Aus der Wörtersammlung: verzeichnis

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frau blum

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del­ta : 5.08 — In der Biblio­thek ent­deck­te ich vor eini­ger Zeit einen Zet­tel. Der Zet­tel steck­te in einem Buch, das ich ent­lie­hen hat­te, um nach einer Geschich­te zu suchen, die ich viel­leicht schon ein­mal gele­sen haben könn­te vor vie­len Jah­ren. Es war eine Geschich­te, die von einem Gespräch erzählt, wel­ches Frau Blum mit ihrem Milch­mann führ­te, in dem sie dem Milch­mann Bot­schaf­ten sen­de­te, ein Ver­hal­ten, das not­wen­dig gewe­sen war, weil Frau Blum übli­cher­wei­se schlief, wenn der Milch­mann früh­mor­gens das Haus besuch­te, in dem sie wohn­te. Die­se Geschich­te, ein wun­der­ba­res Stück, hat Peter Bich­sel geschrie­ben, eine gan­ze Welt scheint in ihr ent­hal­ten zu sein, obwohl sie so kurz ist, drei Sei­ten, dass man sie von einer Sta­ti­on zur nächs­ten Sta­ti­on in einer Stra­ßen­bahn rei­send Wort für Wort zu Ende lesen könn­te. Ich erin­ne­re mich, das Buch lag weich in mei­ner Hand, es war etwas schmut­zig, zer­le­sen, auf sei­ner Rück­sei­te waren eini­ge dut­zend Stem­pel­auf­trä­ge zu fin­den, so wie man das frü­her noch mach­te, Bücher mit Rück­ga­be­ter­mi­nen zu ver­se­hen, so dass jeder sehen konn­te, wie oft das Buch bereits gele­sen wor­den war. Die­ses Buch, von dem ich gera­de erzäh­le, war seit über zwan­zig Jah­ren nicht mehr aus­ge­lie­hen wor­den. Ich stell­te mir vor, dass das Bänd­chen viel­leicht hin­ter eine der Bücher­rei­hen gerutscht sein könn­te, wes­we­gen es lan­ge Zeit nicht gefun­den wer­den konn­te. Ver­mut­lich war das Buch längst ver­lo­ren gemel­det, so dass ich ein Buch­ex­em­plar in Hän­den hielt, das in den Ver­zeich­nis­sen der Biblio­thek nicht län­ger exis­tier­te. Ander­seits scheint es mög­lich zu sein, dass das Buch ver­steckt wor­den sein könn­te. Viel­leicht war es von genau jener Per­son ver­steckt wor­den, die den Zet­tel in das Buch gelegt hat­te, eine Per­son, die mög­li­cher­wei­se bereits gestor­ben ist. Das alles ist natür­lich rei­ne Spe­ku­la­ti­on, allein die Exis­tenz des Zet­tels ist sicher. Dort war in blau­er, akku­ra­ter Schrift zu lesen: Wie man einen Ver­merk schreibt, um sich an gele­se­ne Geschich­ten erin­nern zu kön­nen. – stop
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schlafen in turku

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hima­la­ya : 2.32 — Viel­leicht wer­den Sie sich erin­nern. Vom Schla­fen habe ich bereits im Jahr 2008 notiert, und zwar im Monat Novem­ber. Vor weni­gen Minu­ten, als ich nach schwe­ben­den Bal­lo­nen über der Stadt Tur­ku such­te, habe ich einen ent­spre­chen­den Text unter dem Titel “Schla­fen in Tur­ku” in den Ver­zeich­nis­sen der Goog­le-Such­ma­schi­ne wie­der­ent­deckt. Der Text ist mir noch immer nah, wes­halb ich ihn mit­ge­nom­men und an die­sem Zeit­ort ein­ge­fügt habe. Ich stel­le nun zum zwei­ten Mal die Fra­ge: Ist Ihnen viel­leicht bekannt, dass Wale, Pott­wa­le genau­er, wenn sie schla­fen, Kopf nach oben im Was­ser schwe­ben? Lang­sam sin­ken­de Tür­me, lei­se sin­gend, lei­se knat­ternd, fried­vol­le Ver­samm­lun­gen, die mit dem Golf­strom trei­ben. Wenn Sie ein­mal wach lie­gen soll­ten, wenn Sie nicht schla­fen kön­nen, weil Sor­gen Sie bedrän­gen oder ande­re schmerz­vol­le Gedan­ken, wird es hilf­reich sein, eine Tauch­fahrt zu unter­neh­men im Kopf durchs Bild der träu­men­den Wale. Oder Sie rei­sen an die Ost­see, neh­men die nächs­te Fäh­re nach Tur­ku. Sie wer­den dann schon sehen. Bal­lo­ne, zum Bei­spiel, Bal­lo­ne wer­den Sie sehen am Hori­zont, Bal­lo­ne am dämm­ri­gen Him­mel, dort müs­sen Sie hin. Alles ist gut zu Fuß zu errei­chen, eine Stun­de oder zwei, nicht län­ger, je nach Gepäck. Man wird Sie schon erwar­ten, man wird Sie freund­lich begrü­ßen, man wird Sie fra­gen, wie lan­ge Zeit Sie zu schla­fen wün­schen, wel­cher Art die Din­ge sind, die Sie zu ver­ges­sen haben, die Sie beschwe­ren. Man wird Ihren Blick zum Him­mel len­ken und Sie wer­den erken­nen, dass unter den Bal­lo­nen Men­schen schwe­ben, auf­recht und reg­los, in Dau­nen­män­tel gehüllt, von einem leich­ten Wind hin und her geschau­kelt, hun­der­te, ja tau­sen­de Men­schen. — - Stil­le herrscht. — - Nur das Fau­chen der Feu­er­ma­schi­nen von Zeit zu Zeit. - Drei Uhr drei­und­dreis­sig auf dem Mai­dan zu Kyjiw. — stop

polaroidkiemenana

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bristolhotel

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alpha : 2.26 — Fol­gen­de Per­son, ein Mann, könn­te rei­ne Erfin­dung sein. Der Mann war mir wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges auf­ge­fal­len, dass heißt, ich hat­te einen Ein­fall oder eine Idee, oder ich mach­te viel­leicht eine Ent­de­ckung. Ich könn­te von die­ser Per­son, die sich nicht weh­ren kann, behaup­ten, dass sie nicht ganz bei Ver­stand sein wird, weil sie seit lan­ger Zeit in einem Hotel­zim­mer lebt, wel­ches sie nie­mals ver­lässt. Das Hotel, in dem sich die­ses Zim­mer befin­det, erreicht man vom Flug­ha­fen der nor­we­gi­schen Stadt Ber­gen aus in 25 Minu­ten, sofern man sich ein Taxi leis­ten kann. Es ist das Bris­tol, unweit des Natio­nal­thea­ters gele­gen, dort, im drit­ten Stock, ein klei­nes Zim­mer, der Boden hell, sodass man mei­nen möch­te, man spa­zier­te auf Wal­kno­chen her­um. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigent­lich erzäh­len will. Es han­delt sich um einen wohl­ha­ben­den Mann im Alter von fünf­zig Jah­ren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haa­re auf dem Kopf, wiegt 73 Kilo­gramm, und trägt eine Bril­le. Sie­ben wei­ße Hem­den gehö­ren zu ihm, Strümp­fe, Unter­wä­sche, dun­kel­brau­ne Schu­he mit wei­chen Soh­len, ein hell­grau­er Anzug und ein Kof­fer, der unter dem Bett ver­wahrt wird. Auf einem Tisch nahe eines Fens­ters, zwei Hand­com­pu­ter. In den Anschluss des einen Com­pu­ters wur­de ein USB-Spei­cher­me­di­um ein­ge­führt. Auf dem Bild­schirm sind Ver­zeich­nis­se und Datei­na­men zu erken­nen, die sich auf jenem Spei­cher­me­di­um befin­den. Auf dem Bild­schirm des zwei­ten Com­pu­ters ein ähn­li­ches Bild, Ver­zeich­nis­se, Datei­na­men, Zeit­an­ga­ben, Grö­ßen­ord­nun­gen. Was wir sehen, sind Com­pu­ter des Man­nes, der Mann arbei­tet in Ber­gen im Bris­tol im Zim­mer auf dem Kno­chen­bo­den. Er sitzt vor den Bild­schir­men und öff­net Datei­en, um sie zu ver­glei­chen, Tex­te im Block­satz. Zei­le um Zei­le wan­dert der Mann mit Hil­fe einer Blei­stift­spit­ze durch das Gebiet der Wor­te, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Spra­che notiert wur­den, die mir unbe­kannt. Es scheint eine ver­schlüs­sel­te Spra­che zu sein, wes­halb der Mann dazu gezwun­gen ist, jedes Zei­chen für sich zu über­prü­fen. Fünf Stun­den Arbeit am Vor­mit­tag, fünf Stun­den Arbeit am Nach­mit­tag, und wei­te­re fünf Stun­den am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafel­was­ser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, See­teu­fel, Stein­butt. 277275 Datei­en sind zu über­prü­fen, 12.532.365 Sei­ten. Er scheint noch nicht sehr weit gekom­men zu sein. Die Vor­hän­ge der Fens­ter sind zuge­zo­gen, es ist ohne­hin gera­de eine Zeit ohne Licht. Ein Mäd­chen, das ihm manch­mal sei­nen Fisch ser­viert, macht ihm schö­ne Augen. Mor­gens sind die Hör­ner der Schif­fe zu ver­neh­men, die den Hafen der Stadt ver­las­sen. Es ist der 1. Dezem­ber 2013. — stop
polaroidhumming

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pseudonym No 5

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india : 6.22 — Ich ken­ne einen Mann, der lei­den­schaft­lich ger­ne Wör­ter erfin­det. Es han­delt sich bei die­sen Wör­tern um Wör­ter, die vor ihrer Ent­de­ckung in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich noch nicht exis­tier­ten. Und weil er sich nie­mals sicher sein kann, ob das Wort, das gera­de erst erfun­den wor­den ist, in der Wirk­lich­keit tat­säch­lich noch nicht exis­tiert, ver­bin­det er sei­nen Com­pu­ter mit der Such­ma­schi­ne Goog­le. Wenn das Wort, das erfun­den wur­de, in den Ver­zeich­nis­sen der Such­ma­schi­ne nicht zu ent­de­cken ist, kann er sich sei­ner Sache bei­na­he sicher sein. Das Wort oli­mam­bo­sa, zum Bei­spiel, wur­de in der ver­gan­ge­nen Woche ins Leben geru­fen, ein voll­stän­dig neu­es Wort in der digi­ta­len Sphä­re. Viel­leicht des­halb, weil der Mann im Moment sei­ner Erfin­dung sehr zufrie­den mit sich und ein wenig stolz gewe­sen war, sen­de­te er einen E‑Mailbrief an mich, um mir sei­ne Erfin­dung zu schen­ken. Er schrieb, er wür­de sich ver­wandt mit mir füh­len, da ich ähn­lich vor­ge­hen wür­de wie er selbst. Für die­se Behaup­tung habe er eine beweis­kräf­ti­ge Spur in mei­nen Par­tic­les-Archi­ven ent­deckt. Dort soll ich am 30. Mai des ver­gan­ge­nen Jah­res einen Text ver­öf­fent­licht haben unter dem Titel Pseud­onym No 5. Tat­säch­lich, ich hat­te den Text bei­na­he ver­ges­sen, wur­de fol­gen­des geschrie­ben: Ges­tern war das Wet­ter schön, ich such­te spa­zie­rend im Park nach einem Namen für mein Pseud­onym No 5. Sobald ich glaub­te, einen geeig­ne­ten Namen gefun­den zu haben, sag­te ich ihn laut vor mich hin, ich sag­te zum Bei­spiel: Felix May­er Kek­ko­la. Als Nach­mit­tag gewor­den war, gefiel mir die­ser Name noch immer, ich hat­te Lil­li M. Mur­phy bereits ver­wor­fen, auch Kas­par Joe Wei­de­mann und wei­te­re Namen waren gründ­lich ver­ges­sen. Ich notier­te den gewähl­ten Namen Felix May­er Kek­ko­la in mein Notiz­buch und ging nach Hau­se. Es ist selt­sam, ich war mit mei­nem neu­en Namen an der Sei­te stark unru­hig bis in den Abend hin­ein. Ich konn­te mir die­se Unru­he zunächst nicht erklä­ren, dann hat­te ich die Idee, dass ich nach­se­hen soll­te, ob der Name Felix May­er Kek­ko­la viel­leicht im Inter­net schon län­ge­re Zeit exis­tiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der die­sen Namen ver­wen­det, um sich zu ver­ber­gen und zu ver­öf­fent­li­chen in ein und dem sel­ben Moment. Mehr­fach prüf­te ich mit Such­ma­schi­nen die Exis­tenz einer Spur. Kein Ergeb­nis für “Felix May­er Kek­ko­la” war zu fin­den. Ich könn­te nun also ers­tens anneh­men, dass ein Mensch, der die­sen Namen trägt, nicht exis­tiert, was sicher nur sehr vor­sich­tig for­mu­liert wer­den darf. Zwei­tens könn­te ich jenen fei­nen Namen nun für mich beset­zen, okku­pie­ren sozu­sa­gen nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen, was in die­ser Sekun­de genau so geschieht, indem ich mei­nen Text in die digi­ta­le Sphä­re sen­de. – stop

ping

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PRÄPARIERSAAL : feuerherz

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nord­pol : 7.07 — In der ver­gan­ge­nen Nacht habe ich in mei­nen Ver­zeich­nis­sen nach einem E‑Mailbrief gesucht, den mir eine jun­ge Frau, Lid­wi­en, vor eini­gen Jah­ren notiert hat­te. Ich konn­te den Brief nicht fin­den, kei­ne mei­ner Such­ma­schi­nen, weil ich den Brief ver­se­hent­lich ohne Namen abge­legt hat­te. Ich erin­ne­re mich noch gut an Lid­wi­en. Sie war eine zier­li­che, freund­li­che und ziel­be­wuss­te Per­son, die mit einem leicht fran­zö­si­schen Akzent for­mu­lier­te. Ich hat­te sie ein­mal beob­ach­tet wie sie im Prä­pa­rier­saal mit ihren Hän­den in einem Säck­chen wühl­te, um kurz dar­auf inne­zu­hal­ten und die Augen zu schlie­ßen. In dem Säck­chen, das von schwar­zem, licht­un­durch­läs­si­gem Stoff gewe­sen war, befan­den sich Kno­chen einer Hand. Es war die Auf­ga­be Lid­wi­ens gewe­sen, unter den Kno­chen einen bestimm­ten Kno­chen zu fin­den und durch rei­nes Tas­ten ein­deu­tig zu iden­ti­fi­zie­ren. Ich beob­ach­te­te die jun­ge Frau, wie sie wäh­rend ihrer Suche in dem strah­lend hel­len Licht des Saa­les ste­hend die Augen schloss, als ob sie in die­ser Wei­se mit ihren Fin­ger­spit­zen in der Dun­kel­heit des Säck­chens bes­ser sehen könn­te. Ein Gespräch folg­te über Bil­der, die der Saal in Lid­wi­ens Geist erzeug­te. Kurz dar­auf erhielt ich einen Brief, in dem sie ihre Gedan­ken prä­zi­sier­te. Genau die­sen Brief such­te ich ver­geb­lich, dann erin­ner­te ich mich an den Titel eines Films, von dem die jun­ge Frau berich­tet hat­te, und schon war der Brief in mei­nen Archi­ven auf­zu­spü­ren gewe­sen. Lid­wi­en notier­te unter ande­rem fol­gen­des: Wis­sen Sie, auf die Fra­ge, ob die Bil­der aus dem Saal in mei­nen All­tag hin­über glei­ten, kann ich mit einem total auf­rich­ti­gen NEIN ant­wor­ten. Ich habe über­legt, wie das über­haupt sein kann, da muss ein Fil­ter sein und ich fin­de die­sen Fil­ter in mei­nem Gehirn wirk­lich fas­zi­nie­rend. Neu­lich habe ich ein Inter­view mit einer ehe­ma­li­gen Kin­der­sol­da­tin aus dem Sudan gese­hen, die eine Bio­gra­phie mit dem Titel FEUERHERZ geschrie­ben hat­te. Dra­ma­ti­sche Din­ge muss sie erlebt und für uns nahe­zu unvor­stell­ba­re Bil­der gese­hen haben. Auf die Fra­ge, wie sie mit die­sen grau­sa­men Bil­dern umging, ant­wor­te­te sie: Ich habe die­se Bil­der nicht beson­ders ver­ar­bei­tet, denn ES WAR UNSER ALLTAG UND WIR WAREN ES NICHT ANDERS GEWOHNT. Ich habe die­se Aus­sa­ge mit mei­nen Erfah­run­gen in Bezie­hung gesetzt. Von dem Moment an, da ich die Prä­pa­ri­er­hal­len regel­mä­ßig betre­te und vie­le Stun­den des Tages dar­in ver­brin­ge, wer­den all die toten Kör­per, all die Prä­pa­ra­te, die man auf unge­wohn­te und selt­sa­me Wei­se mit den eige­nen Hän­den bewirkt, ja gera­de zu erschafft, und der bei­ßen­de Geruch des For­mal­ins, zu mei­nem All­tag. In die­sem All­täg­li­chen, in der Rou­ti­ne, ver­lie­ren mensch­li­che Emo­tio­nen und die dazu­ge­hö­ri­gen Bil­der an Gewicht und Pola­ri­tät : Aus lei­den­schaft­li­cher Lie­be wird Freund­schaft und Zusam­men­halt, und aus Angst und Furcht wird Fata­lis­mus und Gelas­sen­heit. – Und des­halb blei­ben mei­ne Bil­der im Saal und ich las­se sie dort, wenn ich nach Hau­se zu mei­ner Fami­lie gehe. — stop

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atolle

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del­ta : 6.58 — Gegen 2 Uhr heu­te Nacht fol­gen­de Beob­ach­tung. Wenn ich um die Wort­grup­pe schwe­res Was­ser ein Ver­zeich­nis leicht­sin­ni­ger Asso­zia­tio­nen lege, ver­schwin­det der Begriff in der Gestalt eines Atolls. Ob nicht viel­leicht Erin­ne­rung in die­ser Form orga­ni­siert sein könn­te? Gedan­ken­krei­se um unter­ge­gan­ge­ne ursprüng­li­che Land­schaf­ten. — stop

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georges perec

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tan­go : 22.01 — Fol­gen­des. Immer gegen 8 Uhr in der Früh bre­chen wir auf, Geor­ges und ich. Wir gehn ein paar Schrit­te über die Rue de Javel, neh­men die 6er Metro durch den Süden, stei­gen dann um in Rich­tung Por­te Dau­phin, fah­ren mal unter, mal über der Erde im Kreis her­um, bis es Abend oder noch spä­ter gewor­den ist. So kann man gut sit­zen, zufrie­den, durch­ge­schüt­telt, Sei­te an Sei­te für vie­le Stun­den, und Men­schen betrach­ten, wie sie her­ein­kom­men, Fahr­gäs­te, wie sie im Wag­gon Platz neh­men, wie sie beschaf­fen sind, davon legen wir Ver­zeich­nis­se an, Geor­ges ein Ver­zeich­nis, und ich ein Ver­zeich­nis. Weil es aber sehr schwer ist, ein Ver­zeich­nis aller Erschei­nun­gen eines Rau­mes anzu­le­gen, der nicht gera­de erfun­den wird, eines Rau­mes, der sich fort­be­wegt, der betre­ten und ver­las­sen wird von Men­schen im Minu­ten­takt, das Ver­zeich­nis eines Rau­mes, des­sen Fens­ter sich von Sekun­de zu Sekun­de neu bespie­len, weil es also unmög­lich ist, das Ver­zeich­nis eines wirk­li­chen Rau­mes anzu­le­gen, machen wir das so : in der ers­ten Stun­de des Rei­se­ta­ges notie­ren wir ein Ver­zeich­nis der zuge­stie­ge­nen Kra­wat­ten, in der zwei­ten ein Ver­zeich­nis der Schu­he und der Strümp­fe, ein Ver­zeich­nis, sagen wir, der Geh­werk­zeu­ge und ihrer Beklei­dung, dann ein Ver­zeich­nis der Haar­trach­ten, der Taschen, der Metho­den sich im fah­ren­den Zug einen siche­ren Stand zu ver­schaf­fen, der Gesprächs­ge­gen­stän­de, der Art und Wei­se sich zu küs­sen, zu strei­ten, oder aber ein Ver­zeich­nis absei­ti­ger Gestal­ten, ein Ver­zeich­nis der Die­be, der Bett­ler, der Posau­nis­ten, der Ver­wirr­ten ohne Ziel, je ein Ver­zeich­nis der Spra­chen und klei­ner Geschich­ten, die wir aus der all­ge­mei­nen Bewe­gung zu iso­lie­ren ver­mö­gen. Von Zeit zu Zeit, wäh­rend wir so fah­ren und notie­ren, höre ich neben mir ein Lachen. Wenn Geor­ges lacht, hört sich das an, als habe er einen Vogel ver­schluckt, als lache er nur des­halb, weil er Made­moi­sel­le Moreau wie­der frei­las­sen wol­le. Dann weiß ich, Geor­ges hat etwas gefun­den, das er mir abends in irgend­ei­nem Cafe, wenn wir fer­tig, wenn Papier und Strom zu Ende sind und unser bei­der Köp­fe so voll, dass sich nichts mehr in ihnen auf­be­wah­ren lässt, vor­tra­gen wird, — „Auf Kra­wat­te gelb, zehn­zwei, leben­de Amei­se, argen­tisch, kreuz und quer. Der Code­na­me Ser­vals war Lou­viers“, sagt Geor­ges und hebt sein Glas. Fünf Glä­ser Pas­tis, fünf Glä­ser Was­ser, — dann sind wir wie­der leicht gewor­den, und weil die Luft warm ist, weil Mai ist, neh­men wir den let­zen Über­land­zug nach Nor­den oder den 11er nach Süden, dort­hin, wo die Feu­er­nel­ken blühn, und wenn es end­lich Mor­gen gewor­den ist, stei­gen wir um, öff­nen die Fens­ter und fah­ren nach Wes­ten in unse­rer Wind­ma­schi­ne spa­zie­ren. Der Regen schlägt uns ins Gesicht und wir sehen Gewit­ter auf­stei­gen und Schwe­fel vom Him­mel kom­men und wei­ßes Licht, das die Land­schaft ent­zün­det. So haben wir schon sehr schö­ne Gedan­ken über das Feu­er gefan­gen und über das Schlag­zeug in die­sem gewal­ti­gen Raum, der über uns hängt, einem Raum, des­sen zen­tra­les Ver­zeich­nis von nicht mensch­li­chen Maßen ist, so dass wir bald nur schwei­gen und auf ent­fern­te Men­schen schau­en, auf Sze­nen im rasen­den Vor­über­kom­men, auf Fil­me, die in unse­ren hin und her has­ten­den Augen der­art kur­ze Fil­me sind, dass sie einer Foto­gra­fie sehr nahe kom­men, nicht mehr Film sind und noch nicht ganz unbe­wegt. Es ist ganz so, als wür­den wir an einer gewal­ti­gen Auf­nah­me der Zeit vor­über­kom­men, an einer Foto­gra­fie, deren Gegen­wart wir nicht berüh­ren, weil wir nicht aus­stei­gen kön­nen, ohne das Leben zu ver­lie­ren, weil wir zu schnell, weil wir in einer ande­ren Zeit sind. — stop / kof­fer­text

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giuseppi logan

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hima­la­ya : 6.45 — Vor zwei oder drei Mona­ten habe ich eine Geschich­te gele­sen, von der ich mich sagen hör­te, sie sei eine Geschich­te, die ich nie wie­der ver­ges­sen wer­de, die Geschich­te selbst und auch nicht, dass sie exis­tiert, dass sie sich tat­säch­lich ereig­ne­te, eine Geschich­te, an die ich mich erin­nern soll­te selbst dann noch, wenn ich mei­nen Com­pu­ter und sei­ne Datei­en, mei­ne Notiz­bü­cher, mei­ne Woh­nung, mei­ne Kar­tei­kar­ten bei einem Erd­be­ben ver­lie­ren wür­de, alle Ver­zeich­nis­se, die ich stu­die­ren könn­te, um auf die Geschich­te zu sto­ßen, wenn sie ein­mal nicht gegen­wär­tig sein wür­de. Die­se Geschich­te, ich erzäh­le eine sehr kur­ze Fas­sung, han­delt von Giu­sep­pi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazz­mu­si­ker, ein Mann von dunk­ler Haut. Logan, so wird berich­tet, atme Musik mit jeder Zel­le sei­nes Kör­pers in jeder Sekun­de sei­nes Lebens. In den 60er Jah­ren spiel­te er mit legen­dä­ren Künst­lern, nahm eini­ge bedeu­ten­de Free­jazz­plat­ten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Dro­gen und war plötz­lich ver­schwun­den, man­che sei­ner Freun­de ver­mu­te­ten, er sei gestor­ben, ande­re spe­ku­lier­ten, er könn­te in einer psych­ia­tri­schen Anstalt ver­ges­sen wor­den sein. Ein Mann wie ein Black­out. Über 30 Jah­re war Giu­sep­pi Logan ver­schol­len, als man ihn vor weni­gen Jah­ren in einem New Yor­ker Park lebend ent­deck­te. Er exis­tier­te damals noch ohne Obdach, man erkann­te ihn an sei­nem wil­den Spiel auf einem zer­beul­ten Saxo­phon, ein­zig­ar­ti­ge Geräu­sche. Freun­de besorg­ten ihm eine Woh­nung, eine Plat­te wur­de auf­ge­nom­men, und so kann man ihn nun wie­der spie­len hören, live, weil man weiß, wo er sich befin­det von Zeit zu Zeit, im Tomp­kins Squa­re Park näm­lich zu Man­hat­tan. Es ist ein klei­nes Wun­der, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wort­bo­je Giu­sep­pi Logan in ein Ver­zeich­nis schrei­ben, das ich aus­wen­dig ler­nen wer­de, um alle die Geschich­ten wie­der­fin­den zu kön­nen, die ich nicht ver­ges­sen will. — stop
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mikobeli

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alpha : 0.22 — Die Ent­de­ckung des Wor­tes mik­obe­li ereig­ne­te sich am 20. Dezem­ber des Jah­res 2007. Ich mach­te das so: Zunächst schloss ich die Augen. Dann ver­such­te ich laut­hals Wör­ter aus­zu­spre­chen, die ich nie zuvor hör­te. Eine nicht ganz leich­te Auf­ga­be. Kurz dar­auf notier­te ich das Wort mik­obe­li auf ein Blatt Papier und prüf­te, ob das Wort in den Ver­zeich­nis­sen der Goo­gle­ma­schi­ne bereits ent­hal­ten sein könn­te. Das war nicht der Fall, ich war zufrie­den. Eini­ge Zeit, zwei oder drei Wochen lang, ver­such­te ich wei­te­re unbe­kann­te und zugleich wohl­klin­gen­de Wör­ter zu ent­de­cken, dann hör­te ich damit auf. Heu­te, Diens­tag, 4. Sep­tem­ber 2012 um kurz nach 17 Uhr MESZ, wur­de mir das Wort mik­obe­li wie­der in Erin­ne­rung geru­fen, in dem ich bemerk­te, dass nahe Tibli­si (Geor­gi­en) nach genau die­sem erfun­de­nen Wort in den Goo­g­le­ver­zeich­nis­sen gesucht wor­den war. Und weil nun das Wort mik­obe­li in mei­nem digi­ta­len Schat­ten zu fin­den war, durf­te ich für weni­ge Minu­ten einen Besu­cher aus dem Kau­ka­sus auf mei­ner Par­tic­les – Sei­te ver­zeich­nen. Erstaun­lich ist, dass das Wort mik­obe­li von mei­ner Ana­ly­se­ma­schi­ne mit­tels geor­gi­scher Schrift­zei­chen wie­der­ge­ge­ben wird, fein und weich und voll­stän­dig fremd. Irgend­ein Mensch, stell­te ich mir vor, könn­te in der­sel­ben Art und Wei­se wie ich das Wort mik­obe­li erfun­den haben und hat­te kurz dar­auf nach Spu­ren sei­ner Exis­tenz im Inter­net gesucht. Eine auf­re­gen­de Geschich­te, die sich tat­säch­lich genau­so ereig­ne­te. Bit­te mel­den! — stop

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sommernachmittag

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char­lie : 6.24 — Ein­mal, vor ein oder zwei Jah­ren, saß ich eini­ge Stun­den lang an der Sei­te mei­nes Vaters vor sei­nem Schreib­tisch. Wir sahen Noti­zen durch, die er seit der Stu­di­en­zeit auf Zet­teln nie­der­leg­te. Da waren nun Zet­tel aus jün­ge­rer Zeit gewe­sen und Zet­tel, die er bereits vor 10 oder 20 Jah­ren notier­te, Adres­sen, Tele­fon­num­mern, Ver­zeich­nis­se, auch phi­lo­so­phi­sche Bemer­kun­gen, For­meln, Pass­wör­ter. Wir ver­such­ten gemein­sam zu unter­schei­den, was noch wich­tig war und was viel­leicht zur Sei­te gelegt wer­den konn­te. Mein Vater kämpf­te an die­sem Tag des Sor­tie­rens um jeden ein­zel­nen sei­ner Zet­tel. Wenn ich das Zim­mer ein­mal kurz ver­las­sen hat­te, um Milch oder Tee zu holen, konn­te ich vom Flur her sehen, wie sich sei­ne rech­te Hand bemüh­te, Zet­tel, die wir dem Ver­schwin­den über­eig­net hat­ten, in die Abtei­lung UNVERZICHTBAR zurück­zu­ho­len, ein lus­ti­ges Spiel. Ich setz­te mich bald zurück an den Tisch und wir taten bei­de so, als ob in der kur­zen Zeit mei­ner Abwe­sen­heit nichts gesche­hen wäre. Drau­ßen vor dem Fens­ter reg­ne­te es ohne Unter­bre­chung. Wir spra­chen wenig. Immer­zu beweg­te ich mich zu schnell. Manch­mal schlief mein Vater ein. Das war an einem Som­mer­nach­mit­tag gewe­sen. — stop
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