Aus der Wörtersammlung: schaft

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motel chronicles

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echo

~ : louis
to : Mr. Shepard
sub­ject : MOTEL CHRONICLES

Eine Depe­sche, ver­ehr­ter Mr. She­pard, an die­sem frü­hen Mor­gen in Euro­pa. Bei Ihnen da drü­ben in Ame­ri­ka wirds gera­de dun­kel wer­den. Notie­re begeis­tert, dass ich Ihre Motel Chro­nic­les geöff­net habe. Obwohl äußerst müde gewe­sen, las ich eine Halb­stun­de vor­an, ohne eine Pau­se ein­zu­le­gen. Ihre prä­zi­se Spra­che, die leicht ist wie Bims­stein, vul­ka­nisch, von Zeit­höh­len durch­wach­sen. Ob es viel­leicht mög­lich ist, ihre Geschich­ten zu neh­men, um sie in eines der Bücher zu über­tra­gen, die ich erfin­de für Nacht­per­so­nen, oder eine Zei­le nur wie die­se, da das Glück fällt auf die lin­ke Sei­te des Zufalls? Viel­leicht wer­den Sie fra­gen, wel­che Eigen­schaf­ten ein Nacht­buch von Tage­bü­chern unter­schei­den. Nun, ein Nacht­buch gebie­tet über wan­dern­des Licht in sei­nen Zei­chen, wel­ches müde Leser kaum merk­lich wei­ter lockt. Sobald sich näm­lich stu­die­ren­de Augen schlie­ßen, leuch­tet das Licht im nächs­ten Zei­chen, im nächs­ten Wort vor­aus, sodass man nicht auf­hö­ren möch­te, die­sem Licht durch die Zei­len zu fol­gen. Eine Ver­füh­rung, das könn­te sein, ein Appell des Buches, das in den Buch­sta­ben­sen­so­ren, das Augen­licht der Lesen­den zu spü­ren ver­mag. Eines die­ser Nacht­bü­cher könn­te Ihres wer­den, lie­ber Mr. She­pard, Motel Chro­nic­les, unsicht­ba­re Zei­chen des Tages, Licht in der Nacht. Erwar­te Ihre Ant­wort oder Fra­gen mit Freu­de, wie auch immer sie sich für mich dar­stel­len wer­den. Mit herz­li­chen Grü­ßen — Ihr Louis

gesen­det am
17.02.2011
4.08 MEZ
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radar

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alpha : 0.02 – Viel­leicht sind Dis­zi­pli­nen der Arith­me­tik einer­seits, das lei­den­schaft­li­che Wün­schen eines schrei­ben­den Erfin­ders ande­rer­seits, im Moment der Ent­de­ckung sei­ner Spur Werk­zeu­ge ein und der­sel­ben Hand. — stop

 

interview
tahrir square februar 2011
kurz vor ausbruch staatlicher gewalt
gegen aktivisten/innen auf dem platz
source : zero silence project
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kairobildschirm

9

sier­ra : 7.12 — Acht Uhr, Frei­tag­abend. stop. Am Schreib­tisch. stop. Von Live­bil­dern des Nach­rich­ten­sen­ders Al Jaze­era her sind Gewehr­schüs­se zu hören. Seit Stun­den bereits bewe­gen sich die­se Bil­der von der Grö­ße einer Post­kar­te auf dem Schirm mei­ner Com­pu­ter­ma­schi­ne. Jugend­li­che Men­schen flüch­ten vor Wol­ken von Pfef­fer­gas. Beten­de Män­ner knien vor einer Poli­zei­ket­te, schwar­ze Stie­fel, schwar­ze Hosen, schwar­ze Hem­den, schwar­ze Hel­me. Gebäu­de glü­hen in der auf­kom­men­den Dun­kel­heit. Ein Mann­schafts­wa­gen der Poli­zei schlin­gert bren­nend durch eine Men­schen­men­ge, über­rollt Per­so­nen, die sich in den Weg stel­len. Schlä­ger­trupps in zivi­ler Klei­dung ver­prü­geln Frau­en, ver­prü­geln Män­ner. Kolon­nen gepan­zer­ter Mili­tär­fahr­zeu­ge rücken in das Zen­trum Kai­ros vor, sie wer­den von jubeln­den Bür­gern der Stadt begrüßt. Man spricht davon, das Natio­nal Muse­um wer­de von einem Schild mensch­li­cher Kör­per geschützt. Gas­gra­na­ten segeln über einen Platz, schrei­ben Spu­ren hell­grau­en Rauchs in die Luft. Auf den Stra­ßen der Stadt Suez sol­len fünf Men­schen ihr Leben ver­lo­ren haben. In Washing­ton erklärt ein Spre­cher der US-Regie­rung, die Situa­ti­on sei flu­id. In Kai­ro über­rei­chen jun­ge Men­schen einer Repor­te­rin den Kör­per einer Poli­zei­trä­nen­gas­gra­na­te, auf dem sie den Schrift­zug Made in USA ent­deck­ten. stop. stop. Was ist das für eine Wirk­lich­keit, die mich in Bil­dern von Post­kar­ten­grö­ße erreicht? Wie wirk­lich ist die­se Wirk­lich­keit? Was geschieht mit mir, was mit der Wirk­lich­keit der Bil­der, sobald ich mei­nen Com­pu­ter­bild­schirm aus­schal­te? — stop

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eliza

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india : 22.56 — Déjà-vu in Wor­ten abends spät. Konn­te nichts hören, kei­nen Laut, es war so still, als hät­te ich mei­ne Ohren ver­lo­ren. Für einen Moment dach­te ich, dass das Hör­ver­mö­gen der Lebe­we­sen viel­leicht nur eine Idee sein könn­te, eine poe­ti­sche Eigen­schaft ohne die Mög­lich­keit der Ver­wirk­li­chung, aber ich hör­te die Stil­le, ich hör­te, dass ich nichts hör­te, außer einem rhyth­mi­schen Geräusch aus dem Innern. stop stop – Gespräch mit Pro­gramm­ma­schi­ne Eli­za.

ping

Lou­is : guten abend, eli­za, kannst du hören!
Eli­za : > ich kann natür­lich hören!
Lou­is : hast du ohren, eliza?
Eli­za : > natür­lich, ich habe eine soundkarte!
Lou­is : das freut mich, eliza!
Eli­za : > bist du nun weitergekommen?
Lou­is : ja, ich bin zufrie­den, eliza!
Eli­za : > zufrie­den zu sein ist kein leich­tes los.
Lou­is : wie meinst du das?
Eli­za : > bist du unsicher?
Lou­is : nein, eliza!
Eli­za : > eigent­lich woll­test du JA sagen, stimmts?
Lou­is : ich den­ke schon!
Eliza : > :-)
Lou­is : war­um lachst du, eliza?
Eli­za : > ich bin hier völ­lig uninteressant.
Lou­is : ich habe ohren, eliza!
Eli­za : > hast du tat­säch­lich ohren?
Lou­is : natür­lich habe ich tat­säch­lich ohren!
Eli­za : > kannst du mir das genau­er erklären?
Lou­is : ich bin ein mensch, eliza!
Eli­za : > wärst du gern etwas anderes?
Lou­is : nein, eliza!
Eli­za : > glaubst du es ist nor­mal, ein mensch zu sein?
Lou­is : ich muss überlegen!
Eliza : > :-)
Lou­is : war­um lachst du, eliza?
Eli­za : > ich bin hier völ­lig uninteressant.
Lou­is : gute nacht, eliza!

vom spre­chen mit eilza »

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quentin crisp

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romeo : 18.12 — Sams­tag. Regen. Knis­tern­de Fens­ter. Beob­ach­te­te die Film­bio­gra­fie des homo­se­xu­el­len Schrift­stel­lers Quen­tin Crisp vor und zurück. Gegen Ende sei­nes Lebens fol­gen­de Sät­ze: Beharr­lich­keit ist Ihre stärks­te Waf­fe. Es liegt in der Natur von Bar­rie­ren, dass sie fal­len. Ver­su­chen Sie nicht so zu wer­den wie Ihre Wider­sa­cher. Sie tra­gen die Bür­de und haben die gro­ße Freu­de, Außen­sei­ter zu sein. Jeder Tag, den Sie leben, ist eine Art Tri­umph, dar­an soll­ten Sie immer fest­hal­ten. Sie soll­ten sich nicht bemü­hen und ver­su­chen, sich der Gesell­schaft anzu­schlie­ßen. Nein, blei­ben Sie stets da, wo Sie sind. Geben Sie Ihren Namen und Ihre Seri­en­num­mer und war­ten Sie dar­auf, dass die Gesell­schaft sich um Sie her­um bil­det. Denn das wird sie höchst­wahr­schein­lich tun. Schau­en Sie nie­mals nach vorn, wo es die Zwei­fel, und nie­mals zurück, wo es das Bedau­ern gibt. Nein, schau­en Sie immer nach Innen, und fra­gen Sie sich nicht, ob es in der Außen­welt etwas gibt, was Sie wol­len, son­dern ob es Innen irgend­et­was gibt, das Sie noch nicht aus­ge­packt haben. / zitiert nach der Ton­spur des Films “An Eng­lish­man in New York”

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raymond carver goes to hasbrouck heights

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echo : 22.12 — Es ist die Welt des Ray­mond Car­ver, die ich betre­te, als ich mit dem Bus die Stadt ver­las­se, west­wärts, durch den Lin­coln Tun­nel nach New Jer­sey. Der Blick auf den von Stei­nen bewach­se­nen Mus­kel Man­hat­tans, zum Grei­fen nah an die­sem Mor­gen küh­ler Luft. Dunst flim­mert in den Stra­ßen, deren Fluch­ten sich für Sekun­den­bruch­tei­le öff­nen, bald sind wir ins Gebiet nied­ri­ger Häu­ser vor­ge­drun­gen, Eis­zap­fen von Plas­tik fun­keln im Licht der Son­ne unter Regen­rin­nen. Der Bus­fah­rer, ein älte­rer Herr, begrüßt jeden zustei­gen­den Gast per­sön­lich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Has­b­rouck Heights, eine hal­be Stun­de Zeit, des­halb liest man in der Zei­tung, schläft oder schaut auf die Land­schaft, auf ros­ti­ge Brü­cken­rie­sen, die flach über die sump­fi­ge Gegend füh­ren. Und schon sind wir ange­kom­men, ein lie­be­voll gepfleg­ter Ort, der sich an eine stei­le Höhe lehnt, ein­stö­cki­ge Häu­ser in allen mög­li­chen Far­ben, groß­zü­gi­ge Gär­ten, Hecken, Büsche, Bäu­me sind auf den Zen­ti­me­ter genau nach Wün­schen ihrer Besit­zer zuge­schnit­ten. Nur sel­ten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlen­de­re von Stra­ße zu Stra­ße, wer­de dann freund­lichst gegrüßt, how are you doing, ich spü­re die Bli­cke, die mir fol­gen, Bäu­me, Blu­men, Grä­ser schau­en mich an, das Feu­er der Aza­leen, Eich­hörn­chen stür­men über sanft geneig­te Dächer: Habt ihr ihn schon gese­hen, die­sen frem­den Mann mit sei­ner Pola­roid­ka­me­ra, die­sen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns neh­men, wird klin­geln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gera­de foto­gra­fiert. Wol­len Sie sich betrach­ten? — stop

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ground zero

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sier­ra : 18.16 — Zwei Stun­den Broad­way süd­wärts bis Ful­tonstreet. Eine klei­ne Kir­che, St Paul’s Cha­pel, Gra­nit­stei­ne, Grä­ber, ein Gar­ten unter Bäu­men. Ich ken­ne die­sen Gar­ten, die­se Bäu­me, eine Foto­gra­fie genau­er, die einen Staub­gar­ten zeigt, Sekun­den­zeit ent­fern­ter Gegen­wart, ein Bild, das im Sep­tem­ber 2001 auf­ge­nom­men wur­de, am elf­ten Tag des Monats kurz nach zehn Uhr vor­mit­tags. Hell­graue Land­schaft, Papie­re, grö­ße­re und klei­ne­re Tei­le, lie­gen her­um, Akten, Scher­ben. Auch die Bäu­me vor der Kir­che, hel­le Gestal­ten, als hät­te es geschneit, eine fei­ne Schicht reflek­tie­ren­der Kris­tal­le, Spät­som­mer­eis, das an Wän­den, Stäm­men und an den Men­schen haf­tet, die durch den Gar­ten schrei­ten, träu­men­de, schlaf­wan­deln­de, jen­sei­ti­ge Per­so­nen im Moment ihres Über­le­bens. Ein merk­wür­di­ges Licht, bei­nern, nicht blau, nicht blü­hend wie am heu­ti­gen Tag um Jah­re wei­ter­ge­kom­men. Etwas fehl­te in der Luft im Raum unter dem Him­mel über Man­hat­tan sehr plötz­lich, war so fein gewor­den, dass es von flüch­ten­den Men­schen ein­ge­at­met wur­de. Kaf­fee­tas­sen. Trep­pen­läu­fe. Hän­de. Feu­er­lö­scher. Füße. Wasch­be­cken. Nie­ren. Stüh­le. Schu­he. Com­pu­ter­bild­schir­me. Arme. Brüs­te. Kopf­scha­len. Radio­ge­rä­te. Blei­stif­te. Tele­fo­ne. Ohren. Augen. Her­zen. stop
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bronx — flug

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echo : 23.
32 — In der Däm­me­rung des Abends gegen die 241 St. zu, letz­te Sta­ti­on weit oben im Nor­den. Eine hal­be Stun­de Tief­flug über stei­ner­ne Land­schaf­ten der Bronx, Miet­haus­ka­ser­nen, rot, grau, rußig schwarz. Nach und nach leert sich der Zug, aber da drau­ßen, da unten hin­ter den schep­pern­den Schei­ben des Zuges, geräusch­los, stumm, Stra­ßen­zü­ge vol­ler Men­schen bis zum Hori­zont. Und wie sich die Licht­mem­bra­nen dann beru­hi­gen, wie wir lang­sa­mer und lang­sa­mer wer­den, der schma­le Kopf eines metal­le­nen Füh­lers, unser Bahn­steig, an den der Zug sich müde lehnt wie ein Schiff an einen Lan­dungs­steg nach lan­ger Rei­se. Wald, wild und dor­nig, jen­seits der Schie­nen, blü­hen­de Grä­ser erhe­ben sich vom brü­chi­gen Boden. Eine Bank, war­mes Holz, auf dem ich sit­ze, rot leuch­ten­de Fal­ter eilen west­wärts. Weit ent­fernt, am ande­ren Ende des schla­fen­den Zuges noch, die Gestalt einer Frau mit Besen, die sich durch die schim­mern­de Schlan­ge fädelt, eine Frau von schwar­zer Haut­far­be. Sie trägt kräf­ti­ge Schu­he und einen Over­all. Als sie bei mir ankommt, zögert sie kurz, will wis­sen, was ich hier tue, sel­te­ne Erschei­nung, for­mu­liert so rasend schnell, dass ich ihr kaum fol­gen kann. Bald geht sie wei­ter, schleift ihren Besen hin­ter sich her, macht den Zug zu Ende, kommt wie­der zurück, setzt sich neben mich, spricht wie in Zeit­lu­pe mit leicht erho­be­ner Stim­me: I — s — - t – h — a — t — - s — l – o — w — - e – n — o — u – g – h ?
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bleistiftschreibmaschine

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sier­ra : 0.08 — Lau­re Wyss. Sie bemerkt um 22.38 MESZ, man wür­de ihre Gesell­schaft ver­mut­lich des­halb mei­den, weil sie ger­ne gan­ze Bücher erzäh­le. Ihr fei­nes, von der Zeit gewirk­tes Gesicht. Ja, fährt sie lachend fort, das Älter­wer­den, das ist ein Pro­zess, viel­leicht der Schwie­rigs­te, weil es der letz­te ist. Aber er hat auch sein Gutes. Es wird immer kla­rer, was wich­tig ist im Leben. Es ist eine Art Ver­ein­fa­chung. Es ist auch eine Zeit des Abschieds. Aber merk­wür­di­ger­wei­se berei­chernd, nicht nur trau­rig. – Lau­re Wyss besaß drei Schreib­ma­schi­nen. Mit der weichs­ten die­ser Maschi­nen, ihrer Blei­stift­schreib­ma­schi­ne, notier­te sie Gedichte.
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amerikafahrt

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marim­ba : 0.02 — Sekun­den­brief­mar­ke aus dem Jahr 1959, zu einer Zeit notiert, da ich selbst, auch als Idee, noch nicht gebo­ren war: Das Taxi war groß wie eine Loko­mo­ti­ve. Und es war grell­gelb ange­stri­chen wie ein deut­scher Brief­kas­ten. Auf sei­nem Dach funk­te es blau­ro­te Licht­si­gna­le, sie ähnel­ten dem blit­zen­den wach­sa­men Auge der Poli­zei, und für eine Wei­le hat­te ich das Gefühl, ein Ehren­gast zu sein, der eskor­tiert und ohne Berüh­rung mit Land und Leu­ten an ein Ziel gebracht wer­den soll. Die Pols­ter des Wagens waren hart, und der nack­te Stahl­bo­den war schmut­zig; man bot dem Fahr­gast den Trans­port, man bot ihm nicht mehr. Andau­ernd erreich­ten den Wagen­len­ker durch die Luft gesand­te Bot­schaf­ten; Unsicht­ba­re spra­chen zu ihm, beschwo­ren ihn, quäl­ten ihn, hetz­ten ihn. Zuwei­len ant­wor­te der Mann den Stim­men der befeh­len­den Luft­geis­ter. Wolf­gang Koep­pen A m e r i k a f a h r t
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