whiskey : 3.05 — Es war gestern Nacht um kurz nach drei Uhr, da ist etwas Schreckliches geschehen. Eine Kaffeetasse fiel mir aus der Hand in genau dem Moment, da ich Esmeralda auf dem Weg von der Küche in mein Arbeitszimmer passierte. Die kleine Schnecke war mir auf dem Fußboden entgegengekommen, vielleicht wollte sie nachsehen, wo ich geblieben war. Natürlich wurde sie von der Tasse getroffen, ich hörte ein helles Geräusch, die Tasse zerbrach, Kaffee spritzte gegen die Wände, und ich dachte, dass Esmeralda diesen Unfall nicht überlebt haben könnte. Ich rief: Esmeralda! Um Himmelswillen! Und ging in die Knie. Aber anstatt eines Kalksteinscherbenhaufens, fand ich eine äußerlich vollständig intakte Schnecke vor, die sich allerdings nicht bewegte, vermutlich deshalb, weil sie erschrocken gewesen war. Ich hob sie vorsichtig auf, setzte sie in der Küche auf einen Teller und wartete. Es dauerte ungefähr drei Stunden, bis Esmeralda wieder Zeichen von Leben zeigte. In dieser Zeit wich ich nicht von ihrer Seite, berührte sie immer wieder vorsichtig, um sie zu wecken, redete ihr gut zu, einmal entschuldigte ich mich für meine Unachtsamkeit. Esmeraldas Körper schien in meinen Augen heller geworden zu sein, er schimmerte, plötzlich streckte sie einen Fühler nach mir aus und so war ich unverzüglich wieder glücklich geworden. Seither sind beinahe 24 Stunden vergangen. Ich kann in diesem Augenblick noch nicht sagen, ob Esmeraldas Krise überstanden ist, denn sie verhält sich weiterhin merkwürdig, kriecht den Rand des Tellers entlang, ohne eine Pause einzulegen, immer im Kreis herum, immer im Kreis herum. Zeitweise folgte ich ihr mit einer Lupe, um ihr Gehäuse nach Bruchspuren zu untersuchen. Nicht der kleinste Riss war zu erkennen, nicht einmal ein Abrieb, ich konnte den Ort, da die Tasse auf ihrem Gehäuse zerschellte, nicht finden. Und so läuft Esmeralda immer weiter im Kreis herum. — stop
Aus der Wörtersammlung: vorsichtig
winterschachtel
echo : 5.12 — Am Flughafen nachts ein alter Mann zwischen zwei Koffern auf einer Bank. Es war kurz nach drei Uhr. Der Mann schien nicht müde zu sein. Er trug eine Brille, die er immer wieder einmal putzte, während er mit sich selbst oder mit einem Tabletcomputer sprach, den er mit beiden Händen so weit wie möglich von seinen Augen entfernte. Er streckte deshalb beide Arme von sich und drückte außerdem seine Schultern nach vorn, diese Haltung wirkte sehr schmerzhaft, und doch schien er nicht entziffern zu können, was er zu lesen wünschte. Plötzlich bemerkte er, dass ich ihn beobachtete. Er gab mir ein Zeichen, ich sollte zu ihm kommen. Er deutete mit einem Finger auf einen dreizeiligen Text, der tatsächlich mittels sehr kleiner Zeichen gesetzt worden war. Es handelte sich um die Anweisung, ein Captcha auszufüllen. Ich las dem alten Mann vor, was präzise notiert war: Bitte vergewissern Sie sich, dass sie ein Mensch sind. Geben Sie folgendes Wort ein, um fortzusetzen / Winterschachtel. — Gut, gut, sagte der alte Mann, gut, gut. Er legte den Computer auf seine Oberschenkel und tippte sehr sorgfältig, nein vorsichtig, das entsprechende Wort in die vorgegebene Maske. Mit jedem Buchstaben wurde er langsamer. — stop
![]()
radare
kilimandscharo : 4.18 — Wie nach der Meldung eines Terroranschlages Menschen damit beginnen, ihre Umgebung abzusuchen nach Verdächtigem. M., der in Mitteleuropa lebt, erinnerte sich an L., der morgens im Zug auf dem Weg nach Hause im Koran gelesen hatte. Das war ein kleines Buch gewesen, ein Buch wie aus einer Matchbox, eine Art Minikoran oder etwas Ähnliches. L., die vor langer Zeit ihre Geburtsstadt in Sibirien verließ, befindet sich seit Wochen in einem bebenden Zustand. Sie schläft kaum noch, erzählt, dass sie sich fürchte. Ihre Mutter arbeite in einer Bibliothek der Hafenstadt Odessa. L. sagt, sie vermeide in der Öffentlichkeit laut die russische Sprache zu sprechen, auch mit der deutschen Sprache gehe sie vorsichtiger um, man höre sofort, dass sie aus dem Osten komme. Ein iranischer Freund, Z., der aus seinem Land flüchtete, um nicht in den Krieg gegen den Irak ziehen zu müssen, berichtet, er sorge sich um oder wegen der schlafenden, staubigen Männer am Flughafen, die auf ihre Flüge warteten, zurück nach Bukarest oder Sofia. — stop

im zimmer. mitternacht
olimambo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balanciere ich vor dem Bücherregal auf einem Stuhl. Noch ist Samstag. Ich erhoffe mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? Ein bemerkenswerter Satz. Wie ich von meinem Stuhl steige und wieder auf dem Boden stehe, halte ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch wurde im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Nun fällt mir auf, dass G. und J. gestorben sind, während P. und ich, der ich das Buch ausgeliehen habe, noch leben. Auch Daniil Charms ist tot und sein Übersetzer Peter Urban seit wenigen Wochen. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen 7 °C. Ich werde mich gleich auf die Suche nach meinen fünf Marienkäfern machen, die im Kühlschrank in einer Schachtel überwintern sollen. Zwei habe ich bereits entdeckt, das war vor drei Stunden gewesen, vermutlich ist das so, dass ich in dieser Minute alle Käfer aus den Augen verloren habe. Aber ich kann immerhin sagen, dass ich die Käfer gesehen, sie mir also gestern nicht eingebildet hatte. Käfer No 1 saß in der Diele nahe der Tür, als würde er warten. Käfer No 2 bewegte sich im Arbeitszimmer über das Fenster, hinter dem es stockdunkel gewesen war. Bevor ich mich auf die Suche mache, sollte ich vielleicht doch noch einmal einen Versuch unternehmen, meinen Daniil Charms zu finden. Gleich vorsichtig, nur nicht stürzen, den Stuhl besteigen. Bisweilen träumte ich, von einem Berg zu fallen. Langsam, ich gehe durchs Zimmer. Und während ich so gehe, erinnere ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südfriedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir gesprochen haben. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied war. — stop
![]()
fenster süd
echo : 2.28 — Fünf Marienkäfer sitzen auf einem Rollo, das das Südfenster meiner Wohnung von innen her verdunkelt. Sie sind klein, ungefähr so groß wie der Glaskopf einer Stecknadel. Noch nie habe ich derart kleine Käfer gesehen. Vermutlich sind sie hier in meiner Wohnung entstanden, kennen von der Welt nichts als meine Zimmer, Diele, Bad und Küche. Ich glaube, es ist noch nicht viel Zeit vergangen, seit sie geschlüpft sind, ein oder zwei Tage vielleicht. Wenn ich mich mit einer Lupe nähere, gehen sie etwas in die Knie, legen den Panzer aufgrund, und warten ab, dass sich das große Auge, das sie betrachtet, wieder zurückzieht. Eine Weile las in einer Erzählung von Julian Barnes herum, ruhte auf dem Sofa. Von dort aus konnte ich, obwohl sie wirklich sehr klein waren, die Körper der Käfer auf dem großen Weiß erkennen. Zunächst dachte ich, sie bewegten sich nicht. Wenn ich mich aber längere Zeit auf die Sätze des Buches konzentrierte, waren ihre Körper doch weitergerückt, sobald ich zum Fenster blickte. Ich dachte, dass sie sich vielleicht nur dann bewegten, wenn ich sie nicht betrachtete, dass sie also ihrerseits mich beobachteten. Wahrscheinlicher ist, dass mein Gehirn ihre langsame Art und Weise der Bewegung nicht zu erfassen vermag, weil sein Nahzeitspeicher äußerst flüchtig zu sein scheint. Einmal stand ich auf und pflückte einen Käfer vom Rollo und warf ihn vorsichtig in die Luft. Damit hatte der Käfer nicht gerechnet. Er stürzte, ohne seine Flügel geöffnet zu haben, auf die weiche Fläche meines Sofas ab. Unverzüglich schlief der Käfer ein, weil es immerhin weit nach Mitternacht geworden war. Werde selbst bald schlafen, zuvor aber fünf kleine Marienkäfer in eine Schachtel setzen, werde den Deckel der Schachtel mehrfach mit einer Gabel perforieren, und diese Schachtel in meinen Kühlschrank legen, 6° Celsius. Bald Frühling. — stop
![]()
esmeralda
![]()
tango : 22.08 — Vor zwei Tagen, später Nachmittag, überreichte mir ein schwer atmender Bote ein Päckchen, auf dessen Anschriftenseite mit wuchtigen Druckbuchstaben eine Anweisung notiert worden war: Do not shake! Der junge Mann, vielleicht um mich zu warnen, deutete auf die Schachtel in seiner Hand und sagte: Ich rieche, dass in diesem Päckchen etwas lebt! Und schon war er wieder auf der Treppe verschwunden. Tatsächlich handelte es sich bei dem Päckchen um einen Lebendtransport, der in der italienischen Hafenstadt Talamone aufgegeben worden war. Eine Schnecke hockte in einer perforierten Schachtel geduckt unter welken Blättern. Als ich das kleine Tier vorsichtig auf einen Teller setzte, machte es zunächst einen sehr müden, erschöpften Eindruck. Sein Haus schien bald vom Körper zu rutschen, auch wurde keinerlei Fluchtversuch unternommen, stattdessen saß die Schnecke nahezu ohne Bewegung und schaute mich an. Selbst, als ich mich mit einem Finger näherte, zog sie sich nicht in ihr Kalkgewinde zurück. Eine halbe Stunde lang betrachteten wir uns geduldig. Dann war später Abend geworden, ich hatte mehrfach telefoniert, der Schnecke ein Apfelstückchen angeboten, das Packpapier, in welches die Sendung eingeschlagen gewesen war, auf der Suche nach einer Botschaft oder einem Absender, eingehend untersucht, und war dann kurz spazieren gegangen. Indessen hatte sich die Schnecke in Richtung der Südwand meiner Küche in Bewegung gesetzt, war von dort aus, eine schimmernde Spur hinterlassend, weiter zur Diele hin gewandert, erreichte dort den Boden, um eine halbe Stunde später mein Arbeitszimmer zu betreten. Derart leise war die Schnecke weitergezogen, dass ich sie beinahe vergessen hätte. Dann war Samstag, der Samstag verging, zwei weitere Stückchen Apfel, und es wurde Sonntag und wieder Abend und es begann zu regnen. In diesem Moment sitzt die Schnecke einen halben Meter hoch über dem Fußboden an der Wand meines Wohnzimmers. Sie scheint zu schlafen. Wiederum ist sie nicht in ihrem Häuschen verschwunden, was höchst merkwürdig ist. — stop

oszillieren
marimba : 22.08 — Seit Monaten, wenn ich auf meinem Arbeitssofa sitze und zur Decke schaue, beobachte ich den Körper eines Käfers, der seine Position nicht zu verändern scheint. Genaugenommen sitzt der Käfer an der Wand, exakt dort, wo die Wand sich faltet, also endet. Sein Kopf ist nach unten gerichtet, als ob er mich besichtigen würde. Zunächst habe ich angenommen, der Käfer könnte schlafen. Aber nach zwei Wochen musste ich in Betracht ziehen, dass der Käfer vielleicht gestorben ist, dass er eigentlich herabfallen sollte, wenn sich nicht einer seiner Füße in einer Spalte der Tapete verhackt haben würde. Seltsam ist, dass ich keinen Wunsch verspüre, nachzusehen, ob es sich bei dem Käfer über mir um einen Schlafenden oder einen Toten handelt. Ich müsste nur einen Stuhl holen und mich dem Käfer vorsichtig nähern, vielleicht mit einem weichen Pinsel. Stattdessen schaue ich immer wieder gegen die Decke. Manchmal meine ich eine Bewegung gesehen zu haben, oder ich glaube, der Käfer sei etwas weiter nach Norden gezogen, während ich schlief. Ich muss das im Auge behalten. — stop
![]()
lunar caustic
sierra : 22.02 — Wie ich an diesem schönen warmen Sonntagabend aus dem Fenster sehe, entdeckte ich eine Eidechse, die sich bis zu mir hinauf unter das Dach vorgearbeitet hatte. Sie saß nur eine Armlänge entfernt, gelbe Augen, blaugrün schillernde Haut und beobachtete mich natürlich. Ich konnte nicht entscheiden, ob sie mich nun mit den Augen oder mit ihrer nervösen Zunge präziser zu erfassen vermochte. Ich schien ihr nicht verdächtig gewesen zu sein, das schlanke Tier flüchtete nicht. Im Gegenteil, die Eidechse kam noch näher heran, kauerte bald auf dem Fensterbrett, das warm von der Sonne war, und schaute wie ich gegen den Himmel. Es war ein schöner Himmel voll bauschiger Wolken, die sich kaum bewegten. Nach einer Viertelstunde zog ich mich vorsichtig vom Fenster zurück, hoffte, die Eidechse würde in mein Zimmer kommen, würde einige Wochen Lebenszeit bei mir verbringen, über die Wände meiner Wohnung huschen, Fliegen und Falter jagen, die meine Räume in großer Zahl bewohnen. Es ist jetzt 22 Uhr. Bislang ist am Fenster noch nichts geschehen. Ich wüsste gerne, ob es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll wäre, das kleine Tier mit etwas Fleisch oder Musik anzulocken, Strawinsky, zum Beispiel, oder Coltrane. Ja, dieser Abend ist ein sehr angenehmer Abend. Endlich ist es mir gelungen, für Mr. Oe Som eine Liste von Büchern zu erstellen, die unbedingt in die Sphäre wasserfester Lektüren transkribiert werden sollten. Ich habe folgende Auswahl übermittelt: Alice Munro Collected Stories . Louis Begley Novels . Max Frisch Montauk . Don DeLillo The Body Artist . James Salter Collected Srories . Jeffrey Eugenidis Middkesex . Bruce Chatwin The Songlines . Conrad Aiken Strange Moonlight . Samuel Beckett Krapps Last Tape . Italo Calvino Der Baron auf den Bäumen . Elias Canetti Die Stimmen von Marrakesch . Jürg Federspiel Die Ballade von der Typhoid Mary . Albert Sanchez Pinol Im Rausch der Stille . John Steinbeck Travels with Charley . José Saramago Kleine Erinnerungen . H.G.Wells The Island of Dr. Moreau . Paul Auster Red Notebook . Charles Simmons Salt Water . Jack Kerouac Book of Dreams . Malcolm Lowry Lunar Caustic . Patricia Highsmith Stories . Natalie Sarraute Kindheit . Herta Müller Herztier . Lutz Seiler Die Zeitwaage — stop

ludmilla
echo : 6.12 — Ich habe eine E‑Mail bekommen. Lesen Sie selbst: Verehrter Louis, wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie sind wohlbehalten zurückgekehrt von Ihrer Reise. Leider konnten wir uns nicht treffen, so wie noch im Januar geplant. Es ist schwieriger geworden, das Haus zu verlassen. Ich fühle mich nicht länger sicher auf der Straße. Aber auch unter meinem eigenen Dach habe ich immer wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich nehme an, es existieren längst Ideen über mich, vielleicht wird man sagen: Er könnte nun doch verrückt geworden sein. Aber natürlich weiß ich, was ich tue und wovor ich mich fürchte. Im April war ich noch lange Stunden am Strand unterwegs gewesen, besuchte meine Freundin Ludmilla, die abends vor dem Boardwalk mit ihren Freuden im kalten Seewind sitzt. Ihr gehört jetzt ein Rollstuhl, den sie von eigener Hand bewegen kann, weil sie zäh und leicht ist, Sie würden staunen. Irgendwann muss ich das Haus wieder verlassen, das ist mir Herzenswunsch, ich kann Ludmilla doch nicht verlieren, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Im Dezember wird sie 92 Jahre alt, da kann man an das Ende schon einmal denken, nicht wahr! Nun, ich will nicht klagen, bin sehr vorsichtig geworden. Wenn ich zum Einkaufen gehe einmal in der Woche, dann niemals allein, sondern immer in der Begleitung eines alten Freundes. Sie werden verstehen, dass ich seinen Namen nicht erwähne. Er ist zuverlässig, hilft mir beim Tragen der Flaschen. Was ich sonst noch benötige, lasse ich mir kommen. Ich erinnere mich, jetzt, da ich hier sitze und schreibe, dass ich als Kind einmal überlegte, eine Sprache zu erfinden, die nur ich verstehen kann. Ich hatte mir vorgenommen, alle Wörter, die ich kannte, in meine neue Sprache zu übersetzen. Ich wollte lernen, mittels dieser Wörter zu denken. Seit wenigen Tagen arbeite ich nun daran, mir genau diesen uralten Wunsch zu erfüllen. Ist das nicht wunderbar! Vielleicht werde ich mich bald wieder sicher fühlen. Seemöwen sitzen auf dem Balkon, ihre Augen wirken beizeiten so, als wären sie Objektive, die man füttern kann. Genug! Es ist Sonntag. Morgen werde ich Ihnen einen Brief von Papier übermitteln, in welchem ich eine Liste von Wörtern vermerkte, die Sie in Zukunft bitte nicht weiter verwenden, wenn Sie mir eine E‑Mail schreiben. Sie wissen, wo der Brief zu finden ist. Bis bald, mein lieber Louis. Ihr Michael – stop

kekkola
ulysses : 22.00 — Schnell erzählen, was ich entdeckte, als ich Kekkola besuchte, dem ich seit einigen Jahren verbunden bin, weil er gern sehr seltsame Dinge tut. Eigentlich ist er nicht sonderlich verrückt, vielmehr sind die Menschen verrückt, von deren Leben Kekkola erzählt. Ich habe keine Ahnung, ob sie tatsächlich jemals existierten, jedenfalls nimmt es Kekkola sehr genau damit, sie zu verstehen, sich in sie einzufühlen. Einmal soll er drei Tage lang mit einem Luftgewehr reglos auf seinem Balkon gekauert haben. Er zielte gegen einen weiteren Balkon, oder auf ein Fenster, das sich hinter diesem Balkon befand. Er wartete. Es war im Winter gewesen und es war kalt im 38. Stock, ein Schneesturm passierte, ohne Kekkola vom Balkon vertreiben zu können. Als ich gestern mit ihm telefonierte, hörte ich im Hintergrund Wassergeräusche. Ich fragte, ob er zu Hause sei und ob ich vorbeikommen solle. Ich hatte den Eindruck, dass er vielleicht Fieber haben könnte, weil er nicht sehr deutlich formulierte, schläfrig und etwas irr. Also eilte ich zu ihm. Er bemerkte noch, dass er mir nicht öffnen würde, weil er sich in einem Versuch befände, der Schlüssel zur Wohnung sei in der Lobby abzuholen. Kekkola saß im Bad auf einem Stuhl vor seiner Wanne. Um ihn herum auf dem Boden lagen Wasserflaschen, auch Whiskey, Brotstangen, Bücher und eine Decke, die ihm von den Schenkeln gerutscht sein musste. Seine Füße standen in der Badewanne in Salzwasser, das von einer grünlichen Farbe war. Es roch moorig in der Zelle gleich neben der Küche. Glücklicherweise war Kekkola noch am Leben. Er hatte tatsächlich hohes Fieber. Ich bat einen Nachbarn um Hilfe. Wir hoben seine Beine vorsichtig aus dem Wasser, sie waren schwer entzündet, an seinen Zehen begann sich die Haut vom Körper zu lösen, eine Blaukrabbe hatte sich in seine linke Wade verbissen. Kekkola’s Füße stanken fürchterlich, er fluchte, wie wir ihn ins Schlafzimmer schleppten. Vier Tage hatte er in beschriebener Haltung ausgeharrt, fünf Tage wollte er schaffen. Als ich die Badewanne, der Ausfluss war verstopft, von Hand auszuschöpfen begann, entdecke ich einen jungen Hornhecht, drei Atlantikaale, Sandwürmer, Glasscherben, Schlickgarnelen, Muschelschalen und fünf weitere Blaukrabben, die sich heftig wehrten. — stop



