Aus der Wörtersammlung: buch

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mr. munki

9

marim­ba : 6.22 — Das Ver­ges­sen ist nicht gera­de eine mei­ner Stär­ken. Ich kann mich noch nach Jah­ren an jedes schwie­ri­ge Gespräch erin­nern, wo es sich ereig­ne­te, mit wem ich mich unter­hal­ten hat­te und wor­über. Dafür ver­ges­se ich auf dem Weg von mei­nem Arbeits­zim­mer in die Küche, wes­halb ich mich eigent­lich in Bewe­gung setz­te. Auch die Uhr­zeit ver­ges­se ich ger­ne, Tele­fon­num­mern, Pass­wör­ter, Namen, gan­ze Bücher, dass sie exis­tie­ren, Buch­sta­ben, mei­nen Regen­schirm. Ein­mal wäre ich bei­na­he im Herbst ohne Schu­he auf die Stra­ße getre­ten. Genau genom­men bin ich im Ver­ges­sen leicht­fü­ßi­ger, als ich dach­te. Ich ver­ges­se aber lei­der in vie­len Fäl­len nicht, was ich ger­ne ver­ges­sen wür­de. Heu­te habe ich bemerkt, dass ich ver­säum­te, also ver­ges­sen habe, in einem Buch wei­ter­zu­le­sen, das ich im Mai zuletzt in Hän­den gehal­ten habe. Viel­leicht erin­nern Sie sich, es han­del­te sich um Pete L. Munki’s Roman Nau­ti­lus. Der Erzäh­ler der Geschich­te, ein jun­ger Mann namens Zezito Lopes, ruh­te zuletzt im 10. Stock eines Hau­ses in der Lex­ing­ton Ave­nue auf einer Trep­pen­stu­fe. Frü­her Nach­mit­tag. Ein schwe­rer Behäl­ter von gepan­zer­tem Glas, in dem sich zwei Fische der Gat­tung Nau­ti­lus befan­den, stand neben dem war­ten­den Mann auf dem Boden. Ich erin­ner­te mich damals, dass der jun­ge Mann, er war ein gut trai­nier­ter Trä­ger, sich kurz dar­auf erho­ben hat­te, um an einer der Woh­nungs­tü­ren, die auf den Flur führ­ten, zu klin­geln und nach einem Glas Was­ser zu fra­gen. Unver­züg­lich wur­de geöff­net, ein Gespräch ent­wi­ckel­te sich, in des­sen Fol­ge Zezito Lopes sich bück­te, sei­nen gepan­zer­ten Behäl­ter in die Hän­de nahm und mit ihm in der Woh­nung ver­schwand. So weit, so gut. Als ich das Buch im Mai im Zug geöff­net hat­te, konn­te ich die mar­kier­te Text­stel­le nicht fin­den. Sofort der Gedan­ke, ich hät­te mög­li­cher­wei­se fan­ta­siert, eine beun­ru­hi­gen­de Vor­stel­lung. Nicht min­der beun­ru­hi­gend schien mir der Gedan­ke gewe­sen zu sein, das Buch selbst könn­te sich ver­än­dert haben, wei­ter- oder umge­schrie­ben wor­den sein, obwohl sich das Buch, auch nachts, immer in mei­ner Nähe auf­ge­hal­ten hat­te. Zu Hau­se ange­kom­men leg­te ich das Buch unter ande­re Bücher auf mei­nem Schreib­tisch ab, wo ich es heu­te wie­der ent­deck­te. Als ich das Buch öff­ne­te, war das Buch leer. Kein Zei­chen zu fin­den, nur der Titel der Geschich­te: Nau­ti­lus. Dar­un­ter ein wei­te­rer Satz: Bit­te war­ten. Pete L. Mun­ki. — stop

polaroidamph

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am arm

pic

romeo : 5.25 — Ich hat­te ein Gebiet mei­nes lin­ken Unter­ar­mes nah des Ell­bo­gen­ge­len­kes von Haut befreit. Arbei­te­te mich bis in 1 Zen­ti­me­ter Tie­fe vor­an, ohne das Bewusst­sein zu ver­lie­ren. Mein Arm lag indes­sen flach auf dem Tisch. Beob­ach­te­te mei­ne rech­te Hand, wie sie mit­tels einer Pin­zet­te Wur­zeln fili­gra­ner Bäu­me in die Ver­tie­fung senk­te. Die­se Bäu­me waren nicht höher als 3 Zen­ti­me­ter, Ahorn war dar­un­ter, Buchen, Eichen, Erlen. Spür­te, wie sie sich in mei­nem Kör­per vor­an­tas­te­ten. Ich wach­te auf. Es war fünf Uhr in der Früh. Sta­re, groß wie Amei­sen, ein gan­zer Schwarm, geis­ter­te durchs Zim­mer. — stop

polaroidlily

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robert walser

2

marim­ba

~ : oe som
to : louis
sub­ject : KORALLEN
date : jul 31 12 4.37 p.m.

Seit 552 Tagen nun befin­det sich Tau­cher Noe vor Neu­fund­land in 820 Fuß Tie­fe von einem eiser­nen Anzug umfan­gen. Es ist ein Wun­der wie gut sich Noe hält. Jeden Mor­gen, wenn ich unse­ren Funk­raum betre­te, lau­sche ich in die Tie­fe, freu mich, wenn ich Noe’s lesen­de Stim­me oder sei­nen Atem höre. Wäh­rend mei­nes Besu­ches vor Kur­zem im Mai, habe ich Koral­len­ge­wäch­se von sei­nem Gehäu­se ent­fernt, Schne­cken und ande­re klei­ne Tie­re, die sich dort fest­ge­setzt hat­ten. Ich beob­ach­te­te Noe sehr genau, sei­nen Blick, sei­ne Augen hin­ter der gepan­zer­ten Schei­be. Wie er sich doch über mei­nen Besuch gefreut hat­te, gemein­sam schau­kel­ten wir durchs Meer viel­leicht ein­hun­dert Meter eines Weges in ewi­ger Däm­me­rung auf und ab. Ich hielt mich fest an sei­nen Anzug gepresst. Kurz vor mei­ner Rück­kehr an die Was­ser­ober­flä­che frag­te ich Noe, ob er noch eine Wei­le aus­hal­ten wür­de, die­ser Blick, lie­ber Lou­is, die­ser Blick. Manch­mal den­ke ich bei mir, wir soll­ten auf­hö­ren, wir soll­ten ihn zurück­ho­len. Aber immer dann, wenn wir Noe in Bewe­gung set­zen, wenn wir ihn anhe­ben wol­len, beginnt er zu pro­tes­tie­ren, ein selt­sa­mes Geräusch, das ich so nie zuvor ver­nom­men habe. Aus dem heu­ti­gen Tag ist ein äußerst ange­neh­mer Som­mer­tag gewor­den. Das Meer voll­stän­dig ohne Bewe­gung. Flie­gen­schwär­me ste­hen dicht über dem Was­ser. Wir haben kei­ne Vor­stel­lung, woher sie kom­men und wohin sie wol­len. Noe liest mir sanf­ter Stim­me seit fünf Stun­den aus einem wei­te­ren Unter­was­ser­buch, Robert Walsers Geschich­ten, das wir vor einer Woche fer­tig­stel­len konn­ten: Es gibt Vor­mit­ta­ge in Schus­ter­werk­stät­ten, Vor­mit­ta­ge in Stra­ßen und Vor­mit­ta­ge auf den Ber­gen, und letz­te­re mögen so ziem­lich das Schöns­te auf der Welt sein, aber ein Bank­haus­vor­mit­tag gibt ent­schie­den noch mehr her. – Ahoi! Bis bald ein­mal wie­der Dein OE SOM

gesen­det am
31.07.2012
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oe som to louis »

ping

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bienenkönigin

9

tama­rin : 6.41 — Eine Urkun­de exis­tiert seit eini­gen Wochen, die bezeugt, dass der Kör­per mei­nes ver­stor­be­nen Vaters tat­säch­lich ver­brannt wur­de. Dort ist in groß­zü­gi­gen Buch­sta­ben alt­deut­scher Schrift ver­merkt, wann die Ver­bren­nung erfolg­te, Jahr, Tag, Stun­de. Die Dau­er des Ver­bren­nungs­vor­gan­ges wur­de auf eine Minu­te genau ange­zeigt. Ich dach­te zunächst, Irgend­je­mand muss sich an einer Uhr ori­en­tiert haben, weil viel­leicht eine Vor­schrift exis­tiert, die prä­zi­se Zeit­an­ga­ben erfor­dert. Nach der Ver­bren­nung, auch das ist nach­weis­bar so gesche­hen, wur­de ein Gefäß, in dem Ato­me mei­nes Vaters ent­hal­ten waren, auf den Post­weg gebracht. Das ist eine durch­aus mög­li­che Metho­de letz­ter Rei­sen, da allein Sen­dun­gen, die leben­de Tie­re oder sterb­li­che Über­res­te von Men­schen ent­hal­ten, vom Trans­port auf dem Post­weg aus­ge­schlos­sen sind. Aus­ge­nom­men von die­ser Vor­schrift: Urnen und wir­bel­lo­se Tie­re, wie Bie­nen­kö­ni­gin­nen und Fut­ter­in­sek­ten. Selt­sa­me Geschich­te. Ich muss dar­über nach­den­ken, obwohl ich im Moment noch nicht weiß, wor­über genau und war­um. — stop

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eiszimmer

9

sier­ra : 6.52 — Vor eini­gen Tagen habe ich einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich kann mit Fug und Recht behaup­ten, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, woll­te ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man noch nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­eis­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen, man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. — stop
ping

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zerstreuung

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mari­ma­ba : 6.36 — In einer Film­do­ku­men­ta­ti­on, die den Schrift­stel­ler Jona­than Fran­zen fünf Tage lang wäh­rend einer Lese­rei­se beglei­tet, fol­gen­de berüh­ren­de Sze­ne, die sich im New Yor­ker Arbeits­zim­mer des Autors ereig­net. Jona­than Fran­zen hält sei­ne Schreib­ma­schi­ne, ein preis­wer­tes Dell – Note­book, vor das Objek­tiv der Kame­ra. Er deu­tet auf eine Stel­le an der Rück­sei­te des Gerä­tes, dort soll frü­her ein­mal ein Fort­satz, eine Erhe­bung zu sehen gewe­sen sein. Er habe die­sen Fort­satz eigen­hän­dig abge­sägt. Es han­del­te sich um eine Buch­se für einen Ste­cker. Man konn­te dort das Inter­net ein­füh­ren, also eine Ver­bin­dung her­stel­len zwi­schen der Schreib­ma­schi­ne des Schrift­stel­lers und der Welt tau­sen­der Com­pu­ter da drau­ßen irgend­wo. Jona­than Fran­zen erklärt, er habe sei­nen Com­pu­ter bear­bei­tet, um der Ver­su­chung, sich mit dem Inter­net ver­bin­den zu wol­len, aus dem Weg zu gehen. Eine über­zeu­gen­de Tat. Im Moment, da ich die­se Sze­ne beob­ach­te, bemer­ke ich, dass die Ver­füg­bar­keit von Infor­ma­ti­on zu jeder Zeit auch in mei­nem Leben ein Gefühl von Gefahr, Zer­streu­ung, Belie­big­keit erzeu­gen kann. Ich schei­ne in den Zei­chen, Bil­dern, Fil­men, die her­ein­kom­men, flüs­sig zu wer­den. Dage­gen ange­neh­me Gefüh­le, wenn ich die abge­schlos­se­ne Welt eines Buches in Hän­den hal­te. Frü­her ein­mal, sobald ich spa­zie­ren ging oder auf eine Rei­se, zur Arbeit, ins Thea­ter oder sonst wohin, ver­ließ ich nie­mals das Haus, ohne eines mei­ner zer­schlis­se­nen Unter­wegs­bü­cher mit mir zu neh­men. Wenn ich ein­mal doch kein Buch in der Hand oder Hosen­ta­sche bei mir hat­te, sofort das Gefühl, unbe­klei­det oder von Lee­re umge­ben zu sein. Als ob ich einen immer­wäh­ren­den Aus­weg in mei­ner Nähe wis­sen woll­te, ein Zim­mer von Wör­tern, in das ich mich jeder­zeit, manch­mal nur für Minu­ten, zurück­zie­hen konn­te, um fest zu wer­den. Da waren also Bücher von Mal­colm Lowry, Kenzabu­ro Oe, Tru­man Capo­te, Frie­de­ri­ke May­rö­cker, Wal­ter Ben­ja­min, Janet Frame, Georg C. Lich­ten­berg, Hein­rich von Kleist, Moni­ka Maron, Alex­an­der Klu­ge, Boho­u­mil Hra­bal, Johann Peter Hebel, Patri­cia High­s­mith, Eli­as Canet­ti, Peter Weiss, Hans Magnus Enzens­ber­ger. Irgend­wann, weiß der Teu­fel war­um, hör­te ich auf damit. Und doch tra­ge ich noch immer ein Buch in mei­ner Nähe. Ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher nicht län­ger in der Hand, ich tra­ge mei­ne Stra­ßen­bü­cher im Ruck­sack auf dem Rücken. — stop

ping

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pseudonym no 5

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ulys­ses : 6.05 — Ges­tern war das Wet­ter schön, ich such­te spa­zie­rend im Park nach einem Namen für mein Pseud­onym No 5. Sobald ich glaub­te, einen geeig­ne­ten Namen gefun­den zu haben, sag­te ich ihn laut vor mich hin, ich sag­te zum Bei­spiel: Felix May­er Kek­ko­la. Als Nach­mit­tag gewor­den war, gefiel mir die­ser Name noch immer, ich hat­te Lil­li M. Mur­phy bereits ver­wor­fen, auch Kas­par Joe Wei­de­mann und wei­te­re Namen waren gründ­lich ver­ges­sen. Ich notier­te den gewähl­ten Namen Felix May­er Kek­ko­la in mein Notiz­buch und ging nach Hau­se. Es ist selt­sam, ich war mit mei­nem neu­en Namen an der Sei­te stark unru­hig bis in den Abend hin­ein. Ich konn­te mir die­se Unru­he zunächst nicht erklä­ren, dann hat­te ich die Idee, dass ich nach­se­hen soll­te, ob der Name Felix May­er Kek­ko­la viel­leicht im Inter­net schon län­ge­re Zeit exis­tiert, ein Mensch also, der genau so heißt, oder ein Mensch, der die­sen Namen ver­wen­det, um sich zu ver­ber­gen und zu ver­öf­fent­li­chen in ein und dem­sel­ben Moment. Mehr­fach prüf­te ich mit Such­ma­schi­nen die Exis­tenz einer Spur. Kein Ergeb­nis für „Felix May­er Kek­ko­la“ war zu fin­den. Ich könn­te nun also ers­tens anneh­men, dass ein Mensch, der die­sen Namen trägt, nicht exis­tiert, was sicher nur sehr vor­sich­tig for­mu­liert wer­den darf. Zwei­tens könn­te ich jenen fei­nen Namen nun für mich beset­zen, okku­pie­ren sozu­sa­gen nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen, was in die­ser Sekun­de genau so geschieht, indem ich mei­nen Text in die digi­ta­le Sphä­re sen­de. — stop

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handohren

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sier­ra

~ : oe som
to : louis
sub­ject : HANDOHREN
date : may 27 12 3.05 a.m.

Lie­ber Lou­is, Mit­ter­nacht ist längst vor­über. Ich bin ruhig, aber ich kann nicht schla­fen. Seit Tagen geht das so mit mir, dass ich die Augen schlie­ße und doch wach lie­ge, zumin­dest nicht wirk­lich auf die ande­re Sei­te gelan­ge. Ich spü­re wie sich das Schiff auf und ab bewegt, manch­mal erhe­be ich mich und gehe spa­zie­ren an Deck, oder ich besu­che Lin, die sich für den Monat Mai in Nacht­schicht befin­det. Seit drei Tra­gen sitzt sie in der Werk­statt an der Über­tra­gung des Romans Mol­loy von Samu­el Beckett. Ich darf ihr zuse­hen, wie sie Zei­chen für Zei­chen aus dem papie­re­nen Buch kopiert, eine geschmei­di­ge Bewe­gung, sie schreibt, ohne ihren Blick auf den Stift zu rich­ten. Jedes Wort, das sie in Angriff nimmt, wird zunächst in den Raum geflüs­tert: Wach­tel­kö­nig. Als ob sie eine Anwei­sung geben wür­de, als ob ihre schrei­ben­de Hand über gehei­me Ohren ver­füg­te. Ich wünsch­te mir, ich könn­te ihre Hän­de ein­mal ein­ge­hend unter­su­chen, einen Bericht schrei­ben über die Ent­de­ckung der Hand­oh­ren kurz nach Mit­ter­nacht auf einem Schiff vor Neu­fund­land. Eigent­lich, lie­ber Lou­is, woll­te ich Dir von mei­nem ers­ten Besuch bei Noe in der Tie­fe berich­ten, was ich dort gese­hen habe, sei­ne Augen wie sie mei­ne Augen betrach­te­ten durch das Pan­zer­glas. Ich den­ke, ich bin noch nicht so weit. Ich wer­de Dir aus­führ­lich notie­ren, sobald ich ein­mal eine Nacht durch­ge­schla­fen habe. Es ist mög­lich, dass ich das Tau­chen nicht ver­tra­ge oder Noe’s hel­len Blick viel­leicht, der mich ver­folgt, ich gebe das zu, Noe’s Blick ver­folgt mich. Manch­mal den­ke ich, dass nicht rich­tig ist, was wir tun. Gute Nacht! Ahoi! Dein OE SOM

gesen­det am
27.05.2012
1620 zeichen

oe som to louis »

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möwen

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echo : 4.12 — Lese in Lou­is Kekkola’s Eis­buch Das Wal­fisch­or­ches­ter. Es ist jetzt kurz nach vier Uhr, Däm­me­rung, Vögel pfei­fen. In die­sem Moment tra­ge ich Hand­schu­he. Ich habe mein Ton­band­ge­rät ange­schal­tet und spre­che lei­se, in dem ich das zer­brech­li­che Buch­we­sen in Hän­den hal­te. Kaum habe ich eine Sei­te abge­tas­tet, schlie­ße ich den Kühl­schrank, gehe in der Woh­nung spa­zie­ren und las­se mir alles durch den Kopf gehen. Dann keh­re ich zurück und lese mit damp­fen­dem Atem wei­ter. Höre in die­sen Minu­ten das Ticken des Weckers, der mir 15 Sekun­den Zeit erteilt, um das Buch der unge­stü­men war­men Luft mei­ner Woh­nung aus­zu­set­zen. Auf Sei­te 87 ent­de­cke ich Lou­is Kekkola’s Notiz über das Leben der Möwen an nor­di­schen Strän­den. Er habe, schreibt er, in sei­nem Leben noch nie eine Möwe berührt. Das ist erstaun­lich, ich glau­be, es exis­tie­ren nur weni­ge Men­schen, die je eine Möwe mit ihren Hän­den berühr­ten. Auch ich habe noch nie eine Möwe mit mei­nen Hän­den berührt. Ich könn­te das ändern, ich soll­te ans Meer fah­ren. — stop
ping

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frau mit löffel

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india : 5.28 — Ein­mal mach­te ich einen Aus­flug zu einer Tan­te, die seit über zehn Jah­ren in einem Heim lebt, weil sie sehr alt ist und außer­dem nicht mehr den­ken kann. Der Flie­der blüh­te, die Luft duf­te­te, mei­ne Tan­te saß mit ande­ren alten Frau­en an einem Tisch und schlief oder gab vor zu schla­fen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Augen­li­der durch­sich­tig gewor­den, Augen waren unter die­ser Haut, blau, grau, rosa, eine Gischt hel­ler Far­ben. Ich drück­te mei­ne Stirn gegen die Stirn mei­ner Tan­te und nann­te mei­nen Namen. Ich sag­te, dass ich hier sei, sie zu besu­chen und dass der Flie­der im Park blü­hen wür­de. Ich sprach sehr lei­se, um die Frau­en, die in unse­rer Nähe saßen, nicht zu stö­ren. Sie schlie­fen einer­seits, ande­re betrach­te­ten mich inter­es­siert, so wie man Vögel betrach­tet oder Blu­men. Es ist schon selt­sam, dass ich immer dann, wenn ich glau­be, dass ich nicht sicher sein kann, ob man mir zuhört, damit begin­ne, eine Geschich­te zu erzäh­len in der Hoff­nung, die Geschich­te wür­de jen­seits der Stil­le viel­leicht doch noch Gehör fin­den. Ich erzähl­te mei­ner Tan­te von einer Wan­de­rung, die ich unlängst in den Ber­gen unter­nom­men hat­te, und dass ich auf einer Bank in ein­tau­send Meter Höhe ein Tele­fon­buch der Stadt Chi­ca­go gefun­den habe, das noch les­bar gewe­sen war und wie ich den Ein­druck hat­te, dass ich aus den Wäl­dern her­aus beob­ach­tet wür­de. Ich erzähl­te von Leber­blüm­chen und vom glas­kla­ren Was­ser der Bäche und vom Schnee, der in der Son­ne knis­ter­te. Doh­len waren in der Luft, wun­der­vol­le Wol­ken­ma­le­rei am Him­mel, Sala­man­der schau­kel­ten über den schma­len Fuß­weg, der auf­wärts führ­te. So erzähl­te ich, und wäh­rend ich erzähl­te eine hal­be Stun­de lang, schien mei­ne Tan­te zu schla­fen oder zuzu­hö­ren, wie immer, wenn ich sie besu­che. Ihr Mund stand etwas offen und ich konn­te sehen, wie ihr Bauch sich hob und senk­te unter ihrer Blu­se. Am Tisch gleich gegen­über war­te­te eine ande­re alte Frau, sie trug wei­ßes Haar auf dem Kopf,  Haar so weiß wie Schreib­ma­schi­nen­pa­pier. Vor ihr stand ein Tel­ler mit Erb­sen. Die alte Frau hielt einen Löf­fel in der Hand. Die­ser Löf­fel schweb­te wäh­rend der lan­gen Zeit, die ich erzähl­te, etwa einen Zen­ti­me­ter hoch in der Luft über ihrem Tel­ler. In die­ser Hal­tung schlief die alte Frau oder lausch­te. — stop

 

polaroidgebirge



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