delta : 0.08 — Im Regen gestern am frühen Morgen meinte ich, einen elektrischen Vogel wahrgenommen zu haben, zunächst in der digitalen Fassadenhaut der Port Authority Busstation, später am Times Square, Ecke 46. Straße, ein Phänomen, das sich in die Anzeigen der Stadt eingefädelt haben könnte, einen Code, eine Irritation, ein Lebewesen, ein mit mir durch den Tag wanderndes Sekundengeschöpf. Auch im Wartesaal der Staten Island Fähre war der Vogel gegenwärtig gewesen, dort als ein Schatten, der von Ost nach West über eine Wetteranzeigetafel raste. Gleich darunter warteten Menschen, die ihre nassen Schirme zausten. Leichter Seegang. — stop
Aus der Wörtersammlung: op
chinatown : kandierte enten
nordpol : 2.06 — Über die Brooklyn Bridge nach Manhattan. Wunderbares Licht, klar und sanft. Da ist ein Wind, der aus dem Landesinneren kommt, ein beständiger, kalter Strom, gegen den sich Möwen in einer Weise stemmen, dass sie in der Luft zu stehen scheinen. Helle Augen, grau, blau, gelb, das Gefieder dicht und fein wie Pelz. Ich folge kurz darauf einem alten chinesischen Mann durch Chinatown. Tack, tack, tack, das Geräusch seines Stocks auf dem Boden, ein Faden von Zeit über enge Straßen. Links und rechts des Weges, schmale Läden in roten, in goldenen Farben, Waren, die Harmonie bedeuten, Bänder, Fächer, lächelnde Masken. Ich rieche heute nichts, oder die Gerüche, wenn sie noch existieren, bewegen sich dicht über den Boden hin, Morchelberge, getrocknete Schwämme, Muscheln, Nüsse, Algenwedel, Krabben, zwei Hummertiere, sie leben noch, sind für 20 Dollar zu haben. Im Restaurant nahe der Mottstreet, eine milde Entensuppe gegen den Abend zu. Messer der Köche, die vor meinen speisenden Augen lautlos durch halbe Schweine flitzen. Gebratene Entenkörper, glänzend, als wären sie von der Art kandierter Früchte, baumeln in den Fenstern. Dann Dämmerung und Wärme im Bauch und das Schwingen der Brücke noch in den Beinen. – stop
roosevelt island : lawrence
ulysses : 1.58 — Wolkenloser Himmel. ‑8° Celsius. Ich trage heute zum ersten Mal Lawrence spazieren unter Mantel, Pullover, Hemd unmittelbar auf meiner Haut, ein Schlangenwesen mit einem kleinen Kopf, der in der Nähe meines Halses zu liegen gekommen ist. Dort lurt er jetzt unterm Schal hervor, man muss sich das einmal vorstellen, Lawrence’s sandfarbenen Kopf ohne Augen, Ohren, Nase, aber von einem Mund beseelt, den ich mit getrockneten Speckstreifen füttere, während ich durch die knisternde Winterluft stelze. Ich kann Lawrence hören, er ist ein leiser, ein gemächlicher Fresser. Und die Wärme fühlen, wundervoll, die sein feinhäutiger Körper erzeugt, der mich fest umwickelt, meine Brust, meinen Bauch, meine Arme, meine Beine. Speck für sechs Stunden Wanderzeit habe ich in meine Taschen gepackt. Es ist jetzt 10 Uhr vormittags, um kurz vor vier Uhr nachmittags sollte ich zurückgekommen sein, dann sehen wir weiter. Sonntag ist geworden. Und so gehen wir an diesem Sonntag also spazieren, Lawrence und ich. Zunächst gehen wir die 5th Avenue nordwärts und ein wenig durch den Central Park. Tausende heller Wölkchen steigen dort aus den Mündern tausender New Yorker Menschen. Höhe 67. Straße drehen wir wieder um, laufen zurück, folgen der 59. Straße westwärts, bis wir den East River erreichen, Roosevelt Island Tramstation. In der Seilbahn übergesetzt, einmal hin und sofort wieder zurück, Pingpong. In einem Baum, 61. Straße, lungerten Hunderte schlafender Tauben, als wären sie Blüten. — stop
manhattan : atome
tango : 1.56 — Ich hatte in einem Café nahe Times Square ein elektronisches Tonbandgerät aus der Manteltasche gezogen und richtete es auf ein Fenster, um den Tumult menschlicher Stimmen, Sirenen, Luftpumpen und weiterer unbestimmbarer Geräusche aufzunehmen. Ein junger Mann, der neben mir vor seinem Notebook saß, beobachtete mich eine Weile aufmerksam. Plötzlich lacht er: Das ist New York. Verrückt, nicht wahr? Ob ich in dieser Stadt öffentlich zugängliche Orte von Stille finden könnte, wollte ich wissen. Gibt es nicht, antwortete der Mann. Es würden jedoch Orte existieren, die beinahe still sind. Dort aber hörst Du Geister! — Sonntag. Minus 5° Celsius. Lässt sich vielleicht errechnen, aus wie vielen Atomen die Stadt New York sich fügt? Wie viele Atome werden die Stadt täglich verlassen, wie viele Atome einreisen in unsere Rechnung? Subway 28. Straße wartete ein Mann kurz nach Mitternacht mit Angelrute in hüfthohen Fischerstiefeln auf dem Bahnsteig. — stop
brooklyn : ausgebeulte Stimmen
foxtrott : 2.32 — Wenn ich aus dem Fenster sehe, wenn tiefe Nacht ist, dann scheinen die Menschen alle gleichwohl noch immer zu arbeiten oder sie verfügen über keinerlei Lichtschalter in New York. Ja, die Menschen arbeiten und arbeiten und arbeiten und dann sitzen sie eine halbe oder eine ganze Stunde Fahrt in der Subway und schlafen. Das Seltsame ist, dass sie zur rechten Zeit aufwachen, jawohl, sie scheinen mit ihrem Gehör an einer Geräuschspur zu hängen, wie Straßenbahnen in Europa an einer Oberleitung. Einerseits schlafen sie, andererseits warten sie darauf, von einem vertrauten Signal geweckt zu werden. Vielleicht ist da ein besonderes Kreischen oder Rütteln, das nur an einer bestimmten Stelle ihrer Strecke heimwärts zu vernehmen ist, die ausgebeulte Stimme einer Maschineninformation. Kurz darauf stehen sie auf, so als wär kein Schlaf gewesen und spazieren aus dem Zug, erstaunlich! — Samstag. Später Abend. Es heult wieder herum, da unten auf Höhe der Straße, ein Unglück irgendwo vielleicht. Wenn man den Feuerwehrautos so zuhört den Tag entlang, dann möchte man bald meinen, die Stadt insgesamt würde in Flammen stehen. – stop
queens : ein mädchen
lima : 22.06 — Es ist später Nachmittag. Queens. Eigentlich wollte ich durch die Gegend streifen, in der Louis Armstrong gelebt hatte, sein Haus besuchen, das zu einem Museum geworden ist. Als ich eintreffe, Station North Corona, bereits Dämmerung. Die Straßen schwach beleuchtet. In der Nähe eines Fensters, das von der Subway in einem Abstand von 1 Meter passiert wird, sitzt ein dunkelhäutiges Mädchen vor einem Fernsehgerät. Ich würde das Mädchen gern fragen, ob es mich sehen kann, ob es die Züge noch hört, die in fünf Minuten Frequenz an ihrem Wohnzimmer vorüber kommen. Das sind scheppernde Züge, kreischende, quietschende, blecherne Röhren. stop. Schlangen. stop. Ungetüme. stop. Wie viele Jahre, wie viele Züge, die das Mädchen vielleicht nicht hörte? — stop
central park : hurly-burly
lima : 12.05 — Im Lärm (noise . hubbub . hurly-burly) der Stadt im Central Park südlich der Strawberry Fields (72nd Street) das Singen oder Klagen der Kinderschaukel, leise und doch weithin hörbar. Die Idee, eines der muskulösen Eichhörnchen des Gartens würde mir folgen, würde mich erkennen, würde sich erinnern, Squirrel No 5256, Frankie, Billy. — stop
chelsea — warten auf schnee
alpha : 7.21 — New York. Klarer Himmel. Sonne, die warm ist, eine süditalienische Sonne, aber der Wind kalt und unberechenbar. 8th Avenue südwärts. Chelsea. High Line. East Village. Auf den Stufen des Zentralen Postamtes nahe Penn Station lungerten Menschen wie Echsen bewegungslos, Gesichter zum Stern. Jetzt schmale Straßen, Häuser von menschlicher Größe, Spielplätze voller Kinder, kaum Taxis zu sehen, Fahrräder, ausgeraubt bis aufs Gerippe an beinahe jedem Laternenmast. Bald Nachmittag, bald früher Abend. In Caféhäusern Wärme aufgenommen und in der Subway. Ich fahre eine halbe Stunde Richtung Harlem und wieder zurück und gehe weiter, immer der Blick zum Himmel, Spuren von Dachgärten zu verzeichnen. Notierte: Nach Fultonstreet Lichter der Tunnelarbeiter, Glühbirnensträuße, der Eindruck, als würde ich einen steinernen Christbaum durchfahren. Dämmerung, Ground Zero. An einer bronzenen Gedenktafel mit Klebstreifen befestigt, flattert ein Zettel wie zum Trotz im Wind, mit Namenszug und Fotografie eines jungen Mannes, der nach 9/11 an den Dämpfen des giftigen Schuttberges gestorben war. Monströse Baustelle. Gleißende Helle. Ich warte auf Schnee. – stop
new york — hurricane deck
tango : 22.28 — Von einer Sekunde zur anderen Sekunde. Als wär der Sonntag ohne Augenlicht gewesen. Als hätte ich nur geträumt, über den Atlantik geflogen zu sein, fünftausend Kilometer schlohweißer Wolkendecke bis kurz vor Neufundland. Jamaika-Station. Roosevelt Island. Lexington Avenue. Das helle Zimmer im 22. Stock. Ein kühler Wind bläst über den Balkon. Rauschen von tief unten von der Straße her. Wie ich bald vor das Haus trete, kommt mir eine ältere Frau entgegen, in einen feinen Mantelstoff gehüllt, Hände seitlich gegen den Hals gefaltet. Eigentlich müsste ich ihr unverzüglich folgen, sehen, warum sie das macht, einer Geschichte folgen, und diesem dampfenden, rot und grün und blau blinkenden Diodenhund, der sie begleitet, einem Riesentier, das ich berühren sollte, seine Temperatur zu fühlen. Ich verstehe an diesem Abend kein Wort in meinem Kopf. Ja, dieses Rauschen der Stadt. Südwärts wandern. Aus dem Boden sind die Stimmen der Subwaysprecher zu hören, next station : grand central, das Rumpeln, das Zischen der Züge. Ich könnte ein paar Stunden noch so weitergehen und schlafen. — stop
fluggewicht
marimba : 8.28 — Vergangene Nacht hatte ich einen lustigen Traum. Ich saß auf meinem Sofa mit einem Engel, der vom Fliegen erzählte, davon genauer, wie es ist, eine Reise über den Atlantik zu unternehmen, wenn man ein Engel ist, Flugzeiten (2 Stunden), Flughöhe (8 Meter), Proviant, Fliegerbrille und alle diese Dinge, an die ich zuvor nie gedacht hatte. Der Engel war im Moment unseres Gespräches unbekleidet gewesen, schneeweiße Haut, 5 Zentimeter Höhe. Eine faszinierende Situation. Vor uns standen zwei große Koffer. Ich hatte sie gewogen, Gepäckstücke ausgetauscht, um das Gewicht gut zu verteilen. Und da war ein weiterer Koffer, etwas kleiner, ein Pilotenkoffer. Auch diesen Koffer hatte ich gewogen. Er war 15 Kilogramm schwer, ich sollte ihn mit mir ins Flugzeug nehmen. Wie ich den kleinen Engel fragte, warum sein Koffer so schwer geworden sei, was er denn mit sich nehmen werde nach Amerika, ein Wesen von 20 Gramm Gewicht, daran erinnere ich mich noch, und wie der Engel bald auf seinem Koffer saß und versuchte einen Reißverschluss zu öffnen. Dann wach. Regen in Strömen. Samstag. – stop