Aus der Wörtersammlung: anzug

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ein junge

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india : 7.08 — Im Café No 5 unter dem Flug­ha­fen­ter­mi­nal beob­ach­te­te ich einen Mann, der sich äußerst spar­sam, lan­ge Zeit über­haupt nicht beweg­te. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Zei­tung, neben der Zei­tung Fol­gen­des: eine Tas­se Kaf­fee, ein Glas Was­ser, Zucker­wür­fel, Notiz­block und Blei­stift. Eine hal­be Stun­de ver­ging in die­ser Wei­se, die Hän­de des Man­nes ruh­ten in sei­nem Schoß. Ein­mal rück­te der Mann sei­nen Kof­fer, der hin­ter ihm an der Wand park­te, ein klei­nes Stück zur Sei­te, ein ander­mal hob er sei­ne Kaf­fee­tas­se in die Luft, um sie in einem Zug aus­zu­trin­ken. Dann wie­der kei­ner­lei Bewe­gung, der Mann schien kaum zu atmen. Er reagier­te weder auf Laut­spre­cher­durch­sa­gen noch küm­mer­te er sich um Men­schen, die das Café auf Lauf­bän­dern pas­sier­ten, es waren vie­le chi­ne­si­sche Rei­sen­de dar­un­ter, die gera­de erst aus Shang­hai und Peking in gro­ßen Flug­zü­gen ein­ge­trof­fen waren. Der Mann starr­te auf eine Schwarz-Weiß-Foto­gra­fie, die auf der Titel­sei­te einer Zei­tung abge­druckt wor­den war. Ein Jun­ge lag dort unbe­klei­det auf einer Bast­mat­te mit­ten auf einer schmut­zi­gen, feuch­ten Stra­ße. In eini­ger Ent­fer­nung, im Hin­ter­grund, war­te­ten Men­schen, die den Jun­gen beob­ach­te­ten. Der Jun­ge schwit­ze, sei­ne schwar­ze Haut war von Flie­gen bedeckt, er sah mit halb geschlos­se­nen Augen zu einem Wesen hin, das in einem Schutz­an­zug steck­te. Anstatt eines Kop­fes war auf den Schul­tern des Wesens ein Helm zu sehen, eine zer­knit­ter­te Hau­be, genau­er, die unter Luft­druck zu ste­hen schien. Das Wesen hat­te sei­ne rech­te Kunst­stoff­hand nach dem Jun­gen, der ein­sam auf dem Boden lie­gend ver­harr­te, aus­ge­streckt, es woll­te ihn viel­leicht ermu­ti­gen, auf­zu­ste­hen und zu ihm an den Rand der Stra­ße zu kom­men. Obwohl sich die Hand nicht beweg­te, ver­mit­tel­te sie den Ein­druck, dass sie sich bewegt haben muss­te und wei­ter­hin bewe­gen wür­de, weil die Stel­lung ihrer Fin­ger nur in die­ser ver­mu­te­ten Bewe­gung einen Sinn ergab. Ja, die­se Hand muss­te in der Zeit des Bil­des eine win­ken­de Hand gewe­sen sein, aber es war deut­lich zu sehen, dass der Jun­ge ver­mut­lich nicht län­ger die Kraft hat­te, auf­zu­ste­hen oder zu krie­chen oder etwas zu sagen, zu rufen, zu flüs­tern, oder die Flie­gen auf sei­nem Kör­per zu ver­trei­ben. Es war still, voll­kom­men still, nichts zu hören. — stop

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vor neufundland 22.14.08 uhr : zarte finger von licht

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lima : 2.22 — Ges­tern am Abend seit lan­ger Zeit end­lich wie­der ein Funk­spruch Noes. Ver­mut­li­che Tie­fe: 855 Fuß. Posi­ti­on: 80 See­mei­len süd­öst­lich der Küs­te Neu­fund­lands seit nun­mehr 1356 Tagen im Tief­see­tauch­an­zug unter Was­ser. Ich hör­te sei­ne schep­pern­de Stim­me gegen 2 Uhr Mor­gens mit­tel­eu­ro­päi­scher Zeit über Kurz­wel­le. Ver­trau­te Sät­ze. Dann lan­ge Zeit gewar­tet. Fol­gen­de Bot­schaft: ANFANG 22.14.08 | | | > groß­ar­ti­ge aus­sicht. s t o p lang­sam auf­stei­gen­der wal. s t o p muschel­rü­cken. s t o p kra­ter­haut. s t o p als wür­de der mond vor­über­zie­hen. s t o p lan­ge zei­ten der stil­le. s t o p lan­ge zei­ten ohne einen gedan­ken ohne einen wunsch ohne eine erin­ne­rung. s t o p blick ins was­ser. s t o p zar­te fin­ger von licht. s t o p ob mir jemand zuhört? s t o p < | | | ENDE 22.16.58

nach­rich­ten von noe »

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papiere in zügen

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del­ta : 0.08 — Ich erin­ner­te mich an einen Mann, dem ich vor zwei Jah­ren in einem New Yor­ker U‑Bahnzug begeg­net war. Der Mann saß gleich vis-à-vis, sein Rücken lehn­te an der Wand des Wag­gons, er hat­te die Bei­ne über­ein­an­der geschla­gen, trug ram­po­nier­te, blaue Turn­schu­he, und einen hell­grau­en Anzug, ein wei­ßes Hemd zudem, sowie eine grell­bun­te Kra­wat­te, deren Kno­ten locker vor einem lan­gen, schma­len Hals schau­kel­te. Ich hat­te damals den Ein­druck, dass der Mann sich freu­te, weil ich ihn beob­ach­te­te, indem er Zei­tun­gen durch­such­te, die sich auf dem Sitz­platz neben ihm türm­ten, und zwar in einer sehr sorg­fäl­ti­gen Art und Wei­se durch­such­te, jede der Zei­tun­gen Sei­te für Sei­te. Er schien Übung zu haben in die­ser Arbeit, sei­ne Augen beweg­ten sich schnell und ruck­ar­tig, wie die Augen eines Habichts, hin und her. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, sein Kopf neig­te sich dann leicht nach vorn, um mit einer Sche­re einen Arti­kel oder eine Foto­gra­fie aus der Zei­tung zu schnei­den. Das Rascheln des Papiers. Und das hel­le, zie­hen­de Geräusch der Sche­re, wie es die Sei­ten zer­teil­te. Ich notier­te in mein Notiz­buch: Ein ver­rück­ter Mann, ich wer­de ihm nie wie­der begeg­nen. Die­se Notiz habe ich heu­te bemerkt unter wei­te­ren Noti­zen, die sich mit dem gedul­di­gen Schla­fen in U‑Bahnzügen beschäf­ti­gen. Ich fra­ge mich nun, wie ich dar­auf gekom­men sein könn­te, den beob­ach­te­ten Mann als ver­rückt zu bezeich­nen. Viel­leicht des­halb, weil ich mir vor­ge­stellt hat­te, wie der Mann leben könn­te. Ich glau­be, ich stell­te mir das Leben eines Ver­rück­ten vor. In sei­ner Woh­nung türm­ten sich Zei­tun­gen, Tische, Stüh­le, Schrän­ke exis­tier­ten nicht, aber ein Bett, das von Papie­ren bedeckt war. Auch in der Woh­nung, oder gera­de eben dort, wur­den Zei­tun­gen durch­sucht, neue­re oder älte­re Zei­tun­gen, die der Mann wäh­rend sei­ner täg­li­chen Spa­zier­fahr­ten durch die Stadt mit sich nahm. Eigent­lich las der Mann die Zei­tun­gen nicht wirk­lich, son­dern nur Über­schrif­ten. Sobald er eine bemer­kens­wer­te Über­schrift ent­deck­te, wur­de der dazu­ge­hö­ren­de Arti­kel gesi­chert, Arti­kel, die sich bei­spiels­wei­se mit Blu­men, Afri­ka, Ozea­no­gra­fie, Geheim­diens­ten, Waf­fen­sys­te­men, Hun­gers­nö­ten oder erzäh­len­der Lite­ra­tur beschäf­tig­ten. Hun­dert­tau­sen­de Schrift­stü­cke waren so über vie­le Jah­re gesam­melt wor­den, eine fas­zi­nie­ren­de Tätig­keit, eine Arbeit, die den Mann glück­lich gemacht haben könn­te, ich ver­mu­te, weil er vor sich selbst ver­heim­lich­te, dass er sei­ne gesam­mel­ten Doku­men­te nie­mals lesen wird, weil sei­ne Lebens­zeit nicht aus­reich­te, selbst dann nicht, wenn er das Sam­meln ein­stel­len und mit der Lek­tü­re sei­ner Beweis­stü­cke ohne Ver­zug begin­nen wür­de. — stop

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übersee

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tan­go : 6.36 — Am Flug­ha­fen mor­gens um 5 Uhr lehnt ein Mann an einer Wand nahe der Abflug­ter­mi­nals Rich­tung Über­see. Sein Kof­fer, als wür­de er war­ten, steht neben dem Mann ganz still. Der Mann, Augen geschlos­sen, scheint zu schla­fen. Bei­de Arme hän­gen lose am Kör­per. Als ich näher­kom­me, sehe ich, dass der Mann ein Ohr an die Wand presst. Er scheint die Wand zu belau­schen. Viel­leicht, den­ke ich, sind in der Wand alle Wör­ter gespei­chert, die in ihrer Nähe je gespro­chen wur­den. Der Mann könn­te über ein außer­or­dent­li­ches Gehör ver­fü­gen, über fra­gen­de Ohren, die Ant­wor­ten pro­vo­zie­ren. Ein Pas­sa­gen­ge­dan­ke, ein Gedan­ke im Vor­über­ge­hen, ein Sekun­den­ge­schöpf, wenn ich die­sen Mann nicht mehr­fach an genau die­ser Stel­le in genau die­ser beschrie­be­nen Hal­tung ange­trof­fen hät­te. Der Mann trägt einen dunk­len Anzug, Kra­wat­te, hell­brau­ne, ele­gan­te Leder­schu­he. Ich habe kei­ne Vor­stel­lung, wel­che Far­be die Far­be sei­ner Augen sein könn­te. Auch wenn ich den Mann sofort noch ein­mal erfin­de, fällt mir die Far­be sei­ner Augen nicht ein. — stop
ping

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schirmqualle

2

oli­mam­bo

~ : oe som
to : louis
sub­ject : SCHIRMQUALLE
date : dez 06 13 6.22 p.m.

Ges­tern ist Mar­len zu ihrer zwei­ten Exkur­si­on in die Tie­fe zu Noe auf­ge­bro­chen. Seit sie von ihrem ers­ten Besuch zurück­ge­kehrt war, hat­te sie nicht viel mit uns gespro­chen. Sie erzähl­te ledig­lich, dass sie sich wäh­rend der ers­ten Stun­den ihres Auf­ent­hal­tes unter der Was­ser­ober­flä­che in ihrem Tau­cher­an­zug vor allem dar­auf kon­zen­triert habe, sich mög­lichst nicht zu bewe­gen. Immer dann, wenn sie sich beweg­te, sei die Enge ihres Habi­tats deut­lich spür­bar gewor­den, sie habe dann unter Atem­not gelit­ten. Solan­ge sie sich jedoch kaum beweg­te, sei alles gut gewe­sen. Noe habe kei­ne Notiz von ihr genom­men. Sie habe sei­ne Augen bes­tens erkannt hin­ter der Schei­be sei­nes Hel­mes, aber er selbst habe nicht ein­mal ver­sucht, ihre, Mar­lens Augen, auf­zu­su­chen. Es sei ihr unheim­lich gewe­sen, ent­we­der sei Noe sehr dis­zi­pli­niert oder längst ver­rückt gewor­den. Natür­lich habe sie geschla­fen, selbst­ver­ständ­lich habe sie wäh­rend des Schla­fens ihre Augen geschlos­sen, und natür­lich kön­ne sie nicht aus­schlie­ßen, dass Noe ihr in die­ser Zeit nicht doch etwas Auf­merk­sam­keit gewid­met haben könn­te. In den lan­gen Stun­den ihres Besu­ches habe er ohne Unter­bre­chung vor­ge­le­sen. Er habe das Buch indes­sen mit sei­nen eiser­nen Hand­schu­hen fest­ge­hal­ten. Fische waren nicht in ihre Nähe gekom­men, wes­halb sie Fische nicht beschrei­ben kön­ne, aber eine blau leuch­ten­de Schirm­qual­le. Sie habe das Seil, an dem Noe befes­tigt ist, genau­er betrach­tet, es sei doch sehr dünn, auch Noe’s Atem­ver­sor­gung wir­ke höchst zer­brech­lich. Natür­lich habe sie nicht unmit­tel­bar ver­stan­den, wel­che Wör­ter und Sät­ze Noe for­mu­lier­te, obwohl sie ihm sehr nah gekom­men war. Sie habe jedoch Noe’s Stim­me mit­tel­bar über den Funk des Schif­fes gehört, eine Stim­me, wie aus einer gro­ßen Ent­fer­nung. – Wei­ter­hin Schnee­fall und hef­ti­ger Wind. Es wird früh dun­kel und spät wie­der hell. Bob ist see­krank. Ich mel­de mich wie­der. Ahoi. Dein OE SOM

gesen­det am
6.12.2013
1878 zeichen

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ping

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bristolhotel

9

alpha : 2.26 — Fol­gen­de Per­son, ein Mann, könn­te rei­ne Erfin­dung sein. Der Mann war mir wäh­rend eines Spa­zier­gan­ges auf­ge­fal­len, das heißt, ich hat­te einen Ein­fall oder eine Idee, oder ich mach­te viel­leicht eine Ent­de­ckung. Ich könn­te von die­ser Per­son, die sich nicht weh­ren kann, behaup­ten, dass sie nicht ganz bei Ver­stand sein wird, weil sie seit lan­ger Zeit in einem Hotel­zim­mer lebt, wel­ches sie nie­mals ver­lässt. Das Hotel, in dem sich die­ses Zim­mer befin­det, erreicht man vom Flug­ha­fen der nor­we­gi­schen Stadt Ber­gen aus in 25 Minu­ten, sofern man sich ein Taxi leis­ten kann. Es ist das Bris­tol, unweit des Natio­nal­thea­ters gele­gen, dort, im drit­ten Stock, ein klei­nes Zim­mer, der Boden hell, sodass man mei­nen möch­te, man spa­zier­te auf Wal­kno­chen her­um. Nun aber zu dem Mann, von dem ich eigent­lich erzäh­len will. Es han­delt sich um einen wohl­ha­ben­den Mann im Alter von fünf­zig Jah­ren. Er ist 176 cm groß, gepflegt, kaum Haa­re auf dem Kopf, wiegt 73 Kilo­gramm, und trägt eine Bril­le. Sie­ben wei­ße Hem­den gehö­ren zu ihm, Strümp­fe, Unter­wä­sche, dun­kel­brau­ne Schu­he mit wei­chen Soh­len, ein hell­grau­er Anzug und ein Kof­fer, der unter dem Bett ver­wahrt wird. Auf einem Tisch nahe einem Fens­ter, zwei Hand­com­pu­ter. In den Anschluss des einen Com­pu­ters wur­de ein USB-Spei­cher­me­di­um ein­ge­führt. Auf dem Bild­schirm sind Ver­zeich­nis­se und Datei­na­men zu erken­nen, die sich auf jenem Spei­cher­me­di­um befin­den. Auf dem Bild­schirm des zwei­ten Com­pu­ters ein ähn­li­ches Bild, Ver­zeich­nis­se, Datei­na­men, Zeit­an­ga­ben, Grö­ßen­ord­nun­gen. Was wir sehen, sind Com­pu­ter des Man­nes, der Mann arbei­tet in Ber­gen im Bris­tol im Zim­mer auf dem Kno­chen­bo­den. Er sitzt vor den Bild­schir­men und öff­net Datei­en, um sie zu ver­glei­chen, Tex­te im Block­satz. Zei­le um Zei­le wan­dert der Mann mit­hil­fe einer Blei­stift­spit­ze durch das Gebiet der Wor­te, die ich nicht lesen kann, weil sie in einer Spra­che notiert wur­den, die mir unbe­kannt. Es scheint eine ver­schlüs­sel­te Spra­che zu sein, wes­halb der Mann dazu gezwun­gen ist, jedes Zei­chen für sich zu über­prü­fen. Fünf Stun­den Arbeit am Vor­mit­tag, fünf Stun­den Arbeit am Nach­mit­tag, und wei­te­re fünf Stun­den am Abend bis in die Nacht. Der Mann trinkt Tafel­was­ser, raucht nicht, und isst gern Fisch, Dorsch, See­teu­fel, Stein­butt. 277275 Datei­en sind zu über­prü­fen, 12.532.365 Sei­ten. Er scheint noch nicht sehr weit gekom­men zu sein. Die Vor­hän­ge der Fens­ter sind zuge­zo­gen, es ist ohne­hin gera­de eine Zeit ohne Licht. Ein Mäd­chen, das ihm manch­mal sei­nen Fisch ser­viert, macht ihm schö­ne Augen. Mor­gens sind die Hör­ner der Schif­fe zu ver­neh­men, die den Hafen der Stadt ver­las­sen. Es ist der 1. Dezem­ber 2013. — stop
polaroidhumming

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marlen

2

sier­ra

~ : oe som
to : louis
sub­ject : MARLEN
date : nov 03 13 8.15 p.m.

Zum ers­ten Mal in die­sem Herbst ist Schnee gefal­len. Hel­les Licht am Nach­mit­tag, aber die Son­ne war nicht zu sehen gewe­sen. Wol­ken, fei­nes Gewe­be, berühr­ten das Was­ser, als sie sich lös­ten, begann es zu schnei­en. – Ver­gan­ge­ne Woche ist Mar­len an Bord gekom­men. Sie wird sich Noe kom­men­de Woche in einem schwe­ren Tau­cher­an­zug nähern. Wir haben dar­über gespro­chen, ob sie nicht eini­ge Tage in der Tie­fe blei­ben soll­te, ein Gespräch füh­ren Auge in Auge. Sie scheint sich zu fürch­ten vor der Enge, die sie erwar­tet, eine fröh­li­che, jun­ge Frau. Sie ver­bringt vie­le Stun­den Zeit damit, das Was­ser zu beob­ach­ten, das fast ohne Bewe­gung zu sein scheint. Aber es ist eine star­ke Strö­mung auf­ge­kom­men, wir haben zwei Moto­ren ange­wor­fen, um unse­re Posi­ti­on hal­ten zu kön­nen, das Schiff bebt. Noe berich­tet, dass er uns in der Tie­fe hören kön­ne. Noch weiß er nicht, dass er bald Besuch bekom­men wird. Er liest in die­sen Tagen Wal­ter Ben­ja­mins Geschich­ten einer Ber­li­ner Kind­heit, sehr lang­sam. Dann wie­der, nach Pau­se, Noe’s Selbst­ge­spräch: Lan­ge Zei­ten ohne einen Gedan­ken ohne einen Wunsch ohne eine Erin­ne­rung. Der Blick ins Was­ser. Zar­te Fin­ger von Licht. Höre das Geräusch der Luft. Wünsch­te, ich hät­te eine Uhr. — Ahoi, lie­ber Lou­is, DEIN OE SOM – stop

gesen­det am
3.11.2013
1311 zeichen

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marías

2

echo

~ : oe som
to : louis
sub­ject : MARÌAS
date : aug 10 13 10.58 p.m.

Seit Noe eine Bril­le trägt, liest er zügig und feh­ler­frei wie noch vor Mona­ten aus Büchern, die wir zu ihm in die Tie­fe sen­den. Als ich ihn besuch­te, war er müde von der Lek­tü­re Javier Marí­as soeben ein­ge­schla­fen. Und so konn­te ich für län­ge­re Zeit heim­lich sein Gesicht betrach­ten hin­ter der Schei­be von gepan­zer­tem Glas. Er ist blass gewor­den. Kein Wun­der, kaum Son­nen­licht an der Gren­ze zur Fins­ter­nis. Wäh­rend ich Noe betrach­te­te, wan­der­te eine Put­zer­schne­cke über sei­ne Stirn dahin. Sie stieg bald über Noes Nase abwärts, um kurz dar­auf in aller See­len­ru­he sei­ne lin­ke Wan­ge zu bewan­dern. Er scheint sich an die Exis­tenz der Tie­re auf sei­nem Kör­per gewöhnt zu haben, nach wie vor sind es fünf Schne­cken. Er wird von ihren Berüh­run­gen nie­mals wach, selbst dann nicht, wenn sie sich um sei­ne Lip­pen bemü­hen. Ich über­leg­te, wie der Geruch der Luft in Noes Anzug nach lan­ger Zeit der Abge­schie­den­heit beschaf­fen sein könn­te. Ein Schwarm Hai­füss­lie­re näher­te sich, neu­gie­ri­ge Wesen? Viel­leicht wur­den sie von Noe ange­zo­gen, einem sich lang­sam durch das Zwie­licht dre­hen­den Fin­ger. Er scheint zu fla­ckern. Ich hat­te ver­ges­sen, wie jung Noe doch ist. Ohne ihn aus der Nähe sehen zu kön­nen, nur sei­ne lesen­de Stim­me hörend, war der Tau­cher in mei­ner Wahr­neh­mung geal­tert, ohne dass ich das bemerk­te. Sein Gesicht ist schmal gewor­den. Ich ver­moch­te sei­ne Augen­bäl­le zu erken­nen, die sich unter ihren Lidern hin und her beweg­ten. Plötz­lich sah er mich an. Er lächel­te, und er sprach ein paar Wör­ter, die ich nicht ver­ste­hen konn­te, obwohl ich nur weni­ge Zen­ti­me­ter ent­fernt gewe­sen war. Ich ant­wor­te­te, ich sag­te: Noe, hör zu, Dein Vater ist gestor­ben. Da lach­te Noe, ver­mut­lich dach­te er: Der Mann ist so nah und er spricht und doch kann ich nicht hören, was er sagt. Dann mach­te ich mich an die Arbeit. Ich befes­tig­te Noes Bril­le an sei­nem Helm. — Dein OE SOM

gesen­det am
10.08.2013
2188 zeichen

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polaroidsecuso

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nummer 6

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tan­go : 3.56 — An einem Som­mer­tag gehe ich mit Tom spa­zie­ren. Er ist ein ziem­lich gro­ßer, jun­ger Mann, schlak­sig, der, wäh­rend er von sei­nen Erleb­nis­sen im Prä­pa­rier­saal erzählt, immer wie­der ein­mal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu wer­fen. Da ist näm­lich ein Fluss, Tom woll­te am Fluss spa­zie­ren, ich ahne wes­halb. Er scheint, indem er Stei­ne wirft, genau­er den­ken zu kön­nen. Hin und wie­der läuft er in den Wald, der unse­ren Weg beglei­tet und bleibt für eini­ge Minu­ten ver­schwun­den. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum fol­gen, er will mir des­halb noch eini­ge Gedan­ken notie­ren, damit ich sie aus­dru­cken kann. Weni­ge Tage nach unse­rem Spa­zier­gang kommt tat­säch­lich eine E‑Mail, eine sehr prä­zi­se Form der Beob­ach­tung. Tom: > Ich ver­su­che jetzt näher her­an­zu­ge­hen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Prä­pa­ra­ti­on des Kör­pers begon­nen. Wir haben die Kör­per auf den Tischen inspi­ziert, wir haben ein Lei­chen­pro­to­koll ange­fer­tigt, Haut­schnit­te gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unse­re Arbeits­ti­sche beu­gen. Vier von uns befin­den sich auf der einen, vier auf der ande­ren Sei­te des Tisches. Jedem von uns wur­de eine Posi­ti­on am Prä­pa­rat zuge­ord­net. Ich habe die Num­mer 6. Also arbei­te ich zu die­sem Zeit­punkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katha­ri­na. Von den Lei­chen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spü­ren bekommt. Unse­re Augen sind gerö­tet. Das ist eine Situa­ti­on, an die wir uns zunächst noch zu gewöh­nen haben. Skal­pel­le, Pin­zet­ten, Hän­de sind nur weni­ge Zen­ti­me­ter von­ein­an­der ent­fernt. Wir könn­ten uns ver­let­zen, des­halb hal­ten wir unse­re Werk­zeu­ge, als wür­den wir Blei­stif­te füh­ren. Wir zeich­nen auf sehr engen Bah­nen. Wir begin­nen in der regio praes­ter­na­lis. Dort haben die Haut­schnit­te des Assis­ten­ten Zugang erzeugt, dort kön­nen wir die Haut mit unse­ren Pin­zet­ten auf­neh­men und etwas vom Kör­per heben. Eine ers­te unsi­che­re Bewe­gung. Wir span­nen die Haut. Wir schnei­den von der sub­cu­tis in Rich­tung der gespann­ten Haut, arbei­ten von innen nach außen, arbei­ten von medi­al nach late­ral. Haben wir gespro­chen? Ich kann mich nicht erin­nern. Aber ich sehe, dass ich mei­ne Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spü­re die Erschüt­te­run­gen, die durch die Bewe­gun­gen mei­ner Freun­de in dem Kör­per her­vor­ge­ru­fen wer­den. Wenn ich mich auf­rich­te, um mei­nen Rücken zu ent­span­nen, erken­ne ich die Fort­schrit­te mei­ner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Kör­per gelöst, dass ich es zurück­klap­pen kann. Wor­an habe ich gedacht, in die­ser ers­ten Stun­de der Arbeit? Habe ich dar­an gedacht, dass ich begon­nen habe, einen Leich­nam zu zer­glie­dern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skal­pell zu füh­ren, als wür­de man damit schrei­ben. Ich kann Ihnen ver­si­chern, man geht nicht in die Tie­fe, wenn man Haut prä­pa­riert. Man packt einen Kör­per aus. Eine wah­re Gedulds­pro­be. Zen­ti­me­ter um Zen­ti­me­ter arbei­tet man sich über die Ober­flä­che des Kör­pers vor­an. Erstaun­lich, wie nah wir dem Leich­nam nach zwei Stun­den bereits gekom­men sind. — stop

polaroidwerkstatt

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robert walser

2

marim­ba

~ : oe som
to : louis
sub­ject : KORALLEN
date : jul 31 12 4.37 p.m.

Seit 552 Tagen nun befin­det sich Tau­cher Noe vor Neu­fund­land in 820 Fuß Tie­fe von einem eiser­nen Anzug umfan­gen. Es ist ein Wun­der wie gut sich Noe hält. Jeden Mor­gen, wenn ich unse­ren Funk­raum betre­te, lau­sche ich in die Tie­fe, freu mich, wenn ich Noe’s lesen­de Stim­me oder sei­nen Atem höre. Wäh­rend mei­nes Besu­ches vor Kur­zem im Mai, habe ich Koral­len­ge­wäch­se von sei­nem Gehäu­se ent­fernt, Schne­cken und ande­re klei­ne Tie­re, die sich dort fest­ge­setzt hat­ten. Ich beob­ach­te­te Noe sehr genau, sei­nen Blick, sei­ne Augen hin­ter der gepan­zer­ten Schei­be. Wie er sich doch über mei­nen Besuch gefreut hat­te, gemein­sam schau­kel­ten wir durchs Meer viel­leicht ein­hun­dert Meter eines Weges in ewi­ger Däm­me­rung auf und ab. Ich hielt mich fest an sei­nen Anzug gepresst. Kurz vor mei­ner Rück­kehr an die Was­ser­ober­flä­che frag­te ich Noe, ob er noch eine Wei­le aus­hal­ten wür­de, die­ser Blick, lie­ber Lou­is, die­ser Blick. Manch­mal den­ke ich bei mir, wir soll­ten auf­hö­ren, wir soll­ten ihn zurück­ho­len. Aber immer dann, wenn wir Noe in Bewe­gung set­zen, wenn wir ihn anhe­ben wol­len, beginnt er zu pro­tes­tie­ren, ein selt­sa­mes Geräusch, das ich so nie zuvor ver­nom­men habe. Aus dem heu­ti­gen Tag ist ein äußerst ange­neh­mer Som­mer­tag gewor­den. Das Meer voll­stän­dig ohne Bewe­gung. Flie­gen­schwär­me ste­hen dicht über dem Was­ser. Wir haben kei­ne Vor­stel­lung, woher sie kom­men und wohin sie wol­len. Noe liest mir sanf­ter Stim­me seit fünf Stun­den aus einem wei­te­ren Unter­was­ser­buch, Robert Walsers Geschich­ten, das wir vor einer Woche fer­tig­stel­len konn­ten: Es gibt Vor­mit­ta­ge in Schus­ter­werk­stät­ten, Vor­mit­ta­ge in Stra­ßen und Vor­mit­ta­ge auf den Ber­gen, und letz­te­re mögen so ziem­lich das Schöns­te auf der Welt sein, aber ein Bank­haus­vor­mit­tag gibt ent­schie­den noch mehr her. – Ahoi! Bis bald ein­mal wie­der Dein OE SOM

gesen­det am
31.07.2012
1877 zeichen

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