Schneckenturm, dunkle Hände, die wie Echsen über Holz und kupferne Seile springen. Mein seltsam fühlender Bauch. Wunderte mich, dass sie miteinander sprechen, während sie spielen, lachen, spaßen, sich befeuern und beim Namen nennen. Hört ich nicht gerade noch Thelonius Sphere Monks Stimme wie er im Jahre 1957 : Coltrane! Coltrane! ruft? — Welches Geräusch würde ein Kontrabass von Eis erzeugen? — stop / koffertext
Aus der Wörtersammlung: glühen
nachtflug
india : 0.18 — In diesem Jahr ist er spät zu mir gekommen, der Winter längst vorüber. Ein Falter segelte gestern Abend durch mein Arbeitszimmer, bald saß er auf dem Boden. Ich näherte mich sehr vorsichtig, hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. — Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Ein paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ob ich den Falter füttern sollte? Vielleicht würde er etwas Himbeermarmelade zu sich nehmen. Ich stelle mir vor, der Falter könnte 254 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der rasch bei mir zu Kräften kommen möchte. Ja, das ist denkbar, immer wieder denkbar. Gestern, das will ich schnell noch erzählen, habe ich Flugversuche unternommen mit einer filigranen Rückenpropellerdrohne. Es handelt sich um die Nachbildung eines Taubenschwänzchen, demzufolge ist sie nicht größer als 50 Millimeter. Ich habe ihr beigebracht, mir zu folgen, wenn ich durch meine Wohnung spaziere. In dieser Verfolgung ist sie bereits sehr präzise, außerdem so schnell in ihrer Bewegung geworden, dass ich sie mit bloßer Hand nicht fangen könnte. Einmal näherte sie sich meiner Schnecke Esmeralda. Das war ein Moment von höchster Aufmerksamkeit, ein Verhalten, als würde das Taubenschwänzchen mit Esmeralda sprechen, sehr seltsam, anrührend, die Kirschbäume blühen. — stop
schimpansen
ulysses : 2.18 — Im Traum an Vaters Grab. Hatte von der Ankunft des 200 Jahre alte Kreuzes erfahren, das wir Schmieden zur Restauration übergeben haben. Als ich mich der Grabstelle nähere, entdecke ich Mutter, die mit zwei wilden Männern diskutiert, sie knien in der Nähe des Grabes auf dem Boden. Beide tragen schwere Schürzen von Leder und sind behaart und ihre Ohren glühen und dampfen in der feuchten Luft. Mutter will wissen, warum die Schmiede das Kreuz, das sie anlieferten, derart tief in den Boden versenkten, dass nur noch seine vergoldete Spitze zu sehen ist. Die Männer lachen fröhlich. Das sei in Afrika so üblich, antworten sie, weil wilde Tiere bevorzugt an Kreuzen dieser historischen Sorte ihr Fell reiben würden, und zwar so lange, bis von dem Kreuz Vaters bald nichts mehr übrig sei. Immer wieder deuten sie in den Baum, der den Grabhügel überschattet. Die Eiche blüht wie ein Kirschbaum. Schimpansen sitzen in der Krone und fletschen ihre Zähne. Mutter indessen beginnt, das Kreuz mit bloßen Händen wieder auszugraben. — stop
zivilisation
romeo : 5.51 — Ein schwergewichtiger Mann unlängst am Ende der Nacht während einer Straßenbahnfahrt. Drückt mich samt Schreibmaschine zur Seite. Ein harter, zunächst schweigender Körper, fahles Gesicht. Dann mit gepresster Stimme. Ich sei einer, der in der 1. Klasse reisen sollte. Unterdrückte, massive Gewaltbereitschaft, die bei leisester Provokation hemmungslos auszubrechen droht. Enormer Hass aus kleinen Augen. Ein Moment, da ich glaube, dem Bösen höchstpersönlich zu begegnen. Der massige Mann folgt mir an diesem Frühlingsmorgen klarer Luft über die Straße. Das Singen der Amseln in den Bäumen. Der glühende Wunsch in meinem Kopf, die Gestalt hinter mir mittels eines Skalpells sorgfältig in kleinste Teile zu zerlegen. Ein Hauch nur, so fein die Haut der Zivilisation, die mich im Innern schützt. — Erneut endende Nacht. Ein Reporter stand gerade noch vor mir auf einem Dach in Tokio. Er sagte, diese Situation, morgens zu erwachen und zu bemerken, dass wieder ein Kernreaktor explodiert ist, sei surreal. — Man müsste, denke ich, auf der Stelle Käferwesen erfinden, die sich rasch vermehren, Milliarden Käfer Stunde um Stunde, Wesen, die sich unverzüglich auf die Jagd nach kleinsten Teilchen in der Atmosphäre machen würden, um sie zu verspeisen, weil das ihre Bestimmung ist, ihre Leidenschaft, das Jagen, das Fangen und das Segeln auf strahlenden Flügeln weit aufs Meer hinaus. — stop
kairobildschirm
sierra : 7.12 — Acht Uhr, Freitagabend. stop. Am Schreibtisch. stop. Von Livebildern des Nachrichtensenders Al Jazeera her sind Gewehrschüsse zu hören. Seit Stunden bereits bewegen sich diese Bilder von der Größe einer Postkarte auf dem Schirm meiner Computermaschine. Jugendliche Menschen flüchten vor Wolken von Pfeffergas. Betende Männer knien vor einer Polizeikette, schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarze Hemden, schwarze Helme. Gebäude glühen in der aufkommenden Dunkelheit. Ein Mannschaftswagen der Polizei schlingert brennend durch eine Menschenmenge, überrollt Personen, die sich in den Weg stellen. Schlägertrupps in ziviler Kleidung verprügeln Frauen, verprügeln Männer. Kolonnen gepanzerter Militärfahrzeuge rücken in das Zentrum Kairos vor, sie werden von jubelnden Bürgern der Stadt begrüßt. Man spricht davon, das National Museum werde von einem Schild menschlicher Körper geschützt. Gasgranaten segeln über einen Platz, schreiben Spuren hellgrauen Rauchs in die Luft. Auf den Straßen der Stadt Suez sollen fünf Menschen ihr Leben verloren haben. In Washington erklärt ein Sprecher der US-Regierung, die Situation sei fluid. In Kairo überreichen junge Menschen einer Reporterin den Körper einer Polizeitränengasgranate, auf dem sie den Schriftzug Made in USA entdeckten. stop. stop. Was ist das für eine Wirklichkeit, die mich in Bildern von Postkartengröße erreicht? Wie wirklich ist diese Wirklichkeit? Was geschieht mit mir, was mit der Wirklichkeit der Bilder, sobald ich meinen Computerbildschirm ausschalte? — stop
coney island
alpha : 5.05 — Das Gewicht einer Erfindung. Wie ich mit Innenaugen einen elektrischen Vogel beobachte, der sinkend reglos auf meiner elektrischen Handfläche ruht. Einmal folge ich in dieser Weise Gene Hackman. Wir gehen zu Fuß unter der Hochbahn, Stillway Avenue, Richtung atlantischer Küste. Coney Island, rot glühendes Neonlicht klappernder Buden, Gestank von ranzigem Fisch, Regen, Tangwind, mein Photoapparat, der den Polizisten erfolglos zu belichten sucht. Stattdessen Erscheinung der Tropfen, Bälle aus großer Höhe, erstaunlich. — Unbedingter Durchstiegswille. — stop
schlafbild
bamako : 22.15 — Inwiefern würde sich die Welt der Bilder verwandeln, wenn wir über die Möglichkeit verfügten, unsere Schlafträume zu fotografieren? Ich meine so zum Beispiel, während eines nächtlichen Spazierganges über einer Hochebene flammender Ahornbäume die Anweisung zu geben: stop.aufnahme.jetzt. Schon am nächsten Morgen dann auf dem Küchentisch neben Kaffeetasse, Melonenscheibe, Morgenzeitung, jener Stoß im Traum gebannter Momente, glühende Baldachine, sagen wir, über schneeweißen Wolken, Elefanten der Tiefsee, federleicht im Spiel vor Neufundland, Louisiana’s schillernde Küste. Wie man sich neuerdings zur Ruhe legt, lange vor der üblichen Zeit, im Sammelfieber blitzende Augen. Wo und womit wäre nun in der Verwirklichung der Idee des Traumbildapparates anzufangen? — stop
déjà vu
ginkgo : 1.28 – Wie sich die Dinge wiederholen. Oktober. Ich hatte vor einer Stunde noch meine Fenster weit geöffnet. Kurz darauf segelte ein Nachtfalter durchs Arbeitszimmer. Das Tier war so müde und so schwach, dass es nachgab und sich der Luft anvertraute. Bald hockte der Falter auf dem Boden. Ich hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. Er scheint in dieser Minute zufrieden, wenn nicht glücklich zu sein. Ein paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ob ich den Falter nicht vielleicht füttern sollte, über den Winter bringen? Er könnte 250 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein. stop. Ein Déjà-vu. stop. Noch zu tun: stop. Nach anatomischen Geräuschwörtern lauschen. stop. Tsching. Tsching. — stop
sahara/ahorn
himalaya : 1.28 — 1 halbe Stunde im Googleflugzeug über die Sahara auf dem Bildschirm. Leuchtende, türkisfarbene Flächen, ausgedehnte, sandfarbene Ebenen, und Berge, die rot sind, als würden an ihren Hängen Ahornhaine blühen. Da und dort Spuren menschlicher Siedlungen, gewürfelte Kerne. Pisten der Automobile erscheinen in der Stärke eines Haares. Etwas Wüstensand, von glühenden Winden himmelwärts getragen. Korallenstäube. Vipernhaut. Kamelknochengesteine. Zeitfermente. So sichtbar wie denkbar. — Was sehe ich noch in diesen Stunden? — stop
geraldine beobachtet wolken
~ : geraldine
to : louis
subject : WOLKEN
Dieser wundervolle Himmel über mir, Mr. Louis, ich schreibe Ihnen, dass ich glücklich bin. Liege in meinem Stuhl und schaue den Wolken zu, wie sie einmal größer und dann wieder kleiner werden. Ich glaube, sie leben und wenn sie einmal verschwinden, sind sie nicht wirklich verschwunden, sondern nur in andere Wolken getaucht. Ja, so ist das mit all dem Leben, das ich am Himmel sehen kann. Ich liege da und träume und das Schiff brummt unter meinem Rücken und manchmal schaue ich zu meinen kleinen Füssen hin und wackle mit den Zehen. Stellen Sie sich vor, ich habe sie bemalt, nein, ganz sicher, ich habe sie bemalt, und ich glaube nicht, dass ich Ihnen noch erzählen muss, warum ich sie bemalt habe. Er wird schon noch vorbeikommen, jawohl, ich bin mir sicher, bald wird er nach mir sehen, wird zaghafte Blicke auf meine Füße werfen und sofort werden sie sich erwärmen, nein, glühen werden sie, und ich werde meine Strümpfe und Schuhe in die Hand nehmen und hoffen, dass niemand mich so sehen wird, wie ich neben ihm laufe, barfuß, obwohl doch vor wenigen Tagen noch Eisberge im Wasser trieben. Er kommt gerade, mein kleiner Steward, kommt gerade die Treppe herauf. Ich kenne die Geräusche seiner Schritte. Ich habe Fieber, Mr. Louis, ich habe Fieber, und manchmal denke ich, dass ich all das hier nur träume, das Schiff, die Wolken, meinen tapferen Vater, meine immerzu weinende und ebenso tapfere Mutter, die Eisberge und Delfine, und dass ich verliebt bin, all das nur träume. Aber wer könnte in einem Traum noch so kräftig mit den Zehen wackeln, dass selbst die Möwen von der Reling flüchten? — Ich grüße Sie herzlich! Ahoi! Ihre Geraldine auf hoher See.
notiert im Jahre 1962
an Bord der Queen Mary
aufgefangen am 2.02.2009
22.15 MEZ