Aus der Wörtersammlung: essen

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max

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alpha : 22.02 UTC — Ich erin­nere mich gern an Max, soeben ist es wie­der pas­siert, dass ich mich an Max erin­ner­te. Er war 6 Jah­re alt gewor­den, als ich ihm zuletzt persön­lich begeg­nete. Wir saßen damals an einem Küchen­tisch, es war Abend, Max schon müde. Er schüt­telte etwas gelang­weilt eine Papri­ka­schote und wun­der­te sich, weil in der gel­ben Frucht Bewe­gung zu sein schien. Ich nahm ihm die Papri­ka aus der Hand, und tatsäch­lich war in ihrem Inne­ren etwas lose gewor­den oder exis­tierte dort, das sich übli­cher­weise nicht in einer Papri­ka befin­den soll­te. Also leg­te ich die Papri­ka zur Unter­su­chung auf einen Tel­ler und öff­ne­te sie vor­sich­tig. Es war ein klei­nes Loch, das ich in die Papri­ka schnitt. Sei­te an Sei­te sit­zend, war­te­ten wir gespannt vor der Frucht dar­auf, ob viel­leicht Irgend­etwas oder Irgend­je­mand aus der Öff­nung stei­gen wür­de. Indes­sen erzähl­te ich von der Erfin­dung der Tief­see­ele­fanten, von ihren kilo­me­ter­langen Rüs­seln, die sie zur Meeres­ober­fläche recken, sofern sie den Atlan­tik durch­queren. Bald wur­de Max unge­duldig, er nahm die Papri­ka in sei­ne Hän­de, um durch das spar­same Loch zu spä­hen, ohne frei­lich etwas sehen zu kön­nen, es war dun­kel da drin, wes­halb ich das Loch vergrö­ßerte, und außer­dem noch zwei klei­nere Löcher für das Licht seit­wärts in den Kör­per trieb. Wie­der­um späh­te Max in die Papri­ka, jetzt konn­te er etwas erken­nen. Er stell­te nüch­tern fest, dass sich in der Papri­ka ein Ohr befin­den wür­de, ein Papri­kaohr, ganz ein­deu­tig. Vier Jah­re sind seit­her ver­gan­gen. Als ich vor zwei Jah­ren mit Max tele­fo­nierte, erklär­te er, dass er in der Schu­le Tief­see­men­schen mit Blei­stift zeich­nete. Immer wie­der habe er die Kör­per der Tief­see­men­schen, die über den Meeres­boden spa­zier­ten, ausra­diert, um sie noch klei­ner zu machen, damit ihre Häl­se auch lang genug wer­den konn­ten auf dem viel zu klei­nen Blatt Papier, das ihm zur Verfü­gung gestellt wor­den war. – stop
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ai : NIGER

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Der mul­ti­na­tio­na­le Ölkon­zern Shell und die Regie­rung des süd­ni­ge­ria­ni­schen Bun­des­staa­tes Rivers haben es ver­säumt, die Bewohner_innen von Oga­le, einer Regi­on außer­halb von Port Har­court, der Haupt­stadt von Rivers, regel­mä­ßig mit siche­rem Trink­was­ser zu ver­sor­gen. Die meis­ten der dort leben­den Men­schen müs­sen ent­we­der Was­ser kau­fen oder Grund­was­ser trin­ken, das laut einer 2011 ver­öf­fent­lich­ten Stu­die der Ver­ein­ten Natio­nen gefähr­lich ver­schmutzt ist./ Die Stu­die des Umwelt­pro­gramms der Ver­ein­ten Natio­nen (United Nati­ons Envi­ron­ment Pro­gram­me, UNEP) ergab, dass die Bewohner_innen von Oga­le Was­ser aus Brun­nen tran­ken, das so stark mit dem bekann­ten Kar­zi­no­gen Ben­zol ver­un­rei­nigt war, dass es den nach inter­na­tio­na­len Richt­li­ni­en fest­ge­leg­ten Grenz­wert um das 900-fache über­schritt. Das Was­ser zu trin­ken wer­de „sicher lang­fris­ti­ge gesund­heit­li­che Fol­gen“ haben. UNEP emp­fahl der nige­ria­ni­schen Regie­rung, unver­züg­lich Maß­nah­men zu ergrei­fen, damit die Men­schen in Oga­le nicht wei­ter­hin Trink­was­ser aus kon­ta­mi­nier­ten Brun­nen trin­ken müs­sen, und ihnen eine alter­na­ti­ve Quel­le für sau­be­res Was­ser zur Ver­fü­gung zu stel­len. Trotz die­ses drin­gen­den Auf­rufs gibt es noch immer kei­nen Zugang zu solch einer Quel­le. / Am 1. Sep­tem­ber 2018 besuch­te Amnes­ty Inter­na­tio­nal Oga­le und sprach mit Anwohner_innen. Die meis­ten von ihnen kau­fen ihr Was­ser für den per­sön­li­chen und häus­li­chen Gebrauch, etwa zum Trin­ken, Kochen und Waschen, obwohl sie es sich eigent­lich nicht leis­ten kön­nen. In eini­gen Fäl­len geben Bewohner_innen ein Drit­tel ihres wöchent­li­chen Ein­kom­mens für Was­ser aus, sodass sie manch­mal statt drei Mahl­zei­ten am Tag nur zwei essen kön­nen. Die­je­ni­gen, die es sich nicht leis­ten kön­nen, Was­ser zu kau­fen, trin­ken und nut­zen das ört­li­che Grund­was­ser – trotz der Warn­schil­der, die dar­auf hin­wei­sen, dass das Was­ser ihre Gesund­heit gefähr­det. Man­che trin­ken Was­ser aus loka­len Brun­nen und Bohr­lö­chern, auch wenn auf dem Was­ser ein öli­ger Film zu sehen ist. Eini­ge Bewohner_innen bezah­len sogar für das Was­ser aus den Bohr­lö­chern. Ande­re nut­zen Regen­was­ser, in dem sich schwar­ze Flöck­chen befin­den. Die Bewohner_innen haben kei­ne ande­re Wahl, da sie nicht das nöti­ge Geld auf­brin­gen kön­nen, um Was­ser von pri­va­ten Anbieter_innen zu kau­fen und die Regie­rung bereits seit über einem Jahr kein sau­be­res Was­ser mehr bereit­stellt. Zeit­gleich mit dem Besuch von Amnes­ty Inter­na­tio­nal in Oga­le wur­den eini­ge der von der Regie­rung regu­lier­ten Was­ser­lei­tun­gen wie­der in Betrieb genom­men. Doch die Bewohner_innen berich­ten, dass die Was­ser­ver­sor­gung ledig­lich eine Stun­de am Mor­gen oder am Nach­mit­tag funk­tio­niert und die zur Ver­fü­gung gestell­te Was­ser­men­ge nicht aus­reicht, um den grund­le­gen­den Was­ser­be­darf zu decken. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat Grund zu der Annah­me, dass auch die­ses Was­ser nicht den Richt­li­ni­en der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on für Trink­was­ser­qua­li­tät ent­spricht.“ - Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen bis spä­tes­tens zum 3.8.2018 unter > ai : urgent action
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lido santa maria elisabetta

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tan­go : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Auto­mo­bi­le ken­ne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stun­den der Fahrt mit­tels Was­ser­bus­sen hin und her und her­um, muss ich des­halb an Land gehen, muss mei­ne Schreib­ma­schi­ne mit Strom ver­sor­gen, um arbei­ten zu kön­nen. Ich stell­te mir ein­mal vor, wie ich unter Vene­zia­ne­rin­nen und Vene­zia­nern sit­ze mit einer klap­pern­den Olym­pia­schreib­ma­schi­ne auf den Knien. Oder das Notie­ren von Hand in ein Notiz­buch auf schwan­ken­den Sitz­ge­le­gen­hei­ten der Dampf­schiff­chen rei­send. Man kann nie­mals erah­nen, in wel­che Rich­tung sich die Welt bewe­gen wird. Plötz­lich fährt die Stift­spit­ze unter der Hand sprung­haft vor­wärts oder rück­wärts, zieht eine Linie jen­seits geplan­ter Schrift­zei­chen, bil­det die Bewe­gung des Mee­res auf Notiz­pa­pie­ren nach. In der digi­ta­len Zeit wer­den ver­rück­te Zei­chen, Fol­ge der Mee­res­be­we­gung von dem Kor­rek­tur­ge­dächt­nis der elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne unver­züg­lich kor­ri­giert. Eine wun­der­ba­re Beob­ach­tung ist, wie ich siche­rer wer­de im Ste­hen auf dem Was­ser im Bus. Beob­ach­te­te hun­der­te Male Kno­ten­bin­dung in dem Moment, da sich das Batel­lo dem Lan­de nähert, da es anzu­le­gen wünscht, sodass es für einen kur­zen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Men­schen dann über Brü­cken gehen, wie tan­zen. Am Abend ein­mal spür­te ich die uralte Stadt selbst unter mir schwan­ken. Da ich mich in die­sem Augen­blick dem Lido nähe­re, bemer­ke ich, dass ich die Erfin­dung der Auto­mo­bi­le bereits nach weni­gen Tagen ver­ges­sen habe. — stop
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san zaccaria

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nord­pol : 23.01 UTC — Cla­ra, ein Nas­horn, wel­ches vor lan­ger Zeit als leben­des Schau­stück durch Euro­pa reis­te, soll im Jahr 1751 zur Zeit des Kar­ne­vals auch in Vene­dig zu sehen gewe­sen sein. 1720 bereits wur­de das Café Flo­ri­an am Ran­de des Mar­kus­plat­zes eröff­net. Man stel­le sich ein­mal vor, wie das aus­ge­wach­se­ne Nas­horn wie­der­käu­end in einem der mit Fein­gold ver­zier­ten Kaf­fee­haus­ab­tei­le steht und etwas vom Heu nascht, wäh­rend es begafft wird. Man kann leich­ter Hand sehr vie­le Geschich­ten erfin­den, wenn man mit Was­ser­bus­sen selbst­ver­ges­sen durch Vene­dig reist, man könn­te die ein oder ande­re Wirk­lich­keit mit einer wei­te­ren Wirk­lich­keit ver­we­ben. An einem Nach­mit­tag folg­te ich einer Grup­pe betag­ter Chi­ne­sin­nen durch jene Gäss­chen, da sich Glas­wa­ren­mo­ti­ve tau­send­fach repro­du­zie­ren. Ich dach­te noch, ich sei von Vögeln umge­ben, zwit­schern­de Stim­men. Plötz­lich deu­te­te eine der alten Frau­en, sie trug gel­be Turn­schu­he und schloh­wei­ßes Haar auf dem Kopf, nach einem Schrift­zug, der auf der Rück­sei­te einer Minia­tur­thea­ter­mas­ke von Plas­tik zu lesen war: Made in Chi­na, die­se Freu­de. Wie wun­der­bar die Küchen der Zwerg­kö­che, deren Räu­me da und dort sicht­bar wer­den in der Dun­kel­heit schma­ler Gas­sen. Ein­mal begeg­ne­te ich an einem spä­ten Abend einem Mäd­chen, das leuch­te­te. — stop

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ferrovia

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alpha : 18.02 UTC — Ich kam mit dem Zug nach Vene­dig, trat auf den Vor­platz des Bahn­hofs­ge­bäu­des, hör­te, ver­traut, das Brum­men der Vapo­ret­to­mo­to­ren, bemerk­te das dun­kel­blau­graue Was­ser, und einen Geruch, auch er ver­traut, der von Wör­tern noch gefun­den wer­den muss. Und da war die Kup­pel der Chie­sa di san Simeone Pic­co­lo im Abend­licht, und es reg­ne­te leicht, kaum Tau­ben, aber Kof­fer­men­schen, hun­der­te Kof­fer­men­schen hin und her vor Ticket­schal­tern, hin­ter wel­chen gedul­di­ge städ­ti­sche Per­so­nen oder Furi­en war­te­ten, die das ein oder ande­re Dra­ma bereits erlebt hat­ten an die­sem Tag wie an jedem ande­ren ihrer Arbeits­ta­ge. Und da war mein Blick hin zur Pon­te degli Scal­zi, einem geschmei­di­gen Bau­werk lin­ker Hand, das den Canal Gran­de über­quert. Ich will das schnell erzäh­len, kurz hin­ter Vero­na war ich auf den Hin­weis gesto­ßen, es habe sich dort nahe der Brü­cke, vor den Augen hun­der­ter Beob­ach­ter aus aller Welt, ein jun­ger Mann, 22 Jah­re alt, der Gam­bier Pateh Sabal­ly, mit­tels Ertrin­kens das Leben genom­men. Ein Mensch war das gewe­sen, der auf gefähr­li­cher Rou­te das Mit­tel­meer bezwang. Nie­mand sei ihm zu Hil­fe gekom­men, ein Vapo­ret­to habe ange­hal­ten, man habe eini­ge Ret­tungs­rin­ge nach ihm gewor­fen, aber er habe nicht nach ihnen gegrif­fen, wes­halb man eine oder meh­re­re Film­auf­nah­men mach­te, indes­sen man den jun­gen Mann ermu­tig­te: Wei­ter so, geh nach Hau­se! Das war im Janu­ar gewe­sen, das Was­ser der Kanä­le kalt wie die Betrach­ter­see­len. In die­sem Augen­blick, als ich aus dem Bahn­hof in mei­nen vene­zia­ni­schen Zeit­raum trat, war kei­ne Spur der Tra­gö­die dort unter dem Him­mel ohne Tau­ben zu ent­de­cken, außer der Spur in mei­nem Kopf. — stop

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celestia

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del­ta : 20.58 UTC — Es war an einem Abend kürz­lich, dass ich die wohl­klin­gen­de Stim­me einer Frau bemerk­te, die in einem Was­ser­bus jeweils die kom­men­de Hal­te­sta­ti­on der Linea 4.1 ankün­dig­te. Je län­ger die Fahrt dau­er­te, des­to dring­li­cher wur­de der Wunsch, die­se Stim­me auf­zu­neh­men, sie fest­zu­hal­ten, sie für mich ein­zu­fan­gen. Ich fuhr nach Reden­to­re zurück und setz­te mit mei­ner Rund­rei­se um die Stadt Vene­dig von Neu­em an. Indes­sen ver­zeich­ne­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne jedes Geräusch der ein­stün­di­gen Fahrt, Wel­len, Gesprä­che, Kom­man­dos des Pilo­ten und sei­ner Assis­ten­tin, das knir­schen­de Geräusch der Taue, wie sie sich um eiser­ne Kamel­schiffs­hö­cker win­den, auch Schrit­te der Aus­stei­gen­den, Schrit­te der Zustei­gen­den, und eben immer wie­der die­se zärt­li­che Stim­me: Prossi­ma fer­ma­ta Celes­tia. Next stop Celes­tia. Wie, wenn die­se Stim­me noch in Jahr­hun­der­ten hör­bar wäre, die­se Stim­me einer dann längst ver­gan­ge­nen Per­son. Kein Grund zu ent­de­cken in die­ser Minu­te, wes­halb je wei­te­re Sta­tio­nen der Stadt Vene­dig zu erfin­den wären. stop

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morgens

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bamako : 16.52 UTC — Mut­ter vor Jah­ren, wie sie aus dem Haus tritt. Es ist frü­her Mor­gen, viel­leicht Okto­ber, Nebel. Sie trägt einen Mor­gen­man­tel, der noch immer in ihrem alten Haus im Bade­zim­mer an einem Haken hängt. Sie bückt sich nach der Zei­tung, schließt die Haus­tür, geht lang­sam, etwas unsi­cher bereits, zum Wohn­zim­mer­tisch, legt die Zei­tung auf ihm ab.  Weni­ge Schrit­te ent­fernt war­tet eine Tas­se Kaf­fee. Die holt sie jetzt. Sie setzt sich vor die Zei­tung und beginnt ihre eige­ne Zei­tung her­zu­stel­len. Das ist ein Vor­gang, der eine hal­be Stun­de Zeit in Anspruch neh­men kann. Um ihre eige­ne Zei­tung her­stel­len zu kön­nen, muss sie die ange­lie­fer­te Zei­tung Sei­te um Sei­te betrach­ten. Sobald sie eine Sei­te ent­deckt, auf wel­cher ein Arti­kel sich befin­det, den sie zu lesen wünscht, trennt sie die Sei­te vor­sich­tig von allen wei­te­ren Sei­ten, fal­tet sie und legt sie zur Sei­te. In die­ser Wei­se ent­steht nach und nach ein klei­ner Sta­pel von Zei­tungs­sei­ten, die die alte Dame nach und nach lesen wird. Sie geht spa­zie­ren, sie geht ein­kau­fen mit ihrem Wägel­chen von schot­ti­schem Mus­ter­stoff, sie tele­fo­niert mit ihren Freun­din­nen und sie sam­melt Blät­ter im Gar­ten und grüßt die Fische, die sich bereits auf den Win­ter vor­be­rei­ten. Indes­sen, immer wie­der ein­mal, ent­fal­tet sie eine der Sei­ten ihrer Zei­tung, um sie zu lesen. Dann ist Abend gewor­den. Unter der Lek­tü­re einer der letz­ten Zei­tungs­sei­ten schläft sie ein im Bett, das in ihrem alten Haus noch immer steht, wie auch die Nacht­tisch­lam­pe und ihre Bücher, ein Turm, die sie vor­hat­te zu lesen. — Im Haus der alten Men­schen, dort, wo über die Flu­re Roll­stüh­le fah­ren, dort wo Mut­ter nun lebt, exis­tie­ren weder Zei­tun­gen noch Bücher. Ich habe das genau so beob­ach­tet. — stop

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elisabeth

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char­lie : 0.05 UTC – Vor eini­gen Wochen besuch­te ich das Haus der alten Men­schen, in dem mei­ne Mut­ter wohnt. Ich spa­zier­te über die Flu­re des Hau­ses, mit einem Apfel in der Hand, und war­te­te, dass ich in das Zim­mer mei­ner Mut­ter geru­fen wür­de. Auf einem Sofa am Ende eines der Flu­re vor einem Fens­ter saß eine alte Frau, wie zu einer Salz­säu­le erstarrt. Als ich zum drit­ten Male an ihr vor­über­kam, erin­ner­te ich mich an eine Geschich­te, die ich ein­mal in Brook­lyn erleb­te. Ich hat­te sie vor Jah­ren notiert. Ich schrieb: Im Win­ter des vergan­genen Jah­res, an einem win­dig kal­ten Tag, besuch­te ich in Brook­lyn einen alten Herrn, Mr. Tomas­zweska und sei­ne Frau Elisa­beth. Sie woh­nen nahe der Clark Street in einem sechs­stö­ckigen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hat­te den alten Mann wäh­rend einer Fahrt auf einem Fähr­schiff zufäl­lig kennen­ge­lernt. Er beob­ach­tete, wie ich Fahr­gäste foto­gra­fierte, die ihre Namen heim­lich in die höl­zer­nen Sitz­bänke des Schif­fes ritz­ten. Er sprach mich freund­lich an, woll­te mir einen Schrift­zug zei­gen, den er selbst drei Jahr­zehnte zuvor an Ort und Stel­le in der glei­chen Wei­se wie die beob­ach­teten Passa­giere einge­tragen hat­te. Wir führ­ten ein kur­zes Gespräch über die New Yor­ker Hafen­be­hörde, Eisen­bahnen und Flug­zeuge, weiß der Him­mel, wie wir dar­auf gekom­men waren. Als wir das Schiff ver­lie­ßen, lud Mr. Tomas­zweska mich ein, ein­mal zu ihm zu kom­men. Dar­um stieg ich nur weni­ge Tage spä­ter in den sechs­ten Stock des schma­len Hau­ses auf den Höhen Brook­lyns. Die Tür zur Woh­nung stand offen, war­me Luft kam mir ent­ge­gen, die nach süßem Teig duf­te­te, nach Zimt und Früch­ten. Die Räu­me hin­ter der Tür waren verdun­kelt. Ich hat­te sogleich den Ein­druck, dass ich viel­leicht träum­te oder ver­rückt gewor­den sein könn­te, weil in die­sem Halb­dunkel an den Wän­den, auch auf dem Boden, Lam­pen, Dioden­lichter, glüh­ten. Modell­ei­sen­bahn­züge fuh­ren auf schma­len Gelei­sen her­um. Ich höre noch jetzt das lei­se Pfei­fen einer Dampf­lo­ko­mo­tive, das mei­nen Besuch beglei­tete. Es war eine rasen­de Zeit, Stun­den des Stau­nens, da in der Woh­nung des alten Herrn eine sehr beson­dere Modell­an­lage gas­tier­te, ja, ich soll­te sagen, dass die Woh­nung selbst zur Anla­ge gehör­te, wie der Him­mel zur wirk­li­chen Welt. Alle Züge fuh­ren auto­ma­tisch von einem Com­pu­ter gesteu­ert, die Luft über den Gelei­sen roch scharf nach Zinn. Wir spra­chen indes­sen nicht viel, Mr. Tomas­zweska und ich, son­dern schau­ten dem Leben auf dem Boden in aller Stil­le zu. An einem Fens­ter, des­sen Vor­hän­ge zuge­zogen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Elisa­beth. Sie beach­tete mich nicht, starr­te viel­mehr lächelnd auf eine klei­ne Klap­pe, die in die Wand des Hau­ses einge­lassen war. Manch­mal öff­ne­te sich die Klap­pe und ich konn­te für Momen­te das Meer erken­nen, das an die­sem Tag von grün­grauer Far­be gewe­sen war, wunder­bare Augen­blicke, denn immer dann, wenn das Meer in dem klei­nen Fens­ter erschien, lach­te die alte Frau mit glocken­heller Stim­me auf, um kurz dar­auf wie­der zu erstar­ren. Ein­mal setz­te sich Mr. Tomas­zweska neben sei­ne Frau und füt­ter­te sie mit war­mem Oran­gen­ku­chen, den er selbst geba­cken hat­te. Und wie wir uns wie­der auf den Boden setz­ten, um ein Modell des Orient­ex­press durch die Zim­mer der Woh­nung krei­sen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemein­sam hier oben sehr glück­lich sei­en. Er kön­ne mit sei­ner Frau zwar nicht mehr spre­chen, er kön­ne sie nur noch strei­cheln, was sie ver­ste­hen wür­de oder sich erin­nern an die Spra­che sei­ner Hän­de. Ver­stehst Du, sag­te er, sie ver­gisst immer sofort, alles ver­gisst sie, auch wer ich bin, aber sie ver­gisst nie­mals nach den klei­nen Engeln zu sehen, die uns besu­chen, sie kom­men dort durch die Klap­pe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wun­der, sag­te der alte Mann, wie schön sie lacht, mein jun­ges Mäd­chen, nicht wahr, mein jun­ges Mäd­chen. – stop
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landschaft mit händen

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sier­ra : 22.18 UTC — In einem Zug woll­te mir ein jun­ger Mann einen Algo­rith­mus erklä­ren. Er sag­te: Schau Lou­is, die­ser Algo­rith­mus hier scheint von einer sehr begab­ten Per­son for­mu­liert wor­den zu sein. Ich möch­te behaup­ten, die­ser Algo­rith­mus stellt im Grun­de ein Lebe­we­sen dar. Der jun­ge Mann sah mich mit einem leich­ten Sil­ber­blick an, ver­mut­lich von Begeis­te­rung auf sein Gesicht gespielt. Die­sen Algo­rith­mus, fuhr er fort, sei der­art kom­plex, dass kaum noch ein mensch­li­ches Wesen ihn allein erfas­sen kön­ne. Man müs­se ver­mut­lich über einen leis­tungs­star­ken Rech­ner ver­fü­gen, um auch nur annä­hernd an sei­nen Kern, an eine Idee, die irgend­wo in dem Algo­rith­mus steck­te, her­an­zu­kom­men. Wäh­rend der jun­ge Mann sprach, folg­te ich sei­nen Hän­den, die über die Tas­ta­tur sei­nes Note­books hüpf­ten, als wären sie hell­häu­ti­ge Tie­re. Ich geste­he, ich habe kaum ver­stan­den, wovon der jun­ge Mann eigent­lich erzähl­te, da waren zu vie­le Zah­len im Spiel gewe­sen. Ich dach­te in jenem Moment vor­ran­gig an mei­ne eige­ne Lang­sam­keit, dass ich mit der Zeit zunächst immer schnel­ler wur­de, und dann plötz­lich wur­de ich lang­sa­mer, was ich zunächst nicht bemerk­te, bis ich in einem Zug saß und hel­le Fin­ger­ge­schöp­fe betrach­te­te, die eine Tas­ta­tur bedien­ten. So schnell waren sie vor mei­nen Augen gewe­sen, dass sie nach und nach unscharf wur­den, wie wohl mei­ne eige­nen Hän­de vor den Augen mei­nes Vaters unscharf gewor­den waren, als er sie mit einem selt­sa­men Blick betrach­te­te, des­sen Ursprung ich in einem Zug vie­le Jah­re spä­ter ent­deckt zu haben mein­te. — stop
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von den fächertieren

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echo : 18.06 UTC — Erin­nern Sie sich an das Geräusch der Tau­ben in einem Tau­ben­schlag, ich mei­ne an das Geräusch der Flü­gel, wenn sie ihre Federn schüt­teln? Soll­ten Sie sich erin­nern, wird Ihnen nicht schwer­fal­len, einen klei­nen Laden vor­zu­stel­len, in wel­chem Fächer­tie­re woh­nen, die erwar­ten, dass irgend­je­mand sie mit sich nimmt, ein Ort vol­ler Win­de kreuz und quer. Fächer­tie­re sind wert­vol­le Geschöp­fe. Ein aus­ge­wach­se­nes, gut trai­nier­tes Exem­plar wird nicht unter 750 Pfund gehan­delt. Wenn man nun eines die­ser Wesen aus einer Schar hun­der­ter wei­te­rer Wesen wähl­te, wird es in einen beson­de­ren Kof­fer ver­staut. Es han­delt sich um einen knö­cher­nen Behäl­ter von läng­li­cher Form, in dem das Fächer­tier zur Ruhe gelegt wer­den kann. Nicht not­wen­dig zu erwäh­nen, dass das Tier gegen sei­ne Fes­se­lung mit­tels fau­chen­der Lau­te pro­tes­tie­ren wird, aber das gibt sich bald, das muss man sich nicht all­zu sehr zu Her­zen neh­men. Kaum aus dem Laden getre­ten, schläft das Fächer­tier ein, das machen sie in Zei­ten einer Rei­se immer, es ist nichts ande­res zu tun. Und so geht man also spa­zie­ren. Bald sitzt man in einer Stra­ßen­bahn, es ist heiß, es ist schwül, jetzt soll­te man das klei­ne Tier aus sei­nem Köcher holen. Man hält es vor­sich­tig in der Hand, unver­züg­lich wird das selt­sa­me Wesen wach. Dort wo die Federn des Tie­res in einem Punkt zuein­an­der lau­fen, ist nun, aus der Nähe betrach­tet, ein klei­ner, run­der Kör­per zu ent­de­cken, so groß wie eine Mur­mel, der atmet, zwei Augen auch, und ein Schna­bel, in dem sich eine Zun­ge hin und her bewegt, die einer Karp­fen­zun­ge ähnelt. Man darf das Tier an die­ser Stel­le berüh­ren, sanft, dann lässt man es los. Das Fächer­tier ent­fal­tet sich, präch­ti­ge Far­ben, Mus­ter, die sich von Tier zu Tier unter­schei­den, kei­nes gleicht dem ande­ren. Und schon geht es los, eine Bewe­gung auf und ab, hin und her, küh­len­de Win­de, es ist ganz wun­der­bar. Indes­sen, in den ers­ten Minu­ten stau­nen­der Beob­ach­tung, wird man viel­leicht befürch­ten, sie könn­ten sich ent­fer­nen, aber das ist nie­mals der Fall. — stop



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