MENSCH IN GEFAHR: „Der von der Hinrichtung bedrohte Arzt Dr. Ahmadreza Djalali wird seit sieben Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt im Evin-Gefängnis in Teheran in Haft gehalten. Nach der wiederholten Aufforderung, ihnen Kontakt zu ihrem Mandanten zu ermöglichen, übergab die Gefängnisverwaltung seinen Anwält_innen Ende Dezember 2020 einen undatierten Brief von Dr. Djalali. Darin schrieb er, dass er sich seit 33 Tagen in Einzelhaft befindet. Seiner Familie und seinen Anwält_innen wurde am 24. November 2020 gesagt, dass das Todesurteil von Dr. Djalali innerhalb einer Woche vollstreckt werde und sie nun die letzte Gelegenheit zu einem Videotelefonat hätten. / Die Nachricht der bevorstehenden Vollstreckung löste internationale Forderungen aus, seine Hinrichtung zu stoppen. Laut Amnesty International vorliegenden Informationen wurden nach den weltweiten Protesten die Hinrichtungspläne am 2. Dezember 2020 “auf Anweisung von oben” gestoppt. Am 8. Dezember 2020 erfuhr die Familie, dass seine Hinrichtung um eine Woche verschoben wurde und Ende Dezember hieß es, dass die Vollstreckungsbehörde die Hinrichtung erneut um einen Monat verschoben habe. Doch die Tatsache, dass sich Ahmadreza Djalali nach wie vor in Haft ohne Kontakt zur Außenwelt befindet, gibt trotz der zwei Aufschübe großen Anlass zu der Befürchtung, dass er jederzeit hingerichtet werden könnte. Denn die iranischen Behörden pflegen Todeskandidat_innen im Geheimen hinzurichten, nachdem sie sie in Einzelhaft verlegt und ihnen darin den Kontakt zur Außenwelt verweigert haben. / Dr. Ahmadreza Djalali wurde im Oktober 2017 in einem grob unfairen Verfahren vor der Abteilung 15 des Teheraner Revolutionsgerichts wegen “Verdorbenheit auf Erden” (ifsad fil-arz) zum Tode verurteilt. Das Gericht stützte sich dabei hauptsächlich auf “Geständnisse”, die laut Ahmadreza Djalali durch Folter und andere Misshandlungen erzwungen worden waren. Er befand sich zu dieser Zeit in verlängerter Einzelhaft und hatte keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Die Behörden drohten ihm, ihn hinzurichten und seine in Schweden lebenden Kinder sowie seine im Iran lebende Mutter zu töten oder auf andere Art zu verletzen. Amnesty International vertritt die Auffassung, dass der Straftatbestand der “Verdorbenheit auf Erden” die strafrechtlichen Erfordernisse der Rechtsklarheit und Genauigkeit nicht erfüllt und zudem dem Legalitätsprinzip und dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderläuft. Am 9. Dezember 2018 erfuhren die Rechtsbeistände von Ahmadreza Djalali, dass sein Todesurteil vor Abteilung 1 des Obersten Gerichtshofs summarisch bestätigt worden war, ohne dass sie die Möglichkeit hatten, Verteidigungsanträge im Namen ihres Mandanten einzureichen. Mindestens zwei Anträge auf eine gerichtliche Überprüfung seines Falls wurden abgelehnt.“ - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 24.2.2021 unter > ai : urgent action
Aus der Wörtersammlung: hand
teelicht
echo : 20.18 UTC — Einmal, vor zwei Jahren, war ich im Traum an einem späten Sommerabend auf einem Friedhof gewesen. Dämmerung, Lichter schwebten in der Luft. Sie kamen vom Westen her, verteilten sich über den Kronen der Bäume, um kurz darauf langsam abzusteigen. Ich saß am Grab meiner Eltern, beobachtete aus nächster Nähe, wie sich eine Drohne näherte. Über einem Plateau von Handtellergröße hielt sie inne. Die Drohne summte. Bald öffnete sich ihr transparenter Leib, und sie setze behutsam mittels einer Greifhand von blitzendem Metall ein Teelicht ab. Kurz darauf schloss sich ihr Bauch und sie flog schnell davon. — stop
ai : BELARUS
MENSCH IN GEFAHR: „Viachaslau Rahashchuks Gesundheitszustand ist so schlecht, dass er umgehend in ein Krankenhaus eingewiesen werden müsste. Doch stattdessen befindet er sich in der Untersuchungshaftanstalt Nr. 6. Seine Verletzungen sind auf Folter und andere Misshandlungen zurückzuführen, denen er in der Haft ausgesetzt war. / Der Taxifahrer wurde am Abend des 10. August in Pinsk von mindestens fünf Polizeibeamt_innen gewaltsam und willkürlich festgenommen, als er mit seiner Schwester und ihrem zwölfjährigen Sohn spazieren ging. Am Vortag waren die Wahlergebnisse der Präsidentschaftswahl offiziell bekanntgegeben worden und nach massiven Betrugsvorwürfen hielten die Proteste in der Stadt noch an. Viachaslau Rahashchuk hat keine Straftat begangen und seine Festnahme und nachfolgende Inhaftierung sind willkürlich. In der Zwischenzeit wurde er nach Paragraf 293 Teil 1 des belarussischen Strafgesetzbuches angeklagt, der im Zusammenhang mit dem Vorwurf von “Massenunruhen” steht. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 15 Jahre Haft. / Am 11. August nahm einer der damaligen Mithäftlinge von Viachaslau Rahashchuk Kontakt zu dessen Mutter auf und teilte ihr mit, dass ihr Sohn von Gefängniswärtern schwer misshandelt worden sei. Er habe ein Hämatom hinter dem Ohr, drei Schnittwunden am Kopf und Prellungen an der gesamten Wirbelsäule. Außerdem seien die Gefängniskorridore voller Blutlachen von all denjenigen, die geschlagen wurden. / Seitdem hat Viachaslau Rahashchuk ein permanentes Klingeln in seinem Kopf. Seine Angehörigen baten einen Gefängnismediziner darum, ihm eine Überweisung zur Computer-Tomografie auszustellen. Dieser meinte jedoch nur, dass es Viachaslau Rahashchuk gut gehe und dass die Familie weiterhin Medikamente zur Linderung der Symptome schicken solle. Glaubwürdigen und aktuellen Berichten zufolge hat Viachaslau Rahashchuk wiederholt für bis zu 20 Minuten das Bewusstsein verloren. Außerdem hat er auf der linken Seite des Brustkorbs einen Tumor entwickelt. Die wiederholten Bitten seiner Familie, ihn einer unabhängigen ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, wurden allesamt abgelehnt. Viachaslau Rahashchuk wird die dringend benötigte medizinische Behandlung verweigert.”- Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 8.2.2021 unter > ai : urgent action
eine taube
lima : 22.12 UTC — Die Bilder des letzten Films, den mein Vater mit seinem Fotoapparat aufgenommen hatte, zeigen seine Hose, seine Schuhe, Treppenstufen, eine Taube. Als ich die digitalen Fotografien für meinen Vater auf seinem Computer öffnete, hockte der alte Mann in der Betrachtung seines letzten Films vor dem Bildschirm und klickte immer schneller werdend von Bild zu Bild. Er sagte, dass er sich an das, was er fotografiert hatte, genau erinnere. Da war eine Landschaft nahe Prag durch das Zugfenster aufgenommen, da war eine weitere Landschaft, kurz nachdem der Zug den Prager Bahnhof verlassen hatte, da war ein tanzendes Paar auf einem Donaureiseschiff nahe Budapest. Und da war Mutter, die neben einem Rettungsboot desselben Schiffes stand und lächelte. Vater hatte ungefähr 50 Aufnahmen gefertigt, jede der Aufnahmen zeigte nun seine Schuhe, seine Hose oder eben eine Taube, die zu seinen Füßen Brotkrumen pickte. Er war verzweifelt. Da stand ich leise auf und suchte nach seiner Kamera. Ich bin doch nicht verrückt geworden, sagte Vater. Nein, antwortete ich, schau her, Du bist nicht verrückt geworden! Vater nahm seine Kamera in die Hand. Er schüttelte den kleinen, flachen Apparat und sagte: Na, das ist mein vielleicht seltsamster Film geworden. Diese Taube hier, da waren wir schon auf dem Schiff gewesen. Es war Nachmittag. Ich muss etwas an der Kamera verstellt haben. Dieses Rädchen hier könnte es gewesen sein. Immer Sekunden zu spät. Na, so was, sagte Vater. — stop
abschnitt neufundland
Abschnitt Neufundland meldet folgende gegen Küste geworfene Artefakte : Wrackteile [ Seefahrt – 28, Luftfahrt — 1, Automobile — 38 ], Grußbotschaften in Glasbehältern [ 18. Jahrhundert — 22, 19. Jahrhundert – 17, 20. Jahrhundert – 521, 21. Jahrhundert — 12211 ], Trolleykoffer [ blau : 8, rot : 32, gelb : 55, schwarz : 1002 ], Seenotrettungswesten [ 22309 ], physical memories [ bespielt — 211, gelöscht : 877 ], Ameisen [ Arbeiter ] auf Treibholz [ 3558 ], 7 hölzerne Damenhandtaschen [ Baujahr 1968 ], Brummkreisel : 58, Öle [ 1.56 Tonnen ], Prothesen [ Herz — Rhythmusbeschleuniger – 18, Kniegelenke – 17, Hüftkugeln – 453, Brillen – 1588 ], Halbschuhe [ Größen 28 – 39 : 112, Größen 38 — 45 : 12 ], Plastiksandalen [ 345 ], Reisedokumente [ 128 ], Kühlschränke [ 7 ], Telefone [ 134 ], Stethoskope [ 116 ], Puppenköpfe [ 28 ] Masken [ 358 ], Tiefseetauchanzüge [ ohne Taucher – 2, mit Taucher – 18 ], Engelszungen [ 33568 ] | stop |
katzenauge
marimba : 15.01 UTC – Ich konnte bereits stehen, aber ich sitze lieber, weil ich gerade mit meiner hölzernen Eisenbahn spiele. Mein Vater steht in diesem Augenblick vor mir. Ich erinnere ich an seinen roten Pullover. Er hält ein Kästchen in der Hand, das an einer seiner Seiten funkelt, eine Art farblosen Katzenauges. Ich kenne dieses Kästchen, ich konnte es einmal fangen, als es über mir in der Luft pendelte, da war ich noch so klein gewesen, dass ich das Kästchen in den Mund nehmen wollte. Ich weiß, dass mein Vater sich darauf vorbereitet, mich zu fotografieren, deshalb hält er das Kästchen in der Hand. Ich werde später einmal erfahren, dass mein Vater das Licht misst, wenn er das Kästchen in Händen hält. Er will wissen, wie weit er das Auge des Fotoapparates öffnen muss, um seinen Sohn, der Eisenbahn spielt, aufnehmen zu können. Manchmal sagt Vater: Louis, schau her. — stop
ai : KASACHSTAN
MENSCH IN GEFAHR: „Aigul Utepova ist eine bekannte Bloggerin und Aktivistin. Sie hat 8.000 Follower auf Facebook und eine große Fangemeinde sieht die Beiträge auf ihrem YouTube-Kanal. 2015 kandidierte sie bei den Präsidentschaftswahlen, doch zog sie ihre Kandidatur später wieder zurück. Sie wird beschuldigt, eine Anhängerin der Oppositionspartei Demokratischen Wahl Kasachstans zu sein. Am 13. März 2018 wurde die Partei willkürlich zu einer “extremistischen” Organisation erklärt, weil sie “zur nationalen Zwietracht aufstachelte”. Grundlage für diese Einordnung sind die vage formulierten Anti-Extremismus-Gesetze in Kasachstan. / Nach der Zwangseinweisung von Aigul Utepova in die Psychiatrie fürchtet ihr Rechtsbeistand, dass eine willkürliche psychiatrische Diagnose zum Vorwand genommen wird, um sie zwangsweise “behandeln” und lange in der Anstalt festhalten zu können. Bei einem Versuch, Aigul Utepova am 23. November zu besuchen, wurde dem Rechtsbeistand und einer Familienangehörigen mitgeteilt, dass die Jorunalistin keinen Kontakt zur Außenwelt haben dürfe. / Dass Personen, die die Regierung kritisieren oder sich gegen bestimmte Interessengruppen stellen, zwangsweise unter psychiatrische Beobachtung gestellt werden, ist in Kasachstan nicht ungewöhnlich. 2019 entschied der UN-Menschenrechtsausschuss, dass Zinaidi Mukhortova willkürlicher Inhaftierung, Folter und anderer Misshandlung ausgesetzt war. Die Anwältin war fünf Mal gegen ihren Willen in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen und dort “behandelt” worden. / Aigul Utepova hätte niemals strafrechtlich verfolgt und unter Hausarrest gestellt werden dürfen. Diese Maßnahme verstößt gegen kasachisches Recht, das Hausarrest nur in Fällen vorsieht, bei denen die Höchststrafe fünf Jahre oder mehr beträgt. Außerdem muss sachlich begründet werden, weshalb weniger restriktive Maßnahmen nicht angewendet werden können. Die Verfolgung und der Hausarrest von Aigul Utepova sind als Vergeltungsmaßnahmen für ihre unverblümte Kritik an der Regierung einzuordnen.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 18.1.2021 unter > ai : urgent action
dunkelkammer
echo : 0.06 UTC — Ich stehe vor einer Tür. Ich bin groß genug geworden, um die Klinke der Tür mit einer Hand zu erreichen. Ich versuche die Tür zu öffnen, da ruft Mutter, nicht Louis, Papi arbeitet. Aber das war seltsam, weil das Zimmer hinter der Tür das Badezimmer gewesen war, nicht das Arbeitszimmer, das gab es auch. Mutter sagte: Dein Vater entwickelt Bilder, es muss dunkel, stockdunkel sein im Zimmer, Du musst etwas warten, mein Schatz, Papi wird bald herauskommen. Ich erinnere mich, dass ich mich auf den Boden legte und unter der Tür zum Badezimmer hindurch spähte. Ich konnte Vaters Radio hören, und ich beobachte rotes Licht, das im Badezimmer leuchtete, sodass ich dachte, das Radio würde vielleicht rot leuchten. Es ist nicht dunkel, sagte ich, Mutter antworte, doch, doch, das ist Vaters Dunkelkammer. Vermutlich weil ich erlebte, was ich gerade erzählte, bewirkte, dass ich mit Radioapparaten noch Jahre später rotes Licht in Verbindung brachte. Dann, bald, wurden Radios grün, wegen ihres leuchtenden Auges. Es waren Röhrengeräte. — stop
jagende lichter
echo : 23.58 UTC — Im Park am Abend in der Dunkelheit unter Regenschirmen unsichtbare Menschen, paarweise oder allein. Und da flitzen Lichter herum, grün, blau oder rot leuchtende Reifen oder blinkende Perlketten, die die Position spielender Hunde vermerken. Man möchte meinen, dass sie ferngesteuerte Kreaturen sind, die sich jagen nach dem Willen jener im Dunkeln stehenden schweigenden Menschen. Ich dachte noch, in Brooklyn sollen Feuer entzündet worden sein, um Masken zu verbrennen. Der Wahnsinn bricht aus, jenseits ruhigen, vernünftigen Handels, Menschen dicht gedrängt wie Ameisen. Kaum noch ein Gespräch ist möglich, ohne sich gefährlich nahezukommen. Aber hier im Park am Abend unter Regenschirmen sind die Räume weit, das Gespräch der ahnungslosen unsichtbaren Tiere, die ihren Lichtschmuck über die Wiesen tragen. — stop
hamstern
india : 21.20 UTC — In einer Abendsekunde, da ich Kontakt zu ihm aufnehme, hebt er seinen müden Blick von dem Scanner, der unter einer rötlich schimmernden Scheibe von Glas verborgen liegt, über die er Waren zieht, die er selbst noch von eigener Hand in Regale räumte, die er selbst noch von Staub befreite, den er selbst nicht in diesen Supermarktladen eingeführt haben konnte in dieser Menge, dieser Staub muss an Füßen der Kunden hereingekommen sein, ein Staub der immerhin sichtbar ist, bei Gott, ist das doch gut, dass noch Wesen existieren, die sichtbar sind, sichtbar für menschliche Augen, nicht unsichtbar wie jene kleinsten Partikel, die Menschenwesen auf diesem Erdball hinter Maskentüchern zwingen, sodass sie sich ähnlich werden, diese Menschenwesen überall sich ähnlich werden in ihrer Schutzbedürftigkeit, ähnlich, ob sie nun hinter roten, gelben, blauen oder schneeweißen Masken sich zu verbergen haben, um nicht vielleicht sterben zu müssen, bei Gott, Menschen eben. Er hebt den Kopf in diesem Moment, da ich Kontakt zu ihm aufnehme, da ich sage, sie hamstern wieder, nicht wahr, es wird Herbst und sie hamstern wieder, Teigwaren, Taschentücher, und diese Dinge, hamstern und streiten vor den Regalen, nicht wahr? Und da sagt er, dass das ein Krieg sei, dass eigentlich das Militär hier auf diesem seinem Platz zu sitzen habe, der Katastrophenschutz, weil diese Scheibe von künstlichem Glas, ihn doch niemals schützen könne, weil hier das Unsichtbare herumfliege, all diese Sachen, die das Fieber bringen, da kann man nur warten, warten, warten. — stop