delta : 0.36 — Ich stelle mir vor, wie ich bald einmal von einer längeren Reise nach Hause zurückkommen werde. Ich öffne die Wohnungstüre, mache Licht, ein paar Nachtfalter kommen mir durch den Flur zur Begrüßung entgegen. In der Küche blühen Kakteen. Im Wohnzimmer auf dem Sofa ruht eine norwegische Waldkatze, sie schläft. Es herrscht, obwohl Winterzeit, eine angenehme Temperatur in allen Räumen, eine Wärme, die von der Hitze umliegender Wohnungen verursacht ist. Ich höre Duke Ellington leise vom Radio her, das ich vergaß vor meiner Reise auszuschalten. Ja, und da ist nun also Lopes, auf dem Rücken liegend, bewegungslos. Ich sage, Lopes, hallo Lopes, guten Abend, bin wieder da, werd dich gleich wecken. Schritte an der Zimmerdecke, das pfeifende Geräusch einer Straßenbahn, die eine Kreuzung überquert, der Staub der Monate knistert auf den Lampenbirnen. Auch die Kakteen hinter dem Schreibtisch blühen wie versprochen. Es ist ein wirklich angenehmer Abend. Lopes ist schmal geworden und kühl, wie ich mit einer Hand über ihren Körper fahre, fühle ich ihre Rippenbögen unter dem Fell. Nichts kann man falsch machen in diesen sanften Momenten einer Rückkehr aus der Ferne, man macht das so, man setzt sich neben das schlummernde Katzentier, man zieht ganz sanft an einem ihrer Ohren, mal ist es das linke, mal ist es das rechte Ohr, und schon öffnen sich ihre Augen, es ist überall dasselbe Prinzip. Ich hörte von Arten, die 5 Jahre lang schlafen und warten, ohne je einmal aufzuwachen, oder trinken oder essen zu müssen. Das sind Katzen, die sehr kostbar sind, Lopes dagegen ist eine eher preiswerte Variante, eine Katze, die sechs Monate bei bester Gesundheit zu schlafen vermag. Ich sitze jetzt in der Küche, ich höre, wie meine Katze schnurrt. Gleich wird sie um die Ecke kommen, etwas wackelig auf den Beinen noch und ahnungslos wie viel Zeit doch vergangen ist, seit ich sie in den Schlaf geschaltet habe. — stop
Aus der Wörtersammlung: ohren
ohrentraum
bamako : 5.55 — War im Restaurant. Dort schritt die Zeit sehr viel schneller als üblicherweise voran. Jeder eintretende Besucher wurde gewarnt, ungefähr so: Guten Abend, mein Herr, wir wollen sie darauf hinweisen, dass ein Abend bei uns sie um etwa ein Jahr älter werden lässt. Tatsächlich flackerte im Saal das Licht aufgeregt, das waren vielleicht Dämmerungen, Nächte und Tage. Auch mein Herz schlug wie verrückt und das Blut zischte durch meine Blutgefäße. Ich verspeiste 250 Gramm gerösteter menschlicher Ohren in einer sanften Zitronensauce. Als ich erwachte, hörte ich meine eigene Stimme, die etwas sagte, das ich nicht verstand. Ich machte Kaffee und ich notierte meinen Traum unverzüglich. Über die Notiz setzte ich das Wort: Ohrentraum. — stop
brummkreisel DOYU 66Y
bamako : 18.55 — Ich habe über das Problem lebender Brummkreisel nachgedacht. Das ist nämlich so, dass ein Lebewesen, das einem Brummkreisel ähnlich sein würde, über zwei Abteilungen verfügen sollte, über eine der Erde verbundene Fuß– oder Basisabteilung einerseits, sowie über eine sich drehende, kreisende Einheit andererseits, die sich in den Momenten der Karussellfahrt in Freiheit, also unabhängig von dem geerdeten Teil des Brummkreiselwesens bewegen müsste und doch eindeutig ihm gehören würde. Demzufolge würde die kreisende Abteilung dieses Wunschwesens nach Ende ihrer rasenden Fahrt zu sich selbst zurückkehren, das heißt, sich mit der wartenden Fußabteilung in organischem Sinne wieder vereinen. Eigentlich ist das insgesamt nicht schwer zu denken. Ein Gefäß, anstatt eines Kopfes, könnte auf den Schultern der Basisabteilung existieren, eine Fassung, in welcher sich die untere Spitze des wirbelnden Körperteiles frei drehend bewegen würde. In diesem Gefäß sollten sich Öle befinden, die dem menschlichen Liquor ähnlich sind. Nach einer Phase der Rotation würden sich in dieser Flüssigkeit Blutgefäße und Nervenbahnen, die zuvor gelöst worden waren, von unten nach oben erneut miteinander in Verbindung bringen, sodass das Wesen bald wieder zu einer vollständigen Person geworden sein wird. Augen und Ohren, so stelle ich mir vor, sollten sich in der unteren Abteilung befinden, auch Füße zum Stehen und Wandern und alle Organe, die für einen gesunden Stoffwechsel notwendig sind. Ja, so könnte das möglich sein, das ist denkbar, das macht Knoten im Kopf. — stop
handohren
~ : oe som
to : louis
subject : HANDOHREN
date : may 27 12 3.05 a.m.
Lieber Louis, Mitternacht ist längst vorüber. Ich bin ruhig, aber ich kann nicht schlafen. Seit Tagen geht das so mit mir, dass ich die Augen schließe und doch wach liege, zumindest nicht wirklich auf die andere Seite gelange. Ich spüre wie sich das Schiff auf und ab bewegt, manchmal erhebe ich mich und gehe spazieren an Deck, oder ich besuche Lin, die sich für den Monat Mai in Nachtschicht befindet. Seit drei Tragen sitzt sie in der Werkstatt an der Übertragung des Romans Molloy von Samuel Beckett. Ich darf ihr zusehen, wie sie Zeichen für Zeichen aus dem papierenen Buch kopiert, eine geschmeidige Bewegung, sie schreibt, ohne ihren Blick auf den Stift zu richten. Jedes Wort, das sie in Angriff nimmt, wird zunächst in den Raum geflüstert: Wachtelkönig. Als ob sie eine Anweisung geben würde, als ob ihre schreibende Hand über geheime Ohren verfügte. Ich wünschte mir, ich könnte ihre Hände einmal eingehend untersuchen, einen Bericht schreiben über die Entdeckung der Handohren kurz nach Mitternacht auf einem Schiff vor Neufundland. Eigentlich, lieber Louis, wollte ich Dir von meinem ersten Besuch bei Noe in der Tiefe berichten, was ich dort gesehen habe, seine Augen wie sie meine Augen betrachteten durch das Panzerglas. Ich denke, ich bin noch nicht so weit. Ich werde Dir ausführlich notieren, sobald ich einmal eine Nacht durchgeschlafen habe. Es ist möglich, dass ich das Tauchen nicht vertrage oder Noe’s hellen Blick vielleicht, der mich verfolgt, ich gebe das zu, Noe’s Blick verfolgt mich. Manchmal denke ich, dass nicht richtig ist, was wir tun. Gute Nacht! Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
27.05.2012
1620 zeichen
siatista mittags
tango : 0.02 — Man erzählt, aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinen, weil er im hohen Alter noch hungern musste, soll sich gestern, gegen 14 Uhr mitteleuropäischer Zeit, ein alter Mann auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen haben. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war zu erfahren, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später tötete das Projektil eine Fliege, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? — stop
MLR X‑867
nordpol : 3.55 — Folgendem Molluskenwesen gilt nachtwärts meine Aufmerksamkeit: MLR X‑867, 10 cm in der Länge, 1 cm in der Höhe, 2 cm in der Breite, samtig schwarzer Körper, 30 Gramm schwer, hohl und höchst beweglich. Dieses Schneckenwesen lebt vornehmlich im Wasser, weswegen es über Kiemen gebietet, wandert dort langsam auf Lamellenbeinen über den Boden hin oder felsige Wände auf und abwärts. Aber auch in Gefangenschaft überlebt es gerne, solange man warme Fliegenlarven füttert, die großzügig über die Oberfläche des Molluskengewässers zu verteilen sind. Es ist vielleicht so, dass in stetiger Erwartung, das kleine Tier in genau jenem Moment, da es der bebenden Larvenkörper ansichtig geworden ist, Hochgeschwindigkeitszungen in Richtung seiner Beute schicken wird, Zungen, die einem schmalen Rücken entkommen, dort reiht sich ein Mund an den nächsten, es sind sieben insgesamt, die geschlossen vollständig unsichtbar bleiben. Nun wäre das noch nichts Besonderes, wenn es sich bei diesem Wesen, nicht um eine Persönlichkeit von hervorragender Musikalität handeln würde, man leuchtet nämlich in jeder erdenklichen Farbe, sobald man Geräusche, noch die leisesten hört. Das Schwarzsein bedeutet also Stille. Art und Position der Schneckenohren sind zu diesem Zeitpunkt, 3 Uhr 28 Minuten, noch nicht bekannt. — stop
zungenbäume
india : 6.08 — Ein besonderer Baum im nahenden Frühling, erste Knospen faszinierenden Gewebes. Sobald man sich anschleicht, wird man erkennen, nicht Blätter, nicht Blüten, aber Hände, eine Ahnung zunächst, dann deutlich zu erkennen, menschliche Hände im Alter von sechs oder sieben Wochen, wie sie wachsen, wie sie sich entfalten, wie sie mit erster Bewegung beginnen. Auf einem weiteren Baum sprießen Ohren und Nasen, dann wieder Hände, vielleicht weil man gerade sehr viel Hände benötigt. Und Augenbäume, Herzbäume, Nierenbäume, selbst Mund- und Zungenbäume sind denkbar, und weitere schrecklich schöne Kreaturen. — stop
ein ohr
sierra : 0.01 — Im Traum hatte eines meiner Ohren seine Position verlassen. Das wandernde Ohr hockte, als ich erwachte, auf meiner linken Wange wie ein wildes Tier, das ich zu bändigen trachtete, in dem ich mit ihm ein Gespräch zu führen versuchte. Beschwörung. Verhandlung. — stop
bewegung
nordpol : 0.28 — Wie Peter Bichsel vor Jahren in einer Filmdokumentation von einem Zustand der Bewegung berichtete, der für ihn zum Schreiben hilfreich sei. Fahren. Reisen. Der Schriftsteller saß, indem er das erzählte, in einem Waggon der Schweizer Bundesbahn, Landschaft mit Bäumen schwebte hinter dem Fenster vorbei, und ich meine, mich richtig zu erinnern, wenn sich das Gesicht des Dichters in der Scheibe spiegelte. Immer wieder einmal habe ich an diese Situation gedacht, gestern zuletzt, weil ich bemerkte, dass mir in diesen Tagen die Stunden des Schreibens auf der Staten Island Fähre fehlen, Stunden bemerkenswerter Beweglichkeit in meinen Gedanken. Nicht allein die gleichmäßige Bewegung des Schiffes, scheint eine seltsame Öffnung meiner Gedanken bewirkt zu haben, oder der Blick auf das Meer, die Silhouette Brooklyns, den Hafen New Jerseys, seine Kräne, die wie Storchenvögel am Horizont zu sehen sind, in meinem Fall waren es die Menschen, ihre Gesichter, Stimmen, Bewegungen, Gerüche, Hüte, Telefone, Schuhe, Taschen, Gespräche, die mich mit Spannung einerseits und innerer Ruhe anderseits versorgten. Ich ahne, ich vermag in der Umgebung zahlreicher Menschen, die sich nicht weiter um mich kümmern, sehr lange Zeiten und weit geöffnet stillzusitzen. Meine Augen spazieren herum und meine Ohren, mein Schreibgehirn aber scheint indessen in eine ganz andere Richtung zu schauen. Warum das so ist, weiß ich nicht. – Ein stilles Gebet seit Tagen.
lenox hill : vertikal
zoulou : 20.25 — Es ist jedes Mal ein aufregender Moment, wenn sich die Kabine des Aufzuges vom 22. Stockwerk aus nach unten zu bewegen beginnt. Ich werde etwas größer für ein oder zwei Sekunden, ich kann das im Spiegel, der die Rückwand meines Reisebehälters vollständig bedeckt, genau erkennen, ich werde etwas größer, oder ich verliere den Boden unter den Füßen, es ist ein wirklicher Moment des Fallens, ein Raum der Zeit, der bereits vorüber ist, ehe man ihn mit Wortbedeutung ausgesprochen haben mag: Sekunde. Aber dann stehe ich schon wieder fest auf dem Boden, bin so groß wie zuvor, ein Irrtum natürlich, nicht die Größe, aber dass ich sicheren Boden unter meinen Schuhen haben würde, weil ich doch abwärts rase, was ich am wandernden Licht der Zahlenreihe, die sich neben der Kabinentüre befindet, erkenne. Außerdem knistern meine Ohren und ich habe den Eindruck, dass auch mit meinen Augen etwas anders geworden sein könnte, ein Drama vielleicht, das sich hier gerade zu entfalten beginnt. Vor vier Wochen noch hatte ich einmal im Aufzug einen Spaziergang unternommen, rasch, wie ein Tier in seinem Käfig hin und her, ich wollte mich sehen, wie ich im Fallen zu gehen vermag, ein lustiger Anblick, nehme ich an, weil ich kurz darauf den Eindruck hatte, der kleine Wächter im Foyer habe ein ironisches Lächeln im Gesicht getragen, vielleicht weil er mich beobachtet hatte mittels einer Kamera, die sich in einer der oberen Winkel der Kabine befindet. Seltsam ist, man wird scheinbar nicht kleiner, wenn man das Erdgeschoss erreicht, obwohl man doch schnell langsamer wird, gestaucht, meine ich, gepresst und diese Dinge. Ich habe weiterhin beobachtet, dass ich, indem ich den Aufzug verlasse, je eine leichte Linkskurve nehme, die so nicht geplant ist. Meine Schneckengänge, meine Labyrinthe im Kopf, daran könnte es liegen. — stop