echo : 0.10 — Ich bin noch immer leicht verwirrt von dem, was vor wenigen Minuten passierte. Ein Blitz ist möglicherweise in nächster Nähe eingeschlagen. Ich erinnere mich, ich hatte meine Fenster geöffnet, es begann heftig zu regnen, dann wurde es plötzlich still. Ich lehnte noch an der Wand meines Arbeitszimmers. Es roch ein wenig nach Metall, meine Zunge schmeckte nach einem Löffel von Zinn, wie früher, sobald ich ein Frühstücksei öffnete. Wenn ich mir Mühe gebe, kann ich mit meinem linken Ohr ein leises Summen vernehmen, das eventuell nicht außen, sondern innen in meinem Kopf sich ereignet. Rechts ist wirkliche Stille. Aber ich kann sehen, mit beiden Augen sehen. Ein Vogel sitzt auf meinem Sofa, er scheint zu brennen, weswegen ich mich sofort auf den Weg machen werde, ein Glas Wasser zu holen. Es ist seltsam, tatsächlich ist die Erfahrung der Gehörlosigkeit in dieser Nacht, die Erfahrung vollständiger Abwesenheit eines Teiles meines Kopfes. – stop
Aus der Wörtersammlung: sehen
postkarte nach brooklyn
india : 0.58 — Eine Postkarte. Auf ihrer Vorderseite war ein blühendes Mohnblumenfeld zu sehen, auf ihrer Rückseite wurde in englischer Sprache handschriftlich notiert. Abgeschickt wurde das Dokument aus einer nördlichen Gegend Europas in Richtung Brooklyn, New York. Ein Mann schrieb Folgendes an eine Frau namens Mary, ich übersetzte: Meine geliebte Mary, wir fahren seit einer Woche über das Land, das rot ist vom Mohn. Ich denke an Dich, während ich in die Pedale trete. Du bist nah, meine Liebste. Wir haben immer Gegenwind, weil wir in die falsche Richtung fahren. Abends und auch am Tag trinken wir Wein, weil wir hier trinken können, wie wir wollen, ohne uns verstecken zu müssen. Manchmal glaube ich darum, dass Du wirklich da bist und dann muss ich sofort vor Schreck langsamer fahren und am besten absteigen und mich nach Dir umsehen. Es ist wundervoll, in einem Mohnfeld zu liegen. Ich werde meine Postkarte an Dich heute Abend heimlich aufgeben. Vielleicht wird sie eine Überraschung werden für Dich. Dein Martin — stop
zerstreuung
marimaba : 6.36 — In einer Filmdokumentation, die den Schriftsteller Jonathan Franzen fünf Tage lang während einer Lesereise begleitet, folgende berührende Szene, die sich im New Yorker Arbeitszimmer des Autors ereignet. Jonathan Franzen hält seine Schreibmaschine, ein preiswertes Dell – Notebook, vor das Objektiv der Kamera. Er deutet auf eine Stelle an der Rückseite des Gerätes, dort soll früher einmal ein Fortsatz, eine Erhebung zu sehen gewesen sein. Er habe diesen Fortsatz eigenhändig abgesägt. Es handelte sich um eine Buchse für einen Stecker. Man konnte dort das Internet einführen, also eine Verbindung herstellen zwischen der Schreibmaschine des Schriftstellers und der Welt tausender Computer da draußen irgendwo. Jonathan Franzen erklärt, er habe seinen Computer bearbeitet, um der Versuchung, sich mit dem Internet verbinden zu wollen, aus dem Weg zu gehen. Eine überzeugende Tat. Im Moment, da ich diese Szene beobachte, bemerke ich, dass die Verfügbarkeit von Information zu jeder Zeit auch in meinem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zerstreuung, Beliebigkeit erzeugen kann. Ich scheine in den Zeichen, Bildern, Filmen, die hereinkommen, flüssig zu werden. Dagegen angenehme Gefühle, wenn ich die abgeschlossene Welt eines Buches in Händen halte. Früher einmal, sobald ich spazieren ging oder auf eine Reise, zur Arbeit, ins Theater oder sonst wohin, verließ ich niemals das Haus, ohne eines meiner zerschlissenen Unterwegsbücher mit mir zu nehmen. Wenn ich einmal doch kein Buch in der Hand oder Hosentasche bei mir hatte, sofort das Gefühl, unbekleidet oder von Leere umgeben zu sein. Als ob ich einen immerwährenden Ausweg in meiner Nähe wissen wollte, ein Zimmer von Wörtern, in das ich mich jederzeit, manchmal nur für Minuten, zurückziehen konnte, um fest zu werden. Da waren also Bücher von Malcolm Lowry, Kenzaburo Oe, Truman Capote, Friederike Mayröcker, Walter Benjamin, Janet Frame, Georg C. Lichtenberg, Heinrich von Kleist, Monika Maron, Alexander Kluge, Bohoumil Hrabal, Johann Peter Hebel, Patricia Highsmith, Elias Canetti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzensberger. Irgendwann, weiß der Teufel warum, hörte ich auf damit. Und doch trage ich noch immer ein Buch in meiner Nähe. Ich trage meine Straßenbücher nicht länger in der Hand, ich trage meine Straßenbücher im Rucksack auf dem Rücken. — stop
frankie
~ : malcolm
to : louis
subject : FRANKIE
date : june 9 12 0.05 a.m.
Samstag. Nacht. Gute Nachrichten sind zu übermitteln. Endlich haben wir ein Eichhörnchen gefangen, Central Park, Höhe 76. Straße, ein großes, graues Tier. Wir haben ihm den Namen Frankie verpasst. In diesem Moment schläft Frankie tief und fest. Es ist kaum zu glauben, dass wir seinen kleinen runden Bauch, der sich vor unseren Augen hebt und senkt, in wenigen Stunden öffnen werden. Arme und Beine sind bereits am Tisch befestigt, ein Anblick, der nicht gut zu ertragen ist. Frankie wirkt hilflos, erbärmlich, wie er hingestreckt vor unseren Augen ruht. Als wir ihn badeten, wachte er vom Wasser auf, das er vielleicht nicht gewohnt ist, und zeigte seine kräftigen Zähne. Ich nehme an, er wird in diesem Moment weder hören noch sehen, nur träumen oder auch nicht. Da wir nun alles auf das Sorgfältigste vorbereitet haben, Satellitensender wie USB-Datenträger liegen bereit, bitten wir um präzise anatomische Anweisung, in welche Tiefe wir das Material in Frankies Körper zu versenken haben. Wie lange Zeit sollten wir Frankie nach Operation narkotisieren? Wann könnten wir ihn wieder in die Freiheit entlassen? Antworten Sie bitte rasch! Ihr Malcolm / codewort : hibiskusblüte
empfangen am
9.06.2012
1281 zeichen
sommernachmittag
charlie : 6.24 — Einmal, vor ein oder zwei Jahren, saß ich einige Stunden lang an der Seite meines Vaters vor seinem Schreibtisch. Wir sahen Notizen durch, die er seit der Studienzeit auf Zetteln niederlegte. Da waren nun Zettel aus jüngerer Zeit gewesen und Zettel, die er bereits vor 10 oder 20 Jahren notierte, Adressen, Telefonnummern, Verzeichnisse, auch philosophische Bemerkungen, Formeln, Passwörter. Wir versuchten gemeinsam zu unterscheiden, was noch wichtig war und was vielleicht zur Seite gelegt werden konnte. Mein Vater kämpfte an diesem Tag des Sortierens um jeden einzelnen seiner Zettel. Wenn ich das Zimmer einmal kurz verlassen hatte, um Milch oder Tee zu holen, konnte ich vom Flur her sehen, wie sich seine rechte Hand bemühte, Zettel, die wir dem Verschwinden übereignet hatten, in die Abteilung UNVERZICHTBAR zurückzuholen, ein lustiges Spiel. Ich setzte mich bald zurück an den Tisch und wir taten beide so, als ob in der kurzen Zeit meiner Abwesenheit nichts geschehen wäre. Draußen vor dem Fenster regnete es ohne Unterbrechung. Wir sprachen wenig. Immerzu bewegte ich mich zu schnell. Manchmal schlief mein Vater ein. Das war an einem Sommernachmittag gewesen. — stop
pseudonym no 5
ulysses : 6.05 — Gestern war das Wetter schön, ich suchte spazierend im Park nach einem Namen für mein Pseudonym No 5. Sobald ich glaubte, einen geeigneten Namen gefunden zu haben, sagte ich ihn laut vor mich hin, ich sagte zum Beispiel: Felix Mayer Kekkola. Als Nachmittag geworden war, gefiel mir dieser Name noch immer, ich hatte Lilli M. Murphy bereits verworfen, auch Kaspar Joe Weidemann und weitere Namen waren gründlich vergessen. Ich notierte den gewählten Namen Felix Mayer Kekkola in mein Notizbuch und ging nach Hause. Es ist seltsam, ich war mit meinem neuen Namen an der Seite stark unruhig bis in den Abend hinein. Ich konnte mir diese Unruhe zunächst nicht erklären, dann hatte ich die Idee, dass ich nachsehen sollte, ob der Name Felix Mayer Kekkola vielleicht im Internet schon längere Zeit existiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der diesen Namen verwendet, um sich zu verbergen und zu veröffentlichen in ein und demselben Moment. Mehrfach prüfte ich mit Suchmaschinen die Existenz einer Spur. Kein Ergebnis für „Felix Mayer Kekkola“ war zu finden. Ich könnte nun also erstens annehmen, dass ein Mensch, der diesen Namen trägt, nicht existiert, was sicher nur sehr vorsichtig formuliert werden darf. Zweitens könnte ich jenen feinen Namen nun für mich besetzen, okkupieren sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen, was in dieser Sekunde genau so geschieht, indem ich meinen Text in die digitale Sphäre sende. — stop
handohren
~ : oe som
to : louis
subject : HANDOHREN
date : may 27 12 3.05 a.m.
Lieber Louis, Mitternacht ist längst vorüber. Ich bin ruhig, aber ich kann nicht schlafen. Seit Tagen geht das so mit mir, dass ich die Augen schließe und doch wach liege, zumindest nicht wirklich auf die andere Seite gelange. Ich spüre wie sich das Schiff auf und ab bewegt, manchmal erhebe ich mich und gehe spazieren an Deck, oder ich besuche Lin, die sich für den Monat Mai in Nachtschicht befindet. Seit drei Tragen sitzt sie in der Werkstatt an der Übertragung des Romans Molloy von Samuel Beckett. Ich darf ihr zusehen, wie sie Zeichen für Zeichen aus dem papierenen Buch kopiert, eine geschmeidige Bewegung, sie schreibt, ohne ihren Blick auf den Stift zu richten. Jedes Wort, das sie in Angriff nimmt, wird zunächst in den Raum geflüstert: Wachtelkönig. Als ob sie eine Anweisung geben würde, als ob ihre schreibende Hand über geheime Ohren verfügte. Ich wünschte mir, ich könnte ihre Hände einmal eingehend untersuchen, einen Bericht schreiben über die Entdeckung der Handohren kurz nach Mitternacht auf einem Schiff vor Neufundland. Eigentlich, lieber Louis, wollte ich Dir von meinem ersten Besuch bei Noe in der Tiefe berichten, was ich dort gesehen habe, seine Augen wie sie meine Augen betrachteten durch das Panzerglas. Ich denke, ich bin noch nicht so weit. Ich werde Dir ausführlich notieren, sobald ich einmal eine Nacht durchgeschlafen habe. Es ist möglich, dass ich das Tauchen nicht vertrage oder Noe’s hellen Blick vielleicht, der mich verfolgt, ich gebe das zu, Noe’s Blick verfolgt mich. Manchmal denke ich, dass nicht richtig ist, was wir tun. Gute Nacht! Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
27.05.2012
1620 zeichen
kamele
echo : 0.02 — Im Traum konnte ich mein eigenes Herz sehen. Ich war durchsichtig geworden, Haut, Fleisch, Knochen. Saß an einem Tisch. Warum auf dem Tisch eine kleine Eisenbahn im Kreis fuhr, kann ich nicht sagen. Die Lokomotive dampfte. Eine Karawane durchsichtiger Kamele wanderte kreuz und quer. Alles das Kleine war von der Farbe des Schnees. Ich erwachte. Dunkle, zornige Gewitterwolken zogen unter glücklichen, weißen Cumuluswolken über der Stadt. — Man sieht es den Bäumen am Morgen nicht an, aber sie schlafen. — stop
leuchtfeuer
echo : 8.01 — Die Wiederholung einer Nachtzeit vor wenigen Stunden noch. Regen. Das Geräusch des Wassers, ein Geräusch des Bodens, der Stämme, der Dächer, der Regenrinnen. Vielleicht, weil in ihm Zeit enthalten ist, Tropfen für Tropfen zu einer regelmäßigen Bewegung, höre ich dieses Geräusch als ein beruhigendes Geräusch. Oder auch deshalb, weil ich das Wesen der Kiemenmenschen in mir trage, weil ich von Menschenwohnungen erzähle, die unter Wasser stehen. An diesem kühlen Morgen ist etwas Wesentliches festzuhalten, ein angenehmes Wort, das Wort Leuchtfeuer. Und dass ich von Kranichen träumte, ja träumte, selbst ein Kranich unter Kranichen zu sein. Wir flogen eine Küste entlang. Ich erinnere mich, dass ich durstig gewesen war, weil viel Sonne vom Himmel brannte. Die Kraniche bemerkten bald, dass mich die Hitze quälte. Sie suchten nach meinem Schnabel, um mich mit Wasser zu füttern. Aber ich hatte keinen Schnabel, sondern einen menschlichen Mund, weshalb sie bald aufgaben, mich füttern zu wollen. Stattdessen näherte sich einer nach dem anderen, um nachzusehen, welch seltsamer Vogel mit ihnen nach Norden flog. — stop
ein inspektor der stille
sierra : 16.05 — Seit einigen Tagen spaziert ein drahtiger Herr von kleiner Gestalt in meinem Kopf herum. Er ist so deutlich zu sehen, dass ich meinen könnte, ich würde ihn einmal persönlich gesehen haben, eine Figur, die durch die Stadt New York irrt auf der Suche nach Lärmquellen, die so beschaffen sind, dass man ihnen mit professionellen Mitteln zu Leibe rücken könnte, Hupen, zum Beispiel, oder Pfeifgeräusche jeder Art, Klappern, Kreischen, verzerrte Radiostimmen, Sirenen, alle diese verrückten Töne, die nicht eigentlich begründet sind, weil sie ihre Ursprünge, ihre Notwendigkeit vielleicht längst verloren haben im Laufe der Zeit, der Jahre, der Jahrzehnte. Ich erinnere mich in diesem Moment, da ich von meiner Vorstellung erzähle, an einen schrillen Ton in der Subway Station Lexington Avenue / 63. Straße nahe der Zugangsschleusen. Dieser Ton war ein irritierendes Ereignis der Luft. Ich hatte bald herausgefunden, woher das Geräusch genau kam, nämlich von einer Klingel mechanischer Art, die über dem Häuschen der Stationsvorsteherin befestigt war. Diese Klingel schien dort schon lange Zeit installiert zu sein, Kabel, von grünem Stoff ummantelt, die zu ihr führten, waren von einer Schicht öligen Staubes bedeckt. Äußerst seltsam an jenem Morgen war gewesen, dass ich der einzige Mensch zu sein schien, der sich für das Geräusch interessierte, weder die Zugreisenden, noch die Tauben, die auf dem Bahnsteig lungerten, wurden von dem Geräusch der Klingel berührt. Auch die Stationsvorsteherin war nicht im mindesten an dem schrillenden Geräusch interessiert, das in unregelmäßigen Abständen ertönte. Ich konnte keinen Grund, auch keinen Code in ihm erkennen, das Geräusch war da, es war ein Geräusch für sich, ein Geräusch wie ein Lebewesen, dessen Existenz nicht angetastet werden sollte. Wenn da nun nicht jener Herr gewesen wäre, der sich der Klingel näherte. Er stand ganz still, notierte in sein Notizheft, telefonierte, dann wartete er. Kaum eine Viertelstunde verging, als einem U‑Bahnwaggon der Linie 5 zwei junge Männer entstiegen. Sie waren in Overalls von gelber Farbe gehüllt. Unverzüglich näherten sie sich der Klingel. Der eine Mann faltete seine Hände im Schoss, der andere stieg auf zur Klingel und durchtrennte mit einem mutigen Schnitt die Leitung, etwas Ölstaub rieselte zu Boden, und diese Stille, ein Faden von Stille. — stop