marimba : 16.33 — Ich folge einer Wendeltreppe, bis ich ein flaches Dach erreiche, sofort steige ich weiter. Plötzlich befinde ich mich innerhalb der Kuppel des Doms auf einem schmalen Absatz, großartiger Ausblick in die Tiefe. Winzige Gestalten da unten vor dem zentralen Altar der Kirche, man meint sich selbst in jeder der Menschenminiaturen, die sich über den Marmorboden langsam fortbewegen, erkennen zu können. Ein Polizist sitzt nur wenige Meter entfernt vor einem Monitor, der ein Bild zeigt, das über ein Teleobjektiv aufgenommen wird. Es könnte sein, dass der Mann jene Miniaturmenschen beobachtet, die mir so ähnlich sind. Wer ist verdächtig? Wie, frage ich, müsste ich mich verhalten, um in die Andacht dieses Apparates genommen zu werden? Kann der Apparat vielleicht erkennen, ob ich Fieber habe oder nicht? In diesem Moment nimmt mich der Polizist tatsächlich ins Visier seiner persönlichen Augen, weil er bemerkte, dass ich mich für seine Instrumente interessiere. Weiter aufwärts in der Schale, die die Kuppel formt, immer im Kreis herum eine enge Wendeltreppe, bald gehe ich gebückt. Dann der Himmel und Menschen und am Horizont das Meer, und die Stadt in der Wärme flimmernd. Ich erkenne, wenn ich mich ostwärts um die Kuppellaterne der Kirche herumbewege, die Straße, in welcher sich das Haus befindet, in dem ich wohne. Gewaltige Pinienbäume, Synapsen, weit entfernt in den Gärten der Villa Borghese. Ein Mann hastet über den alten, großen Platz. Das Gespräch der Möwen in der Luft in nächster Nähe. — stop
Aus der Wörtersammlung: tief
rom : bälle
victor : 17.16 — Nah der Isola Tiberina befindet sich eine von Menschenhand gefertigte Schwelle im Bett des Tibers, die den langsam dahin reisenden Fluss zu einem reißenden Strom werden lässt. Das braun grüne Wasser ist hell geworden, blau und frisch von der eingefangenen Luft. Flaschen, Bälle, Hölzer werden zu Spielzeugen der strudelnden Walze, die sie fängt, die sie mit sich in die Tiefe nimmt, um sie kurz darauf wieder freizulassen für Sekunden. Wenn man dort sitzt und wartet, kann man sich kaum satt sehen an jener lebenslustigen Ordnung des Zufalls. Junge Menschen kauern am Ufer, schauen zu, zählen Bälle, Farben, Formen, spähen flussaufwärts, ob weitere Gegenstände sich nähern, um vom Wasser bearbeitet zu werden, bis sie sich irgendwann einmal aufgelöst haben werden oder so leicht geworden sind, dass ein Windstoß sie der Umarmung des Flusses entziehen kann. Die Wände der Tiberfassung ragen hoch hinter uns auf, zehn oder zwanzig Meter, kaum Geräusche menschlichen Lebens dringen bis hierher, Stadt und Fluss scheinen getrennt. Schwere, dunkel gefiederte Seemöwen haben vom Meer hierher gefunden. Ruhig stehen sie am Wasser, blinken mit den Augen, als wären sie Fotoapparate. Irgendwo in nächster Nähe sollen sich Fundamente Jahrtausende alter Brücken unter der Wasseroberfläche befinden. Wenn man sie einmal zu Gesicht bekommen sollte, müsste der Fluss bald verschwunden sein, verdampft wie die Spatzen, deren Spezies ich bald vergessen haben werde, dass sie je existierte. — stop
rom : winde
sierra : 8.52 — Leichter Luftzug von Süden, schwere, bleischwere Hitze. Spazierte im Kolosseum, prächtige Ruine, Theater der Grausamkeit. Da muss überall noch uralter Knochenstaub im Boden verborgen sein, Materialien vom Tiger, vom Flusspferd, von Giraffen, von Menschen. Gestern hatte der öffentliche Dienst der Stadt gestreikt, auch die Funktionäre der Arena, weswegen an diesem Tag tausende Besucher zusätzlich Zutritt wünschen. Eine lange Reihe Wartender, hunderte Meter weit in der Sonne tief unten auf der Straße. Robotermaschinen der Straßenreinigung dösen im Schatten der Pinien. Gladiatorenimitatoren stehen zur Fotografie bereit. Pferdehufe klappern die Via di San Gregorio auf und ab. Über das Forum Romanum gleich gegenüber fegt ein Wind, der sich genau auf diesen historisch bedeutenden Bezirk zu beschränken scheint, es ist ein grabender, wirbelnder Wind, Sandtürme kreisen zwischen Mauerresten, Stäube, die über das Meer geflogen kommen, von Afrika her, schmirgeln am alten Europa, verfangen sich in den Seidentüchern der Händler, die tatsächlich fliegende Händler sein könnten, weil sie viele und sich derart ähnlich sind, dass sie physikalischen Gesetzen widerstehend überall zur gleichen Zeit erscheinen. Abends sitzt dann ein Mann wie aus heiterem Himmel mit einem Protesttuch auf der Kuppel des Petersdoms. Unterhalb der Laterne, in über einhundert Meter Höhe, scheint er sich festgezurrt zu haben. Auf dem Platz bleibt er indessen von den Flaneuren unbemerkt. Er scheint viel zu klein zu sein, zu weit entfernt er selbst und auch das Tuch, auf das er etwas notierte. Zitterndes Licht, immer wieder zu sehen, eine Art Finger. Keine Morsezeichen. — stop
rom : ein flugzeug
marimba : 22.58 — Man müsste einmal ein Flugzeug erfinden, das nicht sichtbar und doch wirkungsvoll anwesend ist. Unsichtbare Sitze, auf welchen sichtbare Passagiere Platz genommen haben, durchsichtige Steuerknüppel, durchsichtige Flügel, ein durchsichtiges Leitwerk. Man sieht nun Menschen, wie sie über Taxiwaybahnen eines Flughafens schweben, gut sortiert, acht Personen zu einer Reihe nebeneinander, so sitzt man. Da und dort liegen schlampiger Weise Taschen herum, Rucksäcke, Zeitungen, auch sie sind sichtbar wie ihre Besitzer und die Benzine in den Flügeln der Maschinen, das Nest der Koffer am Flugzeugheck, jene zwei Herren mit ihren akkurat gefalteten Fliegerhauben an der Spitze der Prozession, bald wird man sehen, wie das alles fliegt sehr steil gegen den Himmel zu. Und dieser Blick nun nach unten, Seen, Straßen, Wälder, Schnee auf den Bergen, das Meer, die große Stadt im Anflug, ein rötlich brauner Fleck in einer hellen Landschaft. Es war viel Wind unterwegs und beständig das Gefühl in die Tiefe zu fallen, weil die Substanzen des Flugzeuges nicht zu sehen gewesen waren. Jetzt aber Rom. Da stehe ich mit beiden Beinen fest auf einem Boden, unter dem viel Zeitspur im Verborgenen liegt. Das Taxi, das durch das großzügige Spalier der Zedern gleitet, Schirmpinien da und dort in Steppenlandschaft jenseits der Straße. Plötzlich dichtes Häusergefüge in warmen, erdigen Farben, braun, ocker, gelb, rot, orange, an den Ampeln helle Wölkchen von Bleiluft, die aus knatternden Rollermotoren paffen. Via della Magliana, Via Portuense, Via Quirino Majorana, Via delle Fornaci, Via delle Mura Aurelie. Vor dem Haus liegen drei scheue, schlanke Katzen. Das Gespräch der Möwen auf ihrem Flug gegen Trastevere. – stop
gebete
delta : 6.46 — Das war so gewesen. Kurz nach dem Abendessen treffe ich im Zug auf einen Freund. Er kam gerade vom Gebet. Ich weiß nicht, wie er das macht, er betet an allen denkbar unmöglichen Orten, aber immer zur rechten Zeit. Wir müssen nicht mehr darüber sprechen, er ist Moslem, überzeugt, tiefgläubig, ich bin Christ, einer, der eher zweifelt, aber nicht NEIN sagen will, nicht, dass das alles Unfug ist mit den Jenseitsgeschichten. Mein Freund und ich lieben Jazz. Er ist ein Schlagzeuger von hoher Begabung, ich habe ein feines Gehör, das ist die andere Seite, mein bebendes Zwerchfell, wenn er spielt. Was das doch für ein Irrsinn wieder ist, dieser Film, diese Provokation, dass das nie aufhört, sagte er dann doch in meine Richtung. Und dass ihm das vor allem so unangenehm sei, weil wir doch wie Puppen sind, die man aufziehen kann, irgendwo eine böse satirische Zeichnung, und schon tanzen wir los. — Ja, das ist äußerst seltsam, diese Art der Kommunikation über große Entfernungen hinweg, die Menschenleben fordert. Überhaupt ist das merkwürdig, die Schöpfung, der Tod, das Erzählen von der Zeit danach, die Gesetze, die Bewertung nach Gut und Böse. Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal mit meinem Vater vor einem Fernsehgerät saß. Das war an einem Ostersonntag kurz vor 12 Uhr mittags gewesen. Auf einem Balkon in Rom stand ein alter Mann, er trug einen merkwürdigen Hut auf dem Kopf und sprach in singender Weise Verse, von welchen ich ahnte, dass es sich nur um ein Gebet handeln könnte. Das Gebet war in meinen Ohren nicht verständlich gewesen, weil es in italienischer Sprache gesungen wurde, aber dann äußerte sich der geistliche Mann plötzlich in einer mir bekannten Sprache. Meine Mutter war indessen hinzugetreten. In genau dem Moment, da der alte Mann seinen Segen erteilte, kniete sie nieder und bekreuzigte sich. Ich erinnere, mich über ihre Geste gewundert zu haben, das Knien vor einem Fernsehgerät. Genaugenommen wundere ich mich bis heute, wie der Segen wandert. — stop
von den vasentieren
tango : 3.15 — Tagelang habe ich überlegt, ob es sinnvoll ist, über die Existenz der Vasentiere weiter nachzudenken. In diesem Diskurs mit mir selbst, haben meine Vorstellungen über das Wesen und die Gestalt der Vasentiere, indessen weiter an Präzision zugenommen, ohne dass ich das zunächst bemerkte. Einmal wartete ich an einer Ampel unter einer Kastanie. Es war früher Abend und ich nutzte diese Situation des Innehaltens, um mir vorzustellen, wie es sein könnte, wenn ich eine Vase wäre. Ich hielt zunächst den Atem an, was eigentlich nicht notwendig gewesen war, Vasentiere dürfen atmen, Vasentiere müssen atmen, und versuchte mich so wenig wie möglich zu bewegen, eine innere feste Struktur auszubilden, sagen wir, eben eine Art Behälter zu sein. Das ist gut gelungen, auch nachdem ich von einer Kastanie auf den Kopf getroffen worden war, bewegte ich mich nicht. In diesem Moment wurde stattdessen deutlich, dass Vasentiere niemals flüchten, weil sie nicht flüchten wollen und weil sie nicht flüchten können, ihnen fehlen Füße und Beine. Aber sie haben Augen und Ohren, und sind von ihrer organischen Konstruktion her begabt, Formen nachzuahmen, die geeignet sind, tiefere Gewässer in sich auszubilden, das ist nicht verhandelbar. Auch nicht, dass sie das Wasser zur Versorgung der Pflanzen, welchen sie Herberge bieten, aus der Luft entnehmen, sei sie noch so trocken. Möglich ist, dass Vasentiere, die in der Lage sind, mittels ihrer Gedanken Bewegung zu formulieren, eher unglückliche Wesen sein werden, daran sollte man unbedingt denken, ehe man sich an die Verwirklichung der Vasentiere machen wird. — stop
quallenuhr
~ : oe som
to : louis
subject : QUALLENUHR
date : sept 12 12 10.22 a.m.
Ganz plötzlich, lieber Louis, habe ich Lust bekommen, Dir zu schreiben. Eigentlich wollte ich mich erst am kommenden Samstag melden, aber ein Sturm bewegt sich auf uns zu und es ist nichts zu tun, als zu warten, ob er uns mit voller Wucht treffen wird. Vermutlich ist es diese Warterei, die an unseren Nerven zerrt. Auch, dass die Tage wieder kürzer werden. Gestern haben wir einen Schwarm Tintenfische beobachtet, der unser Schiff umkreiste. Ein ungewöhnlicher Anblick, die Tiere waren schneeweiß. Wir haben einige gefangen, sie schmecken süß, wenn man sie brät, nach Brot, nach Gebäck, nach Mandeln. Beunruhigend ist, dass sie weder über Herzen noch Augen verfügen. Eine halbe Nacht haben wir einen Fisch nach dem anderen durchsucht. Als wir kein Exemplar mehr hatten, um unsere Suche fortsetzen zu können, ist Miller mit dem Beiboot losgefahren. Fast windstill ist es hier unten auf Höhe des Meeres, weit oben jedoch rasende Wolken von West nach Ost. Ja, lieber Louis, wir durchleben schwierige Tage. Und Noe, unser Noe in der Tiefe, ist von Fieber befallen. Wir haben ihn gut 150 Fuß angehoben, damit er Licht sehen kann. Seit mehreren Stunden wiederholt er eine kleine Geschichte, von der wir nicht wissen, woher sie kommt. Noe sagt, Noe stelle sich ein Zimmer vor, ein freundliches, helles Zimmer von allerfeinster Quallenhaut, ein Zimmer von Wasser, ein Zimmer von Salz, ein Zimmer von Licht. Man könnte dieses Zimmer, und alles, was sich im Zimmer befindet, das Quallenbett, die Quallenuhr, und all die Quallenbücher und auch die Schreibmaschinen von Quallenhaut, trocknen und falten und sich 10 Gramm schwer in die Hosentasche stecken. Und dann geht man mit dem Zimmer durch die Stadt spazieren. Oder man geht kurz mal um die Ecke und setzt sich in ein Kaffeehaus und wartet. Noe sitzt also ganz still und zufrieden unter einer Ventilatormaschine an einem Tisch, trinkt eine Tasse Kakao und lächelt und ist geduldig und sehr zufrieden, weil niemand weiß, dass er ein Zimmer in der Hosentasche mit sich führt, ein Zimmer, das er jederzeit auspacken und mit etwas Wasser, Salz und Licht, zur schönsten Entfaltung bringen könnte. Hier spricht Noe. Noe stellt sich ein Zimmer vor, ein freundliches, helles Zimmer von feinster Quallenhaut. — Beste Grüße. Ahoi. Dein OE SOM
gesendet am
12.09.2012
2268 zeichen
am arm
romeo : 5.25 — Ich hatte ein Gebiet meines linken Unterarmes nah des Ellbogengelenkes von Haut befreit. Arbeitete mich bis in 1 Zentimeter Tiefe voran, ohne das Bewusstsein zu verlieren. Mein Arm lag indessen flach auf dem Tisch. Beobachtete meine rechte Hand, wie sie mittels einer Pinzette Wurzeln filigraner Bäume in die Vertiefung senkte. Diese Bäume waren nicht höher als 3 Zentimeter, Ahorn war darunter, Buchen, Eichen, Erlen. Spürte, wie sie sich in meinem Körper vorantasteten. Ich wachte auf. Es war fünf Uhr in der Früh. Stare, groß wie Ameisen, ein ganzer Schwarm, geisterte durchs Zimmer. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 1001, Luftfahrt — 755, Automobile — 40231], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 6, 19. Jahrhundert – 321, 20. Jahrhundert – 886 , 21. Jahrhundert — 77 ], physical memories [ bespielt — 386, gelöscht : 6 ], Winterfliegen LH77 [ Skelettteile : 5 ], Öle [ 0.3 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 8, Kniegelenke – 32, Hüftkugeln – 22, Brillen – 761 ], Schuhe [ Größen 28 – 39 : 175, Größen 38 — 45 : 2351 ], Kühlschränke [ 57 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 3, mit Taucher – 18 ], Engelszungen [ 5 ] | stop |
schimpansen
ulysses : 2.18 — Im Traum an Vaters Grab. Hatte von der Ankunft des 200 Jahre alte Kreuzes erfahren, das wir Schmieden zur Restauration übergeben haben. Als ich mich der Grabstelle nähere, entdecke ich Mutter, die mit zwei wilden Männern diskutiert, sie knien in der Nähe des Grabes auf dem Boden. Beide tragen schwere Schürzen von Leder und sind behaart und ihre Ohren glühen und dampfen in der feuchten Luft. Mutter will wissen, warum die Schmiede das Kreuz, das sie anlieferten, derart tief in den Boden versenkten, dass nur noch seine vergoldete Spitze zu sehen ist. Die Männer lachen fröhlich. Das sei in Afrika so üblich, antworten sie, weil wilde Tiere bevorzugt an Kreuzen dieser historischen Sorte ihr Fell reiben würden, und zwar so lange, bis von dem Kreuz Vaters bald nichts mehr übrig sei. Immer wieder deuten sie in den Baum, der den Grabhügel überschattet. Die Eiche blüht wie ein Kirschbaum. Schimpansen sitzen in der Krone und fletschen ihre Zähne. Mutter indessen beginnt, das Kreuz mit bloßen Händen wieder auszugraben. — stop