mumbai : 8.03 — Niemand kann sagen, wie das gekommen ist. Vielleicht, weil die Wälder, die sie bewohnten, verschwunden sind, haben Kolibris sich ins nahe liegende Wasser gestürzt, haben das Weite gesucht, das Meer, und konnten atmen, wie durch ein Wunder, konnten sie das Wasser atmen, das Salz, das Plankton. Von einem Tag zum anderen Tag, stelle ich mir vor, war die Gattung der Unterwasservögel geboren, nicht zeitweise tauchende Wesen der Luft, sondern wirkliche Vögel, die sich wie Fische derart fröhlich durchs Wasser bewegen, als seien sie schon immer hier gewesen. Ja, sie fliegen, sie rasen, sie schwärmen durch Korallenbänke, verdrehen Tauchern den Kopf, naschen von allem, was sie noch entfernt an süße Blüten erinnert. Aber schmal sind sie geworden, nasses Gefieder, und haben bisher nicht gelernt, Freund von Feind zu unterscheiden. Ich habe mir heute Morgen gedacht, dass jemand am Code gearbeitet haben könnte, dass bald schon die Möwen den Luftraum verlassen werden, eine Möwe nach der anderen Möwe, dann werden Tauben, Bussarde, Amseln folgen, und auch die Zeisige, die Nachtigallen, die Spatzen und Papageienvögel, alle werden sie das Wasser besuchen. Ich muss das im Auge behalten. — stop
Aus der Wörtersammlung: kopf
bryant park
sierra : 8.57 — Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafés, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, welches ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief vorlesen könne, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte so lange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Café am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Café Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine sehr schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich seh gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden. — stop
=
echo : 8.58 — v e n o l e n g e f ä ß
mumbai — darjeeling
echo : 8.55 — Das 8‑jährige Mädchen Puja in dem Dokumentarfilm Geboren im Bordell, von dem man berichtet, dass es in seinem Leben noch nie Nein gesagt haben soll. Ein düsterer Ort an dem Puja lebt, orangefarbene, von Fliegen umschwirrte, rußige Glühbirnen, eine vollkommen überfüllte Wohnung, Schmutz, der Lärm der Freier Tag und Nacht. Und doch gibt es etwas in Pujas Leben, das ihr Freude bereitet. Sie besitzt einen Fotoapparat. Sie geht mit ihm auf die Straße und fotografiert Passanten. Das sind feine Aufnahmen, die Puja macht, kein fotografierter Mensch wird böse, sobald sich der merkwürdige Fotoapparat Pujas auf sie richtet. Da steht ein kleiner Mensch in einem roten Kleid, dessen Kopf sich in eine Maschine mit zwei Augen verwandelt. — Mitternacht. stop. Während ich arbeitete an einer kleinen Geschichte über Billy, den Kentaur, seltsame Stille. Kein Laut von draußen, drinnen nur das sehr langsame Klappern der Tastatur. Jetzt sanfte Gedanken pflegen, Musik hören, ins Café gehen, dann die Vorbereitung einer Reise nach Indien irgendwann wieder einmal aufnehmen: Mumbai – Darjeeling in Zügen.
papiertierchen
nordpol : 9.15 — Man stelle sich einmal vor, Papiertierchen existierten in unserer Welt. Nicht etwa Tierchen, die aus Papier gemacht sind oder vergleichbarer Ware, sondern tatsächliche Lebewesen, die so ausgedacht sind, dass sie sich zu Formen versammeln, die einer Papierseite ähnlich sind. Weil diese Lebewesen, wie ich sie mir gerade male, sehr klein sein sollten, sagen wir in der Fläche so groß wie die Spitze einer Nadel, würde ein Maschinenbogen von nicht weniger als zwei Millionen Individuen nachgebildet sein. Jedes Papiertierchen, sichtbar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikroskops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier weiteren Tierchen, die es schon immer kennt, mittels feinster Tentakeln zu verbinden oder zu befreunden, und zwar nur mit diesen, sodass man von eindeutiger Ordnung sprechen könnte, nicht von einer beliebigen Anordnung. Ja, jedes der kleinen Wesen für sich spricht von einem ureigenen Ort, den es niemals vergisst. Sobald alles schön zu einer Seite geordnet ist, werden mit Licht, mit einem Lichtstift genauer, Zeichen gesetzt auf das lebende Papier, indem man leichter Hand wie mit einem Füller schreibt. Wird ein schneeweißes Tierchen berührt vom notierenden Licht, nimmt es sogleich die schwarze Farbe an und verbleibt von diesem Schwarz, bis es von weiterem Licht berührt werden könnte, einem Licht natürlich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lampe das Zeichen der Nacht sofort über die Landschaft der filigranen Körper schreiben würde. Ich hatte, während ich diesem Gedanken noch auf einer gewöhnlichen Computerschreibmaschine folgte, die Idee, dass sie vielleicht alle sehr schreckhaft sind, also zunächst unvollkommen oder wild, dass sie, zum Beispiel, wenn ein Feuerwehrauto in ihrer Nähe vorüber kommen sollte, sofort auseinander fliegen in Panik, sich verstecken, um jedes für sich oder in größeren Gruppen an den Wänden meiner Zimmer zu sitzen. Vielleicht lungern sie auch auf Kaffeetassen herum oder in den Haarblättern eines Elefantenfußbaumes, ja, das ist sehr gut denkbar. Ich werde dann warten, ruhig und gelassen warten, bis sie sich wieder beruhigt haben werden und zurückkommen, sagen wir nach einer Stunde oder zwei. Dann weiter schreiben oder lesen oder denken. Und jetzt hab ich einen Knoten im Kopf. — stop
anleitung zum glücklichsein
ginkgo : 18.25 — Am letzten Tag des Septembers unterm Regenschirm spaziert. Zunächst regnete es Regensand, dann Regenreis, dann regnete es kleine Frösche. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, in einem Film angekommen zu sein, der von Louisiana handelt. Das war ein feines Gefühl unterm klingenden Schirm am Ufer des Mississippi zu stehen und den Fröschen zu lauschen, die auf ihrer letzten Reise vom Himmel erstaunliche, pfeifende Geräusche von sich gaben. Als ich so im Froschregen am großen Fluss stand, erinnerte ich mich an einen kleinen Text, den ich im vergangenen Jahr bereits geschrieben habe. Und sofort wusste ich, dass ich diesen Text, sobald ich wieder zu Hause angekommen sein würde, noch einmal lesen sollte. Es ist noch immer ein beruhigender Text, ein Text, der mich berührt. Deshalb will ich diesen kleinen Text, eine Anleitung zum Glücklichsein, noch einmal für Sie wiederholen: „Man verlasse das Haus. Sorgfältig alle Bewegungen des Verkehrs beachtend, gehe man so lange durch die Stadt, bis man auf eine Buchhandlung trifft. Dort kaufe man: Cortazar, Julio – Geschichten der Cronopien und Famen. Dann gehe man spazieren, trage den schmalen Band durch die Straßen, bis man einen Park erreicht, wenn Sommer, oder ein Café, wenn Winter ist. Man nehme Platz und lese. Über den Umgang mit Ameisen beispielsweise, oder wie wunderbar angenehm es ist, ein Spinnenbein postalisch an einen Außenminister aufzugeben. Oder man lasse sich im Uhrenaufziehen oder im Treppensteigen unterweisen. Jetzt bereits wird man eine leichte Wärme spüren, die aus der Gegend des Bauches nach oben und unten in Arme und Beine auswandert. Also lese man weiter, lausche jenen angenehmen Geräuschen im Kopf, – diesem sagen wir: Jedermann wird schon einmal beobachtet haben, dass sich der Boden häufig faltet, dergestalt, dass ein Teil im rechten Winkel zur Bodenebene ansteigt und der darauffolgende Teil sich parallel zu dieser Ebene befindet, um einer neuen Senkrechte Platz zu machen. Oder jenem: Treppen steigt man von vorn, da sie sich von hinten oder von der Seite her als außerordentlich unbequem erweisen. It works.”
kopflicht
romeo : 2.05 — Wieder mit leiser Freude bemerkt. Immer, auch dann, wenn ich schlafe, habe ich etwas Licht in meinem Kopf. — stop
kokons
bamako : 0.08 — Einmal saß ich in einem Hospital am Bett eines kranken Kindes. Ich las diesem kleinen, blassen Wesen aus einem Buch vor, und während ich mit ruhiger Stimme las, oder vorgab zu lesen, spürte ich, wie ich von ungewöhnlich hellen Augen betrachtet wurde. Vielleicht weil das Kind um die Gefahr wusste, die ihm drohte, hatte das Kind derart helle Augen. Und so flogen wir gemeinsam durch eine Geschichte heller Augen, durch eine Geschichte, die von einem Mann erzählte, der auf dem Atlantik von weißen Walen in einer Seenotrettungsinsel durch das Wasser gezogen wurde. Man könnte sagen, die Wale sorgten sich um das Leben dieses Mannes, sie fingen ihm Fische und sie zogen ihn aus einer einsamen Gegend des Meeres an einen Ort, den Schifffahrtslinien kreuzten. Was das Kind vielleicht nicht einmal ahnte, das Buch, das auf meinen Knien ruhte, erzählte tatsächlich davon, wie man Javacode programmiert. Und doch war dort im Buch eine Geschichte, weil ich immer wieder einmal umblätterte, während ich für das Kind Satz für Satz aus der Luft erfand. Von Zeit zu Zeit, ich erinnere mich noch genau, lachte das Kind, sodass ich heute sagen kann, dass es sich bei diesem Buch um ein gelungenes Nachtbuch mit Licht gehandelt haben musste. – Kurz nach Mitternacht. Habe einen Buchstabenknoten in meinem Kopf. — stop
langustenfliege
india : 6.20 — Frühmorgens im Palmengarten spaziert. Ich ging einhundert Schritte nordwärts, dann zweihundert Schritte südwärts, lag bald in einer Wiese herum und dachte, hier schlafe ich zwei Tage, hier genau an dieser Stelle schlafe ich zwei Tage unterm Zirpgrillenschirm. Wenn man so in einer Wiese liegt, kommt man aus dem Staunen nicht heraus, man kann nicht schlafen, weil man Natur beobachten und sich wundern muss, wie das alles möglich geworden ist. Habe auf einer schwarz und weiß gestreiften Blume ein Liebespaar beobachtet, ein merkwürdiges Gebilde, ein oder zwei Millimeter hoch, nicht höher, ganz gewiss. Eine sehr besondere Variante war das gewesen, zwei Haifische [Kopf], zwei Langusten [Schwanz] und zwei Fliegen [Flügel und Beine], delikat ineinander gesetzt, voluminöse Augenpaare auf bewegliche Stäbchen montiert, die sich im Spiel zärtlich betasteten, als ob sich vier sehende Mundwerke küssten. Das alles war sehr schön, auch in der Farbe gestaltet, je ein leuchtend gelber Kopf, zwei feuerrote Brüste und Hinterteile von einem Umbrablau, wie ich es so prächtig noch nie zuvor gesehen habe. Genau dort hatte heftiges Pumpen eingesetzt, während das Flügelwerk schillerte im feinsten Prismenlicht. Seltsam, auch bei diesen sehr kleinen, wilden Wesen war nichts zu hören, nicht das mindeste Geräusch, da war Bewegung, nur Bewegung. Und ich dachte noch, sehr elegant, wie das dort an einem frühen Freitagmorgen schon gemacht wird, ohne sich von den Augen eines Riesen stören zu lassen. Es ist jetzt 5 Uhr und dreißig Minuten. Es sind Spinnen, die morgens das Nachtwasser von den Wiesen saufen. — stop
lucie
sierra : 6.02 — Das sind lustige Tage, Tage wie dieser hier nach durcharbeiteter Nacht. Noch immer, drinnen wie draußen, sehr warme und feuchte Hitze. In der Dämmerung schloss ich die Fenster. Auf das Bett waren leichte Tücher gelegt, das luftigste Material, das zu finden gewesen ist, die Fenster verdunkelt, alles bereit, den beginnenden Tag sofort zur Nacht zu machen. Ich lag bald unterm Buch, das mir den Kopf müde macht. Ich dachte, dass ich nichts denken sollte, schaute nach Lichtern, die unter den Lidern in Schlafaugen wandern. Fast war ich weggekommen, als eine Fliege auf meiner Schulter landete und sofort mit dem Mundstempel nach Salz und anderen Dingen zu forschen begann. Ich sagte, bitte, bitte nicht, Lucie, heute bitte nicht, ich muss schlafen. Und so erhob sich Lucie in die Luft und ich hörte, wie sie eine langsame, traurig summende Runde linksherum durch mein Zimmer flog. Dann schlief ich ein und träumte zwei blaue Schnecken. Sie waren von kühler Temperatur und hatten sich wie Polarfüchse in einer Schneehöhle, in meine Augenhöhlen gelegt. Als ich wach wurde, als ich zunächst wach geworden war, wie immer mit geschlossenen Augen, hörte ich Gewitterdonner, dann entdeckte ich Lucie in nächster Nähe. Sie hatte sich, während ich träumte, vorsichtig auf den Rücken meiner linken Hand gesetzt und ihre Beine angezogen, sodass sie nicht saß, vielmehr auf mir lag. Ja, ist es denn Fliegentieren möglich, die Augen zu schließen? — stop