lima : 0.06 UTC — Einmal, vor langer Zeit, traf ich einen Freund. Seine Frau war kurz zuvor gestorben. Wir saßen in einem Café im botanischen Garten. Mein Freund erzählte von der Seefahrt als junger Mann in Maschinenräumen, von himmelblauen finnischen Winternächten, Polarlichtern, Kerzen. Seine Traurigkeit an diesem Tag, weil er einsam geworden war, weil er sein eigenes Altwerden spürte. Er erzählt von den letzten Tagen seiner Frau. Wie sie aufräumte in der Wohnung, wie sie Bücher beschriftete, dann wieder ins Krankenhaus, in Sicherheit, aber ohne zu viel Morphium, um nicht einzuschlafen. Die letzten 30 Stunden war sie dann doch bewusstlos gewesen. Einmal sprach sie wunderschöne Sätze für ihn auf den Anrufbeantworter, die er versehentlich löschte. Auf Magnetbändern, 30 Jahre sind sie alt, finden sich Aufnahmen, das weiß er genau, der Cembalistin, aber es fehlt das Abspielgerät dazu. Es geht mir ans Herz, wie ich den alten Mann in Richtung einer blühenden Kastanie davongehen sehe. Ich hatte ihn gefragt, ob er sich mit seiner Geliebten noch unterhalte, und er sagte, irgendwie schon, es ist ja so virtuell, und es kommen keine Antworten. — stop
Aus der Wörtersammlung: tage
nicht atmen
nordpol : 18.15 UTC — Heute ist ein glücklicher Tag. Der Wind rast ums Haus, nur noch wenige Stunden Zeit, Aprilwind zu sein. Und diese Bleistifte, die heute angekommen sind, so spitz und hart, wie ich sie mir kaum vorzustellen traute. Um 17 Uhr und drei Minuten erreicht mich die Nachricht der Bibliothek, Robert Walsers Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet seien eingetroffen, ich könnte sie abholen bis 18 Uhr, also dann am Mittwoch. Wie bin ich auf Robert Walser gestoßen nach langer Zeit? Nun, weil ich vor wenigen Tagen einen Mann in der Schnellbahn beobachtete, der mit einer Lupe einen Zettel studierte, auf dem Schriftzeichen zu erkennen waren, so klein, dass ich nicht vorzustellen wagte, ein menschliches Wesen könnte sie von Hand auf das Papier aufgetragen haben. Der Mann schien sehr müde gewesen zu sein, und ich dachte: Ein Mensch, der in dieser Weise schreibt, schreibt leise, warum? — stop
verwandlung
echo : 0.52 UTC — Vor wenigen Tagen führte ein Gedankenaustausch mit einer Person, die mir in der digitalen Sphäre begegnete, zu einer seltsamen Situation. Später Abend. Ich stand in der Küche und schaute aus dem Fenster und überlegte, ob es sein kann, dass ein Mensch, der meinen tatsächlichen Namen nicht kennt, weil ich mit ihm unter einem Decknamen diskutierte, in der Lage sein könnte, herauszufinden, wer ich tatsächlich bin, in welcher Stadt ich wohne, in welcher Straße noch dazu. Er hatte mich nämlich als ein Tier bezeichnet, nachdem ich ihn fragte, ob er denn jemals mit einem Menschen, der in Afrika geboren worden war, persönlich gesprochen habe. Er schrieb: Du Zecke, so können nur Schmarotzer fragen. Ich antwortete, ich müsse doch annehmen, dass er sehr viele afrikanische Menschen kenne, weil er doch andauernd über sie schreiben würde, dass man oder gar er persönlich inzwischen daran gewöhnt sei, dass Afrikaner Babys Köpfe abschneiden. Und schon wollte er mich besuchen, nicht sofort, in ein paar Tagen, vielleicht in der kommenden Woche, er würde mir dann das Licht ausknipsen. Deshalb stand ich in der Küche und überlegte. Es war kurz nach Mitternacht. — stop
prozedur
kilimandscharo : 20.02 UTC — 1 Mal im Jahr, stelle ich mir vor, wird Mr. Hemingway (Name erfunden) seine Schreibmaschine zerlegen, um jedes ihrer Einzelteile zunächst zu säubern, zu betrachten und in feine Maschinenöle zu tauchen. Eine zeitaufwändige Prozedur, größte Sorgfalt wird geboten sein, denn die Schreibmaschine ist kostbar. Schon der Großvater, ein äußerst gebildeter Mann, soll auf ihr notiert haben, weshalb sie sozusagen mittels der Zeichen, die sie auf allerlei Papiere drückte, weit in der Welt herum gekommen war. Wie nun präzise, frage ich, wird Mr. Hemingway seine Schreibmaschine in ihre Einzelteile zerlegen, wie wird er vorgehen? Vielleicht, indem er zunächst einen Plan entwickeln wird, der einzelne Schritte der Zerlegung (Demontage) derart verzeichnet, dass sie später einmal in rückwirkender Art und Weise nachvollzogen werden könnten (Montage). Sehr viele Schräubchen, Tasten, Zahnräder werden zu berücksichtigen sein, 328 Teile insgesamt. Würde nur eines dieser Schräubchen, Tasten oder Zahnräder, zu Boden fallen und verschwinden, wäre es um die Schreibmaschine geschehen, aus und vorbei. Eine riskante Geschichte. — stop
montauk
ewige kamera
papa : 0.01 — Das merkwürdige Gefühl in der particles — Arbeit beobachtet werden zu können in „Tagesechtzeit“. Oder die Vorstellung einer Verpflichtung: Ewige Kamera in der Stirn. ‑stop
raymond carver goes to hasbrouck heights / 3
sierra : 5.12 UTC — Es ist Samstag und ich habe gerade eine Meldung gelesen, die mir ein Programm meines Particles-Servers sendete, es habe nämlich irgendein Mensch, der nahe oder in Washington D.C. leben soll, einen Text besucht, der von Raymond Carver erzählt. Ich las meinen Text nach längerer Zeit wieder einmal mit älter gewordenen Augen. Und ich dachte mir, dass ich im Grunde nicht sicher sein könne, ob ein menschliches Wesen meinen Text in der Weite des World Wide Web entdeckte, oder ob eine Maschine mein Particles besuchte, die einer Spur von Schlüsselwörtern folgte. Der Text, der am 12. Dezember 2014 notiert wurde, geht so: Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich mich gestern, während ich einen Bericht über Untersuchungen der CIA-Folterpraktiken durch Ermittler des US-Senats studierte, an eine kleine Stadt erinnerte, die ich vor wenigen Jahren einmal von Manhattan aus besuchte. Ich las von Schlafentzug, von Waterboarding, von sehr kleinen, dunklen Kisten, in welche man Menschen tagelang sperrte, von Lärm, von russischem Roulette und plötzlich also erinnerte ich mich an Oleanderbäume, die ich gesehen hatte in Hasbrouck Heights an einem sonnigen Tag im Mai, an ihren Duft, an einen glücklichen Abend am Strand von Coney Island, an ein Jazzkonzert nahe der Strandpromenade. Ich notierte damals: Es ist die Welt des Raymond Carver, die ich betrete, als ich mit dem Bus die Stadt verlasse, westwärts, durch den Lincolntunnel nach New Jersey. Der Blick auf den von Steinen bewachsenen Muskel Manhattans, zum Greifen nah an diesem Morgen kühler Luft. Dunst flimmert in den Straßen, deren Fluchten sich für Sekundenbruchteile öffnen, bald sind wir ins Gebiet niedriger Häuser vorgedrungen, Eiszapfen von Plastik funkeln im Licht der Sonne unter Regenrinnen. Der Busfahrer, ein älterer Herr, begrüßt jeden zusteigenden Gast persönlich, man kennt sich hier, man ist schwarz oder weiß oder gelb oder braun, man ist auf dem Weg nach Hasbrouck Heights, eine halbe Stunde Zeit, deshalb liest man in der Zeitung, schläft oder schaut auf die Landschaft, auf rostige Brückenriesen, die flach über die sumpfige Gegend führen. Und schon sind wir angekommen, ein liebevoll gepflegter Ort, der sich an eine steile Höhe lehnt, einstöckige Häuser in allen möglichen Farben, großzügige Gärten, Hecken, Büsche, Bäume sind auf den Zentimeter genau nach Wünschen ihrer Besitzer zugeschnitten. Nur selten ist ein Mensch zu sehen, in dem ich hier schlendere von Straße zu Straße, werde dann freundlichst gegrüßt, how are you doing, ich spüre die Blicke, die mir folgen, Bäume, Blumen, Gräser schauen mich an, das Feuer der Azaleen, Eichhörnchen stürmen über sanft geneigte Dächer: Habt ihr ihn schon gesehen, diesen fremden Mann mit seiner Polaroidkamera, diesen Mann ohne Arme! Gleich wird er ein Bild von uns nehmen, wird klingeln, wird sagen: Guten Tag! Ich habe Sie gerade fotografiert. Wollen Sie sich betrachten? — stop
time
sierra : 18.32 — Das seltsame Leben der Uhren, ihre Erscheinung, oder die Geschwindigkeit, in welcher sich ihre Zeiger oder Ziffern bewegen. Immer wieder die Frage, ob Uhrwerken nicht doch zu misstrauen ist. Gerade Funkuhren scheinen Persönlichkeiten zu sein, sie laufen, ich habe das mit eigenen Augen beobachtet, manchmal rückwärts. Und so stellte ich mir vor, eine Uhr zu verwenden, um eine andere Uhr zu kontrollieren, oder mehrere Uhren einer Umgebung, in der Hoffnung, dass sie sich gleichmäßig verhalten. Diese Überlegungen sind Orten verbunden, die niemals mit Tageslicht in Berührung kommen, Räume, in welchen 28 Stunden dauernde Tage längst denkbar geworden sind. — stop
montauk
neufundland 08.10.12 uhr : zimt
olimambo : 8.10 UTC — Noe meldet sich am späten Morgen. Vermutliche Tiefe: 852 Fuß. Position: 77 Seemeilen südöstlich der Küste Neufundlands seit nunmehr 2526 Tagen im Tiefseetauchanzug unter Wasser. ANFANG 08.10.12 | | | > meine lautlos arbeitenden hände. s m a l l r e d f i s h f r o m d o w n s i d e. s t o p ob ich wohl weiterhin ein menschliches wesen bin? s t o p hier in dieser tiefe eine haltung der demut. s t o p fragen. s t o p auch fragen ohne antworten. s t o p ich frage. s t o p ich warte. s t o p und warte. s t o p habe den verdacht ein kind geworden sein. s t o p ich trage keine schuhe. r u s t y c a b l e s f r o m a b o v e. s t o p ich kann mich an mein gesicht nicht erinnern. s t o p warum? s t o p wie lange zeit bin ich bereits hier? s t o p schluss jetzt. s t o p fangen wir noch einmal von vorne an. s m a l l b l u e f i s h t o p l e f t. s t o p ich heiße noe. s t o p ich befinde mich 851 fuß tief unter dem meeresspiegel kurz vor neufundland. s t o p ich zähle fische. s t o p das radio in meinem helm macht seltsame geräusche. s t o p es geht mir gut. s t o p ich notiere : die luft die ich atme duftet nach zimt. s t o p | | | ENDE 08.12.15