Aus der Wörtersammlung: essen

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rose No 2

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india : 22.58 UTC — In einem schat­ti­gen Laden nahe der Roo­se­velt Island Tram­way Basis­sta­ti­on West war­te­te ein­mal ein alter Mann hin­ter einem Tre­sen. Er war ver­mut­lich ame­ri­ka­ni­scher Staats­bür­ger chi­ne­si­schen Ursprungs. Als ich von dem klei­nen Park her, des­sen Lin­den­bäu­me Küh­le spen­de­ten, in den Laden trat, ver­beug­te sich der Mann, grüß­te, er kann­te mich bereits, wuss­te, dass ich mich für Schne­cken inter­es­sie­re, für Was­ser­schne­cken prä­zi­se, auch für wan­dern­de See­ane­mo­nen­bäu­me, und für Pra­li­nen, die unter der Was­ser­ober­flä­che, also im Was­ser, hübsch anzu­se­hen sind, schwe­ben­de Ver­su­chun­gen, ohne sich je von selbst auf­zu­lö­sen. An die­sem hei­ßen Som­mer­abend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzähl­te dem alten Mann, ich wür­de nach einem beson­de­ren Geschenk suchen für ein Kie­men­mäd­chen namens Rose. Sie sei zehn Jah­re alt und nicht sehr glück­lich, da sie schon lan­ge Zeit den Wunsch ver­spür­te, wie ande­re Kin­der ihres Alters zur Schu­le zu gehen, leib­haf­tig am Unter­richt teil­zu­neh­men, nicht über einen Bild­schirm mit einem fer­nen Klas­sen­raum ver­bun­den. Ich glau­be, ich war genau zu dem rich­ti­gen Zeit­punkt in den Laden gekom­men, denn der alte, chi­ne­sisch wir­ken­de Mann, freu­te sich. Er mach­te einen hel­len, pfei­fen­den Ton, ver­schwand in sei­nen Maga­zi­nen, um kurz dar­auf eine Rei­he von Spiel­do­sen auf dem Tre­sen abzu­stel­len. Das waren Wal­zen- und Loch­plat­ten­spiel­do­sen mit Kur­bel­wer­ken, die der Ladung einer Feder­span­nung dien­ten. Vor einer Stun­de gelie­fert, sag­te der alte Mann, sie machen schau­er­lich schö­ne Geräu­sche im Was­ser! Man kön­ne, setz­te er hin­zu, sofern man sich in dem­sel­ben Was­ser der Spiel­do­sen befän­de, die fei­nen Stö­ße ihrer mecha­ni­schen Wer­ke über­all auf dem Kör­per spü­ren. Bald leg­te er eine der Dosen in ein Aqua­ri­um ab, in wel­chem Zwerg­see­ro­sen sie­del­ten. Kurz dar­auf fuhr ich mit der Tram nach Roo­se­velt Island rüber. Das Musik­werk, Ben­ny Good­man, das ich für Rose erstan­den hat­te, war in das Gehäu­se einer Jakobs­mu­schel ver­senkt. Die Schne­cke leb­te, wes­we­gen ich tropf­te, weil der Beu­tel, in dem ich Roses Geschenk trans­por­tier­te, über eine undich­te Stel­le ver­füg­te. Gegen Mit­ter­nacht, ich war gera­de ein­ge­schla­fen, öff­ne­te tief in mei­nem rech­ten Ohr knis­ternd eine Zwerg­see­ro­se ihre Blü­te. — stop
ping

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einmal*

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echo : 22.58 — Ein­mal dach­te ich einen voll­stän­di­gen Tag ent­lang über die Grö­ße kleins­ter Schrift­zei­chen nach, die von einer mensch­li­chen Hand frei auf Papier gezeich­net sein könn­ten. Nachts träum­te ich von einem Jun­gen, der eine Appa­ra­tur pro­bier­te, die in der Lage sein soll­te, die Kör­per­tem­pe­ra­tur einer Frucht­flie­ge zu mes­sen. Wann sich die­ser Tag prä­zi­se ereig­ne­te, kann ich nicht mit Gewiss­heit sagen, da ich mei­ne Noti­zen auf einem Zet­tel schrieb, den ich hin­ter einem Schrank ent­deck­te. Ich weiß hin­ge­gen prä­zi­se, dass ich den Zet­tel vor zwei Wochen wie­der­ge­fun­den habe. Es kommt mir nun so vor, als hät­te sich der auf dem Zet­tel ver­zeich­ne­te Tag der Über­le­gung kleins­ter Schrift­zei­chen erst ges­tern ereig­net. — stop

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ein fahrrad

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whis­key : 5.16 UTC – Ein­mal, vor fünf Jah­ren sprach ich mit Mar­tha, die kürz­lich gestor­ben ist, über das Ver­ges­sen oder Ver­gess­lich­keit. Sie sag­te, dass man, wenn man wirk­lich vergess­lich wird, die­se Vergess­lich­keit nur dann bemerkt, wenn man dar­auf auf­merk­sam gemacht wird. An Tagen, da sie sich allein in ihrer Woh­nung auf­hal­te, kön­ne sie ver­ges­sen, soviel sie wol­le, es wür­de ihr selbst nicht und nie­mand ande­rem auf­fal­len, dass sie eigent­lich einen Film betrach­ten woll­te, aber auf dem Weg zum Fern­seh­gerät plötz­lich ein Buch auf dem Tisch ent­deck­te, wes­halb ihr Film­wunsch ver­lo­ren ging. – Lie­be Mar­tha, notier­te ich, Du hast ver­säumt, nach einem Text zu suchen, von dem ich Dir erzähl­te. Ich sen­de die­sen Text noch ein­mal und rufe Dich gleich an, damit Du ihn für mich vor­le­sen wirst. Hier ist der Text, den Mar­tha damals ver­mut­lich noch wahr­ge­nom­men hat­te. Er geht so: Eines der letz­ten beweg­ten Bil­der, die ich von mei­nem Vater in Erin­ne­rung habe, zeigt ihn, wie er in sei­nem Arbeits­zimmer am Com­pu­ter arbei­tet. Auf dem Bild­schirm sind dut­zen­de Programm­fenster geöff­net. Der alte Mann sitzt fast bewe­gungslos in sei­nem Ses­sel. Manch­mal tas­tet eine Hand durch die Luft, greift unsi­cher nach einem Glas Milch, bald stellt sie das Glas wie­der auf den Tisch zurück. Ich sehe einen Zei­ger über den Bild­schirm fah­ren. Ein wei­te­res Programm­fenster öff­net sich. Ein klei­nes Mäd­chen fährt in die­sem Fens­ter auf einem Fahr­rad über einen san­di­gen Weg. Sie bewegt sich in Schlan­gen­li­nien dahin, lacht hoch zur Kame­ra, die rück­wärts durch die Luft zu flie­gen scheint. Es ist ein hei­te­rer Film. Sobald der Film zu Ende ist, spielt ihn mein Vater von vorn ab. Aber dann öff­net sich wie von Geis­ter­hand noch ein Fens­ter, das den hei­te­ren Film ver­deckt. Eine Foto­grafie, Mut­ter nahe Lis­sa­bon an einem Strand. Neben ihr liegt der Mann, der vor dem Com­pu­ter sitzt, im Sand. Er trägt Turn­schuhe. Auch mei­ne Mut­ter trägt Turn­schuhe. Ich frag­te mich, wer die­se Auf­nah­me mach­te, und kom­me nicht dar­auf. Ein Schat­ten ist zu erken­nen, der Schat­ten eines Foto­grafen viel­leicht. In die­sem Moment ruft die Frau, die auf der Foto­grafie zu sehen ist, von unten, vom Wohn­zimmer her, dass das Mittag­essen bald fer­tig sei. Wie nun mein Vater sich an die Arbeit macht, alle Fens­ter, die er im Lau­fe des Vormit­tages geöff­net hat­te, wie­der zu schlie­ßen. Nein, alles muss aufge­räumt wer­den. Mein Vater steht nicht ein­fach auf, um sich sofort unsi­cheren Schrit­tes auf die Trep­pe zu wagen. Ich sehe, wie sich der Zei­ger auf dem Bild­schirm den Rah­men der Programm­fenster nähert. Er scheint das Sym­bol für das Schlie­ßen der Fens­ter zu suchen, aber das Sym­bol ist nicht zu entde­cken, nicht zu erken­nen. Der Zei­ger irrt auf dem Bild­schirm her­um, Fens­ter drän­gen sich in den Vorder­grund und ver­schwin­den wie­der. Dann kommt Mut­ter her­bei, sie ruft zärt­lich: Komm, komm, das Essen ist fer­tig. Schrit­te auf der Trep­pe. Das Geräusch der Bestecke. Das Zwit­schern der Vögel vom Gar­ten her. Im Zim­mer auf dem Schreib­tisch ist der Com­pu­ter längst einge­schlafen. – stop

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im juli

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echo : 0.10 UTC — Ein­mal, vor einem Jahr prä­zi­se, ging ich im Haus der alten Men­schen her­um. Da waren geöff­ne­te Türen, und da schau­te ich hin­ein in die Zim­mer. Ich beob­ach­te­te einen alten Mann, der vor sei­nem Roll­stuhl knie­te, und eine alte Dame mit schloh­wei­ßem Haar, die lag wie ein Mäd­chen, mit weit von sich gestreck­ten Armen und Bei­nen im Bett wie in einer Som­mer­wie­se. An einem wei­te­ren Tag beob­ach­te­te ich ein Bett, in des­sen Kis­sen­tie­fe ein klei­ner Mensch ruhen muss­te. Nur Hän­de waren von ihm zu sehen, die sich beweg­ten, die Schat­ten war­fen, die spiel­ten oder mit der Luft spra­chen, Stun­de um Stun­de, Tag für Tag. — Und jetzt ist ein Jahr spä­ter gewor­den, es ist Novem­ber, es ist Zeit zu berich­ten, dass der klei­ne unsicht­ba­re Mensch im August gestor­ben ist. Viel­leicht ist er an den Wir­kun­gen der Zeit gestor­ben oder aber in sei­nem Bett an den Fol­gen eines ohren­be­täu­ben­den Lärms, der auf ihn ein­wirk­te mona­te­lang, weil man das Haus über ihm um ein Dach­ge­schoss erwei­ter­te, wäh­rend er noch immer in sei­nem Bett lag. Aber das ist natür­lich nur eine Ver­mu­tung öder eine Befürch­tung oder eine Behaup­tung, nichts wei­ter. — stop

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max

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alpha : 22.02 UTC — Ich erin­nere mich gern an Max, soeben ist es wie­der pas­siert, dass ich mich an Max erin­ner­te. Er war 6 Jah­re alt gewor­den, als ich ihm zuletzt persön­lich begeg­nete. Wir saßen damals an einem Küchen­tisch, es war Abend, Max schon müde. Er schüt­telte etwas gelang­weilt eine Papri­ka­schote und wun­der­te sich, weil in der gel­ben Frucht Bewe­gung zu sein schien. Ich nahm ihm die Papri­ka aus der Hand, und tatsäch­lich war in ihrem Inne­ren etwas lose gewor­den oder exis­tierte dort, das sich übli­cher­weise nicht in einer Papri­ka befin­den soll­te. Also leg­te ich die Papri­ka zur Unter­su­chung auf einen Tel­ler und öff­ne­te sie vor­sich­tig. Es war ein klei­nes Loch, das ich in die Papri­ka schnitt. Sei­te an Sei­te sit­zend, war­te­ten wir gespannt vor der Frucht dar­auf, ob viel­leicht Irgend­etwas oder Irgend­je­mand aus der Öff­nung stei­gen wür­de. Indes­sen erzähl­te ich von der Erfin­dung der Tief­see­ele­fanten, von ihren kilo­me­ter­langen Rüs­seln, die sie zur Meeres­ober­fläche recken, sofern sie den Atlan­tik durch­queren. Bald wur­de Max unge­duldig, er nahm die Papri­ka in sei­ne Hän­de, um durch das spar­same Loch zu spä­hen, ohne frei­lich etwas sehen zu kön­nen, es war dun­kel da drin, wes­halb ich das Loch vergrö­ßerte, und außer­dem noch zwei klei­nere Löcher für das Licht seit­wärts in den Kör­per trieb. Wie­der­um späh­te Max in die Papri­ka, jetzt konn­te er etwas erken­nen. Er stell­te nüch­tern fest, dass sich in der Papri­ka ein Ohr befin­den wür­de, ein Papri­kaohr, ganz ein­deu­tig. Vier Jah­re sind seit­her ver­gan­gen. Als ich vor zwei Jah­ren mit Max tele­fo­nierte, erklär­te er, dass er in der Schu­le Tief­see­men­schen mit Blei­stift zeich­nete. Immer wie­der habe er die Kör­per der Tief­see­men­schen, die über den Meeres­boden spa­zier­ten, ausra­diert, um sie noch klei­ner zu machen, damit ihre Häl­se auch lang genug wer­den konn­ten auf dem viel zu klei­nen Blatt Papier, das ihm zur Verfü­gung gestellt wor­den war. – stop
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ai : NIGER

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Der mul­ti­na­tio­na­le Ölkon­zern Shell und die Regie­rung des süd­ni­ge­ria­ni­schen Bun­des­staa­tes Rivers haben es ver­säumt, die Bewohner_innen von Oga­le, einer Regi­on außer­halb von Port Har­court, der Haupt­stadt von Rivers, regel­mä­ßig mit siche­rem Trink­was­ser zu ver­sor­gen. Die meis­ten der dort leben­den Men­schen müs­sen ent­we­der Was­ser kau­fen oder Grund­was­ser trin­ken, das laut einer 2011 ver­öf­fent­lich­ten Stu­die der Ver­ein­ten Natio­nen gefähr­lich ver­schmutzt ist./ Die Stu­die des Umwelt­pro­gramms der Ver­ein­ten Natio­nen (United Nati­ons Envi­ron­ment Pro­gram­me, UNEP) ergab, dass die Bewohner_innen von Oga­le Was­ser aus Brun­nen tran­ken, das so stark mit dem bekann­ten Kar­zi­no­gen Ben­zol ver­un­rei­nigt war, dass es den nach inter­na­tio­na­len Richt­li­ni­en fest­ge­leg­ten Grenz­wert um das 900-fache über­schritt. Das Was­ser zu trin­ken wer­de „sicher lang­fris­ti­ge gesund­heit­li­che Fol­gen“ haben. UNEP emp­fahl der nige­ria­ni­schen Regie­rung, unver­züg­lich Maß­nah­men zu ergrei­fen, damit die Men­schen in Oga­le nicht wei­ter­hin Trink­was­ser aus kon­ta­mi­nier­ten Brun­nen trin­ken müs­sen, und ihnen eine alter­na­ti­ve Quel­le für sau­be­res Was­ser zur Ver­fü­gung zu stel­len. Trotz die­ses drin­gen­den Auf­rufs gibt es noch immer kei­nen Zugang zu solch einer Quel­le. / Am 1. Sep­tem­ber 2018 besuch­te Amnes­ty Inter­na­tio­nal Oga­le und sprach mit Anwohner_innen. Die meis­ten von ihnen kau­fen ihr Was­ser für den per­sön­li­chen und häus­li­chen Gebrauch, etwa zum Trin­ken, Kochen und Waschen, obwohl sie es sich eigent­lich nicht leis­ten kön­nen. In eini­gen Fäl­len geben Bewohner_innen ein Drit­tel ihres wöchent­li­chen Ein­kom­mens für Was­ser aus, sodass sie manch­mal statt drei Mahl­zei­ten am Tag nur zwei essen kön­nen. Die­je­ni­gen, die es sich nicht leis­ten kön­nen, Was­ser zu kau­fen, trin­ken und nut­zen das ört­li­che Grund­was­ser – trotz der Warn­schil­der, die dar­auf hin­wei­sen, dass das Was­ser ihre Gesund­heit gefähr­det. Man­che trin­ken Was­ser aus loka­len Brun­nen und Bohr­lö­chern, auch wenn auf dem Was­ser ein öli­ger Film zu sehen ist. Eini­ge Bewohner_innen bezah­len sogar für das Was­ser aus den Bohr­lö­chern. Ande­re nut­zen Regen­was­ser, in dem sich schwar­ze Flöck­chen befin­den. Die Bewohner_innen haben kei­ne ande­re Wahl, da sie nicht das nöti­ge Geld auf­brin­gen kön­nen, um Was­ser von pri­va­ten Anbieter_innen zu kau­fen und die Regie­rung bereits seit über einem Jahr kein sau­be­res Was­ser mehr bereit­stellt. Zeit­gleich mit dem Besuch von Amnes­ty Inter­na­tio­nal in Oga­le wur­den eini­ge der von der Regie­rung regu­lier­ten Was­ser­lei­tun­gen wie­der in Betrieb genom­men. Doch die Bewohner_innen berich­ten, dass die Was­ser­ver­sor­gung ledig­lich eine Stun­de am Mor­gen oder am Nach­mit­tag funk­tio­niert und die zur Ver­fü­gung gestell­te Was­ser­men­ge nicht aus­reicht, um den grund­le­gen­den Was­ser­be­darf zu decken. Amnes­ty Inter­na­tio­nal hat Grund zu der Annah­me, dass auch die­ses Was­ser nicht den Richt­li­ni­en der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on für Trink­was­ser­qua­li­tät ent­spricht.“ - Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen bis spä­tes­tens zum 3.8.2018 unter > ai : urgent action
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lido santa maria elisabetta

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tan­go : 22.06 UTC — Eine Welt ohne Auto­mo­bi­le ken­ne ich nicht. Auch eine Welt ohne Strom ist mir nicht bekannt. Nach Stun­den der Fahrt mit­tels Was­ser­bus­sen hin und her und her­um, muss ich des­halb an Land gehen, muss mei­ne Schreib­ma­schi­ne mit Strom ver­sor­gen, um arbei­ten zu kön­nen. Ich stell­te mir ein­mal vor, wie ich unter Vene­zia­ne­rin­nen und Vene­zia­nern sit­ze mit einer klap­pern­den Olym­pia­schreib­ma­schi­ne auf den Knien. Oder das Notie­ren von Hand in ein Notiz­buch auf schwan­ken­den Sitz­ge­le­gen­hei­ten der Dampf­schiff­chen rei­send. Man kann nie­mals erah­nen, in wel­che Rich­tung sich die Welt bewe­gen wird. Plötz­lich fährt die Stift­spit­ze unter der Hand sprung­haft vor­wärts oder rück­wärts, zieht eine Linie jen­seits geplan­ter Schrift­zei­chen, bil­det die Bewe­gung des Mee­res auf Notiz­pa­pie­ren nach. In der digi­ta­len Zeit wer­den ver­rück­te Zei­chen, Fol­ge der Mee­res­be­we­gung von dem Kor­rek­tur­ge­dächt­nis der elek­tri­schen Schreib­ma­schi­ne unver­züg­lich kor­ri­giert. Eine wun­der­ba­re Beob­ach­tung ist, wie ich siche­rer wer­de im Ste­hen auf dem Was­ser im Bus. Beob­ach­te­te hun­der­te Male Kno­ten­bin­dung in dem Moment, da sich das Batel­lo dem Lan­de nähert, da es anzu­le­gen wünscht, sodass es für einen kur­zen Moment selbst zu Land wird. Wie wir Men­schen dann über Brü­cken gehen, wie tan­zen. Am Abend ein­mal spür­te ich die uralte Stadt selbst unter mir schwan­ken. Da ich mich in die­sem Augen­blick dem Lido nähe­re, bemer­ke ich, dass ich die Erfin­dung der Auto­mo­bi­le bereits nach weni­gen Tagen ver­ges­sen habe. — stop
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san zaccaria

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nord­pol : 23.01 UTC — Cla­ra, ein Nas­horn, wel­ches vor lan­ger Zeit als leben­des Schau­stück durch Euro­pa reis­te, soll im Jahr 1751 zur Zeit des Kar­ne­vals auch in Vene­dig zu sehen gewe­sen sein. 1720 bereits wur­de das Café Flo­ri­an am Ran­de des Mar­kus­plat­zes eröff­net. Man stel­le sich ein­mal vor, wie das aus­ge­wach­se­ne Nas­horn wie­der­käu­end in einem der mit Fein­gold ver­zier­ten Kaf­fee­haus­ab­tei­le steht und etwas vom Heu nascht, wäh­rend es begafft wird. Man kann leich­ter Hand sehr vie­le Geschich­ten erfin­den, wenn man mit Was­ser­bus­sen selbst­ver­ges­sen durch Vene­dig reist, man könn­te die ein oder ande­re Wirk­lich­keit mit einer wei­te­ren Wirk­lich­keit ver­we­ben. An einem Nach­mit­tag folg­te ich einer Grup­pe betag­ter Chi­ne­sin­nen durch jene Gäss­chen, da sich Glas­wa­ren­mo­ti­ve tau­send­fach repro­du­zie­ren. Ich dach­te noch, ich sei von Vögeln umge­ben, zwit­schern­de Stim­men. Plötz­lich deu­te­te eine der alten Frau­en, sie trug gel­be Turn­schu­he und schloh­wei­ßes Haar auf dem Kopf, nach einem Schrift­zug, der auf der Rück­sei­te einer Minia­tur­thea­ter­mas­ke von Plas­tik zu lesen war: Made in Chi­na, die­se Freu­de. Wie wun­der­bar die Küchen der Zwerg­kö­che, deren Räu­me da und dort sicht­bar wer­den in der Dun­kel­heit schma­ler Gas­sen. Ein­mal begeg­ne­te ich an einem spä­ten Abend einem Mäd­chen, das leuch­te­te. — stop

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ferrovia

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alpha : 18.02 UTC — Ich kam mit dem Zug nach Vene­dig, trat auf den Vor­platz des Bahn­hofs­ge­bäu­des, hör­te, ver­traut, das Brum­men der Vapo­ret­to­mo­to­ren, bemerk­te das dun­kel­blau­graue Was­ser, und einen Geruch, auch er ver­traut, der von Wör­tern noch gefun­den wer­den muss. Und da war die Kup­pel der Chie­sa di san Simeone Pic­co­lo im Abend­licht, und es reg­ne­te leicht, kaum Tau­ben, aber Kof­fer­men­schen, hun­der­te Kof­fer­men­schen hin und her vor Ticket­schal­tern, hin­ter wel­chen gedul­di­ge städ­ti­sche Per­so­nen oder Furi­en war­te­ten, die das ein oder ande­re Dra­ma bereits erlebt hat­ten an die­sem Tag wie an jedem ande­ren ihrer Arbeits­ta­ge. Und da war mein Blick hin zur Pon­te degli Scal­zi, einem geschmei­di­gen Bau­werk lin­ker Hand, das den Canal Gran­de über­quert. Ich will das schnell erzäh­len, kurz hin­ter Vero­na war ich auf den Hin­weis gesto­ßen, es habe sich dort nahe der Brü­cke, vor den Augen hun­der­ter Beob­ach­ter aus aller Welt, ein jun­ger Mann, 22 Jah­re alt, der Gam­bier Pateh Sabal­ly, mit­tels Ertrin­kens das Leben genom­men. Ein Mensch war das gewe­sen, der auf gefähr­li­cher Rou­te das Mit­tel­meer bezwang. Nie­mand sei ihm zu Hil­fe gekom­men, ein Vapo­ret­to habe ange­hal­ten, man habe eini­ge Ret­tungs­rin­ge nach ihm gewor­fen, aber er habe nicht nach ihnen gegrif­fen, wes­halb man eine oder meh­re­re Film­auf­nah­men mach­te, indes­sen man den jun­gen Mann ermu­tig­te: Wei­ter so, geh nach Hau­se! Das war im Janu­ar gewe­sen, das Was­ser der Kanä­le kalt wie die Betrach­ter­see­len. In die­sem Augen­blick, als ich aus dem Bahn­hof in mei­nen vene­zia­ni­schen Zeit­raum trat, war kei­ne Spur der Tra­gö­die dort unter dem Him­mel ohne Tau­ben zu ent­de­cken, außer der Spur in mei­nem Kopf. — stop

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celestia

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del­ta : 20.58 UTC — Es war an einem Abend kürz­lich, dass ich die wohl­klin­gen­de Stim­me einer Frau bemerk­te, die in einem Was­ser­bus jeweils die kom­men­de Hal­te­sta­ti­on der Linea 4.1 ankün­dig­te. Je län­ger die Fahrt dau­er­te, des­to dring­li­cher wur­de der Wunsch, die­se Stim­me auf­zu­neh­men, sie fest­zu­hal­ten, sie für mich ein­zu­fan­gen. Ich fuhr nach Reden­to­re zurück und setz­te mit mei­ner Rund­rei­se um die Stadt Vene­dig von Neu­em an. Indes­sen ver­zeich­ne­te mei­ne Schreib­ma­schi­ne jedes Geräusch der ein­stün­di­gen Fahrt, Wel­len, Gesprä­che, Kom­man­dos des Pilo­ten und sei­ner Assis­ten­tin, das knir­schen­de Geräusch der Taue, wie sie sich um eiser­ne Kamel­schiffs­hö­cker win­den, auch Schrit­te der Aus­stei­gen­den, Schrit­te der Zustei­gen­den, und eben immer wie­der die­se zärt­li­che Stim­me: Prossi­ma fer­ma­ta Celes­tia. Next stop Celes­tia. Wie, wenn die­se Stim­me noch in Jahr­hun­der­ten hör­bar wäre, die­se Stim­me einer dann längst ver­gan­ge­nen Per­son. Kein Grund zu ent­de­cken in die­ser Minu­te, wes­halb je wei­te­re Sta­tio­nen der Stadt Vene­dig zu erfin­den wären. stop

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