MENSCH IN GEFAHR: „Am 14. November erhielt der Menschenrechtsverteidiger Fray Aurelio Montero Vásquez, der sich für Migrant_innen einsetzt, einen Drohanruf von einem Mann, der angab, der Anführer eines der größten Drogenkartelle zu sein. Als Fray Aurelio Montero Vásquez den Anruf erhielt, befand er sich in einer Krisensitzung mit nationalen Ermittlungsbehörden, um über die jüngsten Entführungen von und sexuellen Übergriffe auf Migrant_innen in der Nähe von Tenosique im Bundesstaat Tabasco zu sprechen. Er gab sein Telefon an einen Angehörigen der Generalstaatsanwaltschaft Mexikos weiter, damit dieser mithören konnte. Fray Aurelio Montero Vásquez zufolge soll der Anrufer, der weiter in dem Glauben war, mit dem Menschenrechtler zu sprechen, gesagt haben: “Du bist zu weit gegangen”. Außerdem habe er gedroht, ihn anzugreifen, wenn er nicht 50.000 mexikanische Pesos (ca. 2850 Euro) von ihm erhielte. Während der Krisensitzung rief derselbe Mann noch acht weitere Male an, sodass es den Behörden möglich war, herauszufinden, dass die Anrufe aus einem nördlichen Teil Mexikos getätigt wurden. An dem Tag, als Fray Aurelio Montero Vásquez die Drohanrufe erhielt, hatte er zusammen mit Kolleg_innen der Migrantenherberge La 72 in Tenosique im Bundesstaat Tabasco Anzeige wegen der Entführung von Migrant_innen eingereicht. In den Wochen zuvor berichteten Fray Aurelio Montero Vásquez und seine Kolleg_innnen über eine starke Zunahme der sexuellen Übergriffen auf und Entführungen von Migrant_innen, von denen die meisten aus Zentralamerika stammen. Fray Tomás González, der ebenfalls in der Migrantenherberge La 72 tätig ist, hat viel zu diesen Fällen gearbeitet und in den vergangenen Wochen Sicherheitsvorfälle bei den Behörden gemeldet. Am 16. November war die Bundespolizei, die für den Schutz der Migrantenunterkunft La 72 zuständig ist, in der Umgebung nicht oft genug auf Streife gegangen und hatte die Unterkunft mehrere Stunden mitten in der Nacht und am frühen Morgen unbeaufsichtigt gelassen. Diese Polizeistreifen gehören zu den Sicherheitsmaßnahmen der Regierung, damit die Mitarbeiter_innen der Herberge ihrer Menschenrechtsarbeit weiterhin ausüben können.“ — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 7. Januar 2016 hinaus, unter »> ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: berg
nazamins schwester
echo : 5.08 — Ich träumte von merkwürdigen Tieren, die sehr flach sind und weich und außerdem schön gestaltet. Wenn man eines dieser Tiere auf einem Tisch in der Wirklichkeit vor sich liegend betrachten könnte, würde man vielleicht die Ähnlichkeit zu Briefmarken erkennen, so wie wir sie als Kinder entdecken und zu sammeln beginnen. Tatsächlich handelt es sich bei jenen Tieren, welche ich träumte, um Briefmarkentiere, die leicht sind, manche tragen die Zeichnung weiterer Tiere auf ihrem Körper, Zebras oder Schmetterlinge oder Singvögel sind häufig auf ihrem Rücken zu erkennen. An einem ihrer gezahnten Ränder sitzen sehr kleine Augen fest, dort soll sich gleichwohl ein Mund befinden, der feinste Stäube aus der Luft entnimmt, Pollensamen, Bakterien, Sporen jeder Art, davon ernähren sich Briefmarkentiere vornehmlich, es sein denn, sie werden mit feinstem Puderzucker vorsätzlich gefüttert. Briefmarkentiere sollen dort zu erwerben sein, wo man auch herkömmliche Postwertzeichen bestellen kann, sie sind zunächst nicht so preiswert wie das papierene Material, dafür mehrfach verwendbar. Um einen Brief mit einem Briefmarkentier zu versehen, legt man das betreffende Schriftstück im Kuvert auf einen Tisch, setzt nun behutsam eines der Briefmarkentiere an geeignete Stelle, nämlich genau dorthin, wo normalerweise papierene Briefmarken aufzutragen sind, und schon wird man beobachten, wie sich das Briefmarkentier mit seinem neuen Zuhause verbindet, es schmiegt sich an und ist fortan vom Brief nur noch mittels Gewalt zu trennen. Wie es jetzt leuchtet, wie es seine wunderbaren Farben zeigt, wie es mit Mustern spielt und mit Bildern, die zu Filmen werden, zu Geschichten, die das Briefmarkentier irgendwo gelernt haben muss. Und wenn nun der Brief auf die Reise geht, reist das Briefmarkentier mit ihm mit, und bleibt dem Brief so lange verbunden, bis der Brief geöffnet wird. In diesem Moment der Öffnung löst sich das Briefmarkentier von seinem Brief, der nun nicht mehr sein Brief sein kann. Es ist kaum zu glauben, aber es ist wahr, ich hab’s geträumt, das Briefmarkentier segelt sogleich durch die Luft davon, es ist schnell unterwegs, schnell wie ein Zugvogel kehrt es zu seinem Absender zurück, Tage oder auch Wochen ist es unterwegs, Schwärme von Briefmarkentieren wurden bereits in großer Höhe über dem Erdboden beobachtet. Zu Hause endlich angekommen, lungern sie dann gern an den Fenstern und warten. stop. Ende meines Traumes. stop – Nazamins Schwester wurde am vergangenen Samstag in den Bergen nahe Semdinli vermutlich von türkischer Militärpolizei getötet. Nazamins Schwester wird nie wieder erwachen. – stop
bambus vol. 2
echo : 1.08 — Wie Menschen nun Handys nicht länger an ihre Ohren halten, sondern vor den Mund. Vielleicht auch deshalb, um gleichzeitig sprechen und lesen zu können, sprechen also und hören und noch etwas Weiteres tun. — Wieder Nacht. In einem Moment der Stille beobachtete ich vor wenigen Minuten ein Bücherregal, das in meinem Arbeitszimmer steht. Ich meinte wieder einmal, ein Geräusch wahrgenommen zu haben, in etwa hörte sich das so an, als würde man ein Ohr an ein Bambusrohr legen, durch welches Kieselsteine fallen. Zunächst meldete sich das Geräusch links oben unter der Decke, wo sich Bücher befinden, die ich bisher nicht gelesen habe, wartende Bücher, sagen wir, Mahnende. Kurz darauf wanderte das Geräusch in die Mitte des Regals, Christoph Ransmayr klimperte, John Berger, Janet Frame, Antonio Tabucchi. Ich hatte für einige Minuten den Eindruck, das Geräusch oder seine Ursache könnte sich vervielfältigt haben. Wenn nun folgendes geschehen wäre, dass sich die Bücher meines Regals in Funkbücher verwandelten, in Bücher, die nur vorgeben, Bücher von Papier zu sein, in Bücher also, die über Seiten verfügen, die eigentlich Bildschirme sind, die man umblättern kann. Dann wäre denkbar, dass ich jenes typische Geräusch vernommen habe, das in genau dem Moment entsteht, da der Autor eines Buches mittels Funkwellen eine erneuerte Fassung seines Werkes in die Zimmer der Welt entsendet. Ich muss darüber nachdenken, was die Möglichkeit oder die Existenz der Funkbücher bedeuten würde für das Schreiben, für das Aufhören können, für Anfang und Ende einer Geschichte. Und wenn nun Jean Pauls Komet in meinem Zimmer rascheln würde, oder Dantons Tod, Georg Büchner? – Noch zu tun: Regenwörter erfinden. — stop
lamelleniris
charlie : 3.12 — Ich stellte mir eine Versuchsanordnung vor. Ich sollte für die Verwirklichung dieser Versuchsanordnung Nahrungsmittel horten, zwei oder drei Enten ( je 1 kg), Maronen ( 1 kg ) , Wasser ( 10 l ), Mandarinen ( 2 kg ), dunkles Brot ( 2 kg ), helles Brot ( 1 kg ), Marmelade ( 0,5 kg ), Kaffee ( 3 Pfund ) und Butter ( 0,5 kg ). Ich würde meine Computermaschinen einer Nachbarin übergeben, mein Festnetztelefon zertrümmern ( ich brauche ohnehin ein Neues ), mein Handy ins Eisfach legen und dort vergessen, weiterhin Filmabspielmaschinen jeder Art aus der Wohnung tragen, auch alle Bücher, aber im Gegenzug einige Tausend Karteikarten auf meinem Küchentisch stapeln. Dann lange Zeit von Stille, Tage der Ruhe und Konzentration, ich sitze oder gehe in der Wohnung unter dem Dach auf und ab, und notiere Wörter. Es geht nämlich darum, alle Wörter meiner Sprache, die ich erinnern kann, aufzuschreiben, je ein Wort auf eine Karte, um herauszufinden, über wie viele Wörter ich verfüge. Mit welchem Wort werde ich beginnen? — stop
kubatajo
romeo : 5.20 — Kühle Luft, gnädiges Tier, fließt über den Boden. Zwei Tauben sitzen auf dem Fensterbrett und spähen ins Zimmer. Irgendwo im Süden südlich werden sich in diesem Augenblick hungrige große Menschen und hungrige kleine Menschen durchs Unterholz der Bergwälder schlagen. Unlängst erzählte vom Bildschirm her ein älterer Herr zu Budapest, er könne SIE nicht mehr sehen, Flüchtige, man sollte ihnen in die Beine schießen, dann würden sie nicht wieder kommen. Und ich dachte, derart präzise hat er bereits Körperorte der Verwundung vorausgedacht, dass er konkret werden kann. Wieder Wörter erfunden: jusibeba babukele biferigu jababuba kubatajo ribejumu gocubobu kubexebu sopijabe bibujebi. stop — 5 Uhr 15: Miles Davis / John Coltrane — Paris 1960 — stop
who is fred wesley?
tango : 2.30 — Heiterer Stimmung war ich gestern Abend der Geschwindigkeit, mit welcher Waren, die ich kaufte, an der Kasse eines Supermarktes behandelt wurden, nicht gewachsen, vielleicht deshalb, weil ich überhaupt langsamer geworden bin, oder weil ich in dem Augenblick, da meine Ware über einen Scanner bewegt wurde, darüber nachdachte, ob es sich bei E‑Mails, die ich manchmal schreibe, noch um Wesen handelt, die man als Schriftstücke bezeichnen könnte. Ohnehin drohte ein Fiasko, da sich die Waren, die gerade in meinen Besitz übergegangen waren, hinter dem Fließband ineinander schoben wie Packeisschollen auf dem Atlantik vor Grönland. Eine junge kolumbianische Assistentin kam glücklicherweise bald zu Hilfe, ich führte mehrere gefaltete Papiertüten mit mir, die sehr sorgfältig bepackt werden mussten. Sie sprach nur wenige Wörter meiner Sprache, und sie schwitzte indessen und versuchte mir zu erklären, dass es in ihrem Land noch viel wärmer sei als bei uns in Europa, aber dass sie dort, auch im Regenwald nicht, niemals so heftig schwitzen würde wie hier, die Klimaanlage sei ausgefallen, dass ich etwas langsamer sei als üblich, wäre geradezu vernünftig. Ja, vermutlich bin ich langsamer geworden, und ich dachte, man könnte einmal Schnellkassen in dem Sinne bedenken, dass dort rasende Menschen mit rasenden Händen rasende Geldbörsen bedienen, alles ginge dort so schnell, dass man als ein langsamer Mensch, auf der anderen Seite der Zeit befindlich, nur noch Unschärfen in der Luft wahrnehmen würde, nicht aber einkaufende Personen, während einer wie ich als eine Fotografie erscheinen würde, als Etwas, das sich niemals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wunderbar kühle Luft. Who is Fred Wesley? — stop
salzluft
sierra : 6.25 — In der zentralen Bibliothek der Stadt Uppsala soll eine Abteilung duftender Bücher existieren. Der Beschreibung nach handelt es sich bei dieser Abteilung um einen kühlen, abgedunkelten Saal, in dem sich entlang der Wände gläserne Behälter reihen, in welchen sich je ein Buch befindet. Diese Bücher seien mindestens einhundert Jahre alt. Sie hätten sehr bewegte Zeiten hinter sich, seien zur See gefahren, überdauerten Jahrhunderte in Kirchen oder überlebten zu Füßen vulkanischer Berge schwerste Eruptionen. Nähere man sich nun einem dieser Behälter, würde man bemerken, dass er über einen Vorsatz mit einem Riegel verfüge, den man öffnen könne, sobald man eine Nase an den Vorsatz legte. Unverzüglich würde man überrascht von intensiven Düften, von Salzluftduft, zum Beispiel, wie er Seehäfen eigen sei, oder von Schwefeldämpfen, von Weihrauch- oder Myrredüften. Lesen könne man die Bücher natürlich nicht, das sei nun überhaupt nicht vorgesehen, sie sind ja eingesperrt, und das würde sich niemals ändern, eine merkwürdige Geschichte. Diese merkwürdige Geschichte wurde mir gestern von einem Reisenden erzählt, der nachts im Terminal 1 des Flughafens wartete. Es war um kurz nach fünf Uhr, als sich eine Frau mit einem kleinen roten Koffer in der Hand nährte. Sie erkundigt sich nach der Uhrzeit. Ich sagte: Es ist genau fünfzehn Minuten nach. Woraufhin die Frau weiter fragte: Morgens oder abends? — stop
lilly
delta : 0.05 — Ich wollte mit einem armen Menschen sprechen, wollte erfahren, wie es ist, mittellos geworden zu sein. Ich hatte Glück, eine Bekannte, die für die Bahnhofsmission arbeitet, erwähnte eine seltsame Frau, Lilly, die sich seit Monaten auf den Bahnsteigen 22, 23 oder 24 gewöhnlicherweise aufhalten würde, sie sei sehr lieb und sehr arm und würde gerne erzählen. Ich entdeckte Lilly auf einer Bank sitzend, Bahnsteig 18, sie war zunächst eher scheu gewesen, aber dann doch bereit sich mit mir zu unterhalten. Ja, Lilly. Sie spricht schnell, wenn sie spricht, und sie schämt sich ein bisschen, vielleicht deshalb, weil sie ahnt, dass sie nicht so gut riecht, wie sie gerne riechen möchte, und ihr Haar, das hell geworden ist an der ein oder anderen Stelle, scheint feucht und klebrig geworden zu sein vom Talg. Ich fasse zusammen, was Lilly etwas durcheinander herumerzählte. Wenn eine Frau arm geworden sei, wenn eine Frau auf der Straße leben müsse, erklärte Lilly, sollte sie zunächst versuchen, solange Zeit wie möglich ihren Status der Armut zu verbergen, sie sollte so wirken, als habe sie noch Geld zur Verfügung, als sei alles in Ordnung, dann würde man sie aus den Warteräumen eines Bahnhofes beispielsweise oder eines Flughafens nicht vertreiben. Sie trage aus genau diesem Grund noch immer einen Hosenanzug, manchmal, bei gnädigem Licht, wirke sie so, als würde sie zur Arbeit gehen oder soeben von der Arbeit kommen. Meine Schuhe sind geputzt, und wenn ich sie schonen werde, sollten sie doch noch lange Zeit als Schuhe einer erfolgreichen Frau erscheinen. Ich habe gelernt, im Sitzen zu schlafen, weiß jederzeit, wo ich mich waschen könnte, auch meine Bluse, meine Strümpfe, es ist sehr anstrengend, mich selbst und meine Kleidung in allgemein zugänglichen Toilettenräumen zu säubern, immerzu bin ich erschöpft, niemand kennt mich persönlich, weiß, woher ich komme, ahnt, wer ich einmal gewesen bin. Ich esse sparsam, ich esse, was ich finde, und trinke aus öffentlichen Brunnen. Ich darf nicht rauchen, ich darf keinen Alkohol trinken, das ist ja selbstverständlich in meiner Lage! Einmal im Jahr nehme ich einen Zug und fahre im Winter nach Süden, ein weiteres Mal fahre ich im Sommer nach Norden, aber das ist nur ausgedacht. Ich lese Zeitungen, die ich da und dort entdecke. Ich spreche mit den Tauben, leise, sehr leise, damit ich nicht verrückt werde. In meinem Koffer befindet sich eine zweite Bluse, und dies und das und ein Paar Turnschuhe, ein Halstuch in roter Farbe, ein Halstuch in gelber Farbe, ein Halstuch in blauer Farbe, das grüne Tuch trage ich gerade in diesem Moment, ich habe einen schönen Hals, nicht wahr! Ja, ich darf nicht rauchen und nicht trinken und nicht verrückt werden, das ist dringend, ich muss bei mir sein, ich fürchte Schlafhäuser, ich fürchte diese schrecklichen Schlafhäuser, ich bin mir nicht sicher, ob ich noch bin. — stop
nachtflug
india : 0.18 — In diesem Jahr ist er spät zu mir gekommen, der Winter längst vorüber. Ein Falter segelte gestern Abend durch mein Arbeitszimmer, bald saß er auf dem Boden. Ich näherte mich sehr vorsichtig, hob ihn auf und setzte ihn behutsam an eine Wand. — Es ist jetzt kurz nach Mitternacht. Ein paar Diodenlichter glühen zu mir herüber. Ob ich den Falter füttern sollte? Vielleicht würde er etwas Himbeermarmelade zu sich nehmen. Ich stelle mir vor, der Falter könnte 254 Jahre alt, er könnte ein Lichtenbergfalter sein, der rasch bei mir zu Kräften kommen möchte. Ja, das ist denkbar, immer wieder denkbar. Gestern, das will ich schnell noch erzählen, habe ich Flugversuche unternommen mit einer filigranen Rückenpropellerdrohne. Es handelt sich um die Nachbildung eines Taubenschwänzchen, demzufolge ist sie nicht größer als 50 Millimeter. Ich habe ihr beigebracht, mir zu folgen, wenn ich durch meine Wohnung spaziere. In dieser Verfolgung ist sie bereits sehr präzise, außerdem so schnell in ihrer Bewegung geworden, dass ich sie mit bloßer Hand nicht fangen könnte. Einmal näherte sie sich meiner Schnecke Esmeralda. Das war ein Moment von höchster Aufmerksamkeit, ein Verhalten, als würde das Taubenschwänzchen mit Esmeralda sprechen, sehr seltsam, anrührend, die Kirschbäume blühen. — stop
unterm maulbeerbaum
delta : 18.12 — Helena erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Seiten, in dem von einem jungen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maulbeerbaum setzte, um seinen Pulsschlag zu zählen. Wie er nun gegen seine Müdigkeit kämpft, gegen das aufreizende Gefühl der Ameisenbeine, welche unter seinen Hosenbeinen spazieren, auch gegen Durst- und Hungergefühle, wie lange Zeit kann man so sitzen und zählen, nicht lange. Es war noch nicht einmal dunkel geworden, als der junge Mann aufstand und verschwand. Da war nun also ein Maulbeerbaum gewesen, irgendwo im Süden, ein paar Vögel außerdem, Hasen, Füchse, Eidechsen, Spinnen, Käfer und eine Erzählerin, die darauf wartete, dass der junge Mann wieder kommen und seine Pulse weiterzählen würde. Wie sie in ihrem Kopf Stunden, Tage, Wochen lang den Baum beobachtete, wie sie sich indessen einmal erinnerte an einen Freund, der verrückt geworden sein soll, weil er nicht damit aufhören konnte, Zeitungspapiere mittels Scheren zu zerlegen. Er sammelte Beweise für dies und das! Berge von Zeitungen soll er in seiner Leidenschaft für Beweissicherung zerlegt haben, auch unterwegs konnte er nicht damit aufhören, ein Seltsamer, der nur deshalb in Zugabteilen sichtbar wurde, weil die Papiere, die Zeitungen selbst damals, als er lebte, noch sichtbar gewesen waren. Heutzutage darf man, sagt Helena, in unsichtbarer Weise verrückt werden, fast alle sind wir schon längst verrückt, haben auf Computern Texte gesammelt, die wir niemals lesen werden, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Beweise. In ihrer Geschichte im Übrigen will sie eine weitere Erzählung versteckt haben, jedes einzelne Wort der Geschichte, auch ganze Sätze. Um welche Erzählung es sich präzise handelt, möchte sie nicht verraten. Die Erzählung soll von einer berühmten Schriftstellerin erfunden worden sein, eine wunderbare Miniatur. Sie wartet noch immer. — stop