Aus der Wörtersammlung: os

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von zungenkäfern

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sier­ra : 0.55 — Wenn man einen Zun­gen­kä­fer aus der Nähe betrach­tet, wird man viel­leicht stau­nend inne­hal­ten, wird sagen: Die­ser Käfer, die­ses vier­flü­ge­li­ge Wesen, könn­te kürz­lich noch eine mensch­li­che Zun­ge gewe­sen sein, sie scheint aus einem Mund her­aus­ge­fal­len zu sein. Sofort machen sich wei­te­re Gedan­ken bemerk­bar. Was wäre, wenn die Zun­ge heim­lich im Mund eines Men­schen zu einem Käfer wur­de, der in einem güns­ti­gen Moment, eine sprach­lo­se Per­son hin­ter­las­send, das Wei­te such­te. Oder ist es viel­leicht mög­lich, dass es sich bei der Gat­tung der Zun­gen­kä­fer um Erfin­dun­gen han­delt, die nur des­halb exis­tie­ren, weil man wünscht Zun­gen zu ern­ten. So genau wird es sein, denn Zun­gen­kä­fer, ich habe sie wäh­rend der ver­gan­ge­nen Nacht eine Stun­de lang ein­ge­hend beob­ach­tet, sind nicht wirk­lich in der Lage, sich in die Luft zu erhe­ben, zu flüch­ten, also in den Him­mel auf­zu­stei­gen und auf und davon­zu­flie­gen. Sie lie­gen viel­mehr auf dem Boden her­um, oder auf einem Tisch, und brum­men mit den Flü­geln, die nicht grö­ßer als Flü­gel der Mari­en­kä­fer aus­ge­stal­tet sind. — stop
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überall liegen Bücher herum

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echo : 2.26 — Frü­her ein­mal exis­tier­ten Bücher, deren Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren. Bevor man die Sei­ten die­ser Bücher lesen konn­te, muss­te man sie von­ein­an­der tren­nen. Selt­sa­mer­wei­se hat­te ich ihre Exis­tenz ver­ges­sen, bis ich soeben sol­che Bücher in einem Text von Natha­lie Sar­rau­te bemerk­te. Aber viel­leicht ist das Wort ver­ges­sen, in die­sem Zusam­men­hang nicht rich­tig gewählt, ich hat­te jah­re­lang nicht an sie gedacht, im Gehei­men waren sie ver­mut­lich immer anwe­send gewe­sen. Sofort begann ich damit, die Umge­bung mei­ner Erin­ne­rung zu erkun­den. Ich ent­deck­te eine Tan­te. Wenn die Tan­te zu Besuch kam, küss­te sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauch­sup­pe, weil sie einen Gemü­se­händ­ler kann­te, der ihr Lauch­stan­gen schenk­te. Die­se Tan­te also, deren Gesicht zer­furcht war von unzäh­li­gen Fal­ten, schenk­te mir ein­mal ein Buch genau die­ser erwähn­ten Art, ein Buch, des­sen Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren, sodass ich jede Sei­te mit einer Sche­re zunächst von der nächs­ten tren­nen muss­te. Das Buch war kein Kin­der­buch gewe­sen, ich hat­te noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu die­sem Zeit­punkt, aber Natha­lie Sar­rau­te, die damals unge­fähr in mei­nem Alter gewe­sen sein könn­te, in einem Alter, als mich die Tan­te mit den Lauch­stan­gen noch besuch­te. Sie notier­te: Es lie­gen über­all Bücher her­um, in allen Zim­mern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekom­men sind … klei­ne­re, mitt­le­re und gro­ße … Ich neh­me die Neu­an­kömm­lin­ge in Augen­schein, ich schät­ze die Mühe, die jedes erfor­dern wird, die Zeit, die es mich kos­ten wird … Ich wäh­le eins aus und set­ze mich mit dem auf­ge­schla­ge­nen Buch auf den Knien hin, ich umklam­me­re das brei­te Papier­mes­ser aus grau aus­se­hen­dem Horn, und ich fan­ge an … zuerst zer­trennt das waa­ge­recht gehal­te­ne Papier­mes­ser den obe­ren Falz der vier zusam­men­hän­gen­den Dop­pel­sei­ten, dann senkt es sich, rich­tet sich wie­der auf und glei­tet zwi­schen die bei­den Sei­ten, die nur noch längs­seits mit­ein­an­der ver­bun­den sind … dann kom­men die „leich­ten“ Sei­ten, sie sind an ihrem lan­gen Rand offen und bra­chen nur noch oben getrennt wer­den. Und wie­der die vier „schwie­ri­gen“ Sei­ten … und dann vier „leich­te“, und dann vier „schwie­ri­ge“, und so wei­ter, immer schnel­ler, mei­ne Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwind­lig … „Hör jetzt auf, mein Lieb­ling, das reicht, hast du wirk­lich nichts Inter­es­san­te­res zu tun? Ich wer­de beim Lesen selbst auf­schnei­den, das stört mich nicht, ich mache das ganz auto­ma­tisch …“ Es kommt jedoch nicht infra­ge, dass ich auf­ge­be. — stop / Natha­lie Sar­rau­te Kind­heit — aus der fran­zö­si­schen Spra­che über­setzt von Eri­ka und Elmar Tophoven

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anna ludmilla

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nor­pol : 0.33 — Wäh­rend ich aus dem Fens­ter schaue, höre ich einen Bericht, der vom Fern­se­hen gesen­det wird. Uly­a­na M., das heißt die Stim­me ihrer Über­set­ze­rin, erzählt, sie habe mit ihrem Mann nahe Mariu­pol Zuflucht vor Gra­nat­be­schuss im Kel­ler eines Nach­barn gesucht. Ein Mann, den sie von Fer­ne kann­te, habe den Kel­ler ver­las­sen, um nach sei­nem Häus­chen zu sehen. Er sei nicht zurück­ge­kom­men. Als der Beschuss auf­ge­hört habe, sei­en sie zu ihrem Haus zurück­ge­kehrt. Auf dem Weg fan­den sie den Mann, der nach sei­nem Häus­chen gese­hen hat­te. Er lag in sei­nem Gar­ten ohne Kopf, sein Häus­chen brann­te. An die­ser Stel­le des Berich­tes mach­te die Stim­me, die ich hör­te, eine kur­ze, selt­sa­me Pau­se. Ich hat­te nicht den Ein­druck, dass die Stim­me der ori­gi­na­len Erzäh­le­rin Uly­a­na M. eine Pau­se mach­te, aber die Über­set­ze­rin macht eine Pau­se, ihre eige­ne Pau­se. Fünf Sekun­den spä­ter fuhr sie fort in ihrer Arbeit. Sie sag­te, man habe nach dem Kopf des Man­nes gesucht, man habe ihn gefun­den und zurück­ge­bracht zu dem Kör­per des Man­nes, der in sei­nem Gar­ten lag. – Frü­her Abend. Kas­ta­ni­en­bäu­me tief unten ste­hen bereits in Flam­men, Bahn­stei­ge der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le bedeckt von Sta­chel­früch­ten, die nicht zer­plat­zen. Eich­hörn­chen­schat­ten tra­gen sie nachts davon, obwohl noch Anfang Sep­tem­ber ist. Anna Lud­mil­la L.. Ich erin­ne­re mich an Anna Lud­mil­la L., die in St. Peters­burg gebo­ren wur­de. Sie lebt seit 15 Jah­ren in Deutsch­land, woll­te Modell wer­den, heita­te­te, gebar eine Toch­ter und wur­de geschie­den. Seit Jah­ren arbei­tet sie in der Post­stel­le eines Frank­fur­ter Ver­lags­hau­ses. M. erzähl­te, Anna zwin­ke­re seit eini­gen Wochen, wenn man mit ihr spre­che, mit einem Auge, eine flat­tern­de Bewe­gung. Er habe sie ein­mal gefragt, wie es ihr gehe, wie ihrer Fami­lie, ob sie Ver­wand­te in der Ukrai­ne habe. Sie habe sich über sei­ne Fra­ge viel­leicht gefreut, er sei sich aber nicht sicher. — stop

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krim : lichtbild No 2

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ulys­ses : 6.55 — Asso­cia­ted Press ver­öf­fent­lichte vor eini­gen Mona­ten eine bemer­kens­wer­te Foto­gra­fie. Men­schen sind zu sehen, die an der Kas­se eines Ladens dar­auf war­ten, bedient zu wer­den, oder Waren, die sie in Plas­tik­beu­teln mit sich füh­ren, bezah­len zu dür­fen. Es han­delt sich bei die­sem Laden offen­sicht­lich um ein Lebens­mit­tel­ge­schäft, das von künst­li­chem Licht hell aus­ge­leuch­tet wird. Im Hin­ter­grund, rech­ter Hand, sind Rega­le zu erken­nen, in wel­chen sich Sekt– und Wein­fla­schen anein­an­der­rei­hen, gleich dar­un­ter eine Tief­kühl­truhe in der sich Spei­se­eis befin­den könn­te, und lin­ker Hand, an der Wand hin­ter der Kas­se, wei­tere Rega­le, Zeit­schrif­ten, Spi­ri­tuo­sen, Scho­ko­lade, Bon­bon­tü­ten. Es ist alles schön bunt, der Laden könn­te sich, wenn man bereit ist, das ein oder ande­re erkenn­bare kyril­li­sche Schrift­zei­chen zu über­se­hen, in einem Vor­ort der Stadt Paris befin­den oder irgend­wo in einem Städt­chen im Nor­den Schwe­dens, nahe der Stadt Rom oder im Zen­trum Lis­sa­bons. Es ist Abend, ver­mut­lich oder Nacht, eine küh­le Nacht, weil die Frau, die vor der Kas­se war­tet, einen Ano­rak trägt von hell­blauer Far­be und fei­ne dunk­le Hosen, ihre Schu­he sind nicht zu erken­nen, aber die Schu­he der Män­ner, es sind vier Per­so­nen, ver­mut­lich mitt­le­ren Alters. Sie tra­gen schwar­ze, geschmei­dig wir­kende Mili­tär­stie­fel, außer­dem Uni­for­men von dun­kel­grü­ner Far­be, run­de Schutz­helme, über wel­chen sich eben­so dun­kel­grüne Tarn­stoffe span­nen, wei­ter­hin Wes­ten mit aller­lei Kampf­werk­zeu­gen, der ein oder ande­re der Män­ner je eine Sturm­wind­brille, Knie­schüt­zer, Hand­schuhe. Die Gesich­ter der Män­ner sind der­art ver­mummt, dass nur ihre Augen wahr­zu­neh­men sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wan­gen, nicht ihre Mün­der. Sie tra­gen kei­ne Hoheits­zei­chen, aber sie wir­ken kampf­be­reit. Einer der Män­ner schaut miss­trau­isch zur Kame­ra hin, die ihn ins Visier genom­men hat, ein Blick kurz vor Gewalt­tä­tig­keit. Jeder Blick hin­ter eine Mas­ke her­vor ist ein selt­sa­mer Blick. Einer ande­rer der Män­ner hält sei­nen Geld­beu­tel geöff­net. Die Män­ner wir­ken alle so, als hät­ten sie sich gera­de von einem Kriegs­ge­sche­hen ent­fernt oder nur eine Pau­se ein­ge­legt, ehe es wei­ter gehen kann jen­seits die­ses Bil­des, das Erstau­nen oder küh­le Furcht aus­zu­lö­sen ver­mag. Ich stel­le mir vor, ihre Sturm­ge­wehre lehn­ten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich her­aus­tre­ten an die fri­sche Luft, wenn wir den Blick zum Him­mel heben, wür­den wir die Ster­ne über Sim­fe­ro­pol erken­nen, oder über Jal­ta, Luhansk, Mariu­pol. — stop / kof­fer­test : updated — ich habe die­se auf­nah­me mit eige­nen augen gesehen.
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london tube

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echo : 6.50 — In einem Tun­nel des Lon­do­ner U‑Bahnsystems kau­er­ten Men­schen auf dem Boden. Kaum Licht, eine düs­te­re Sze­ne, die ein unbe­kann­ter Foto­graf auf­ge­nom­men hat­te, Anfang der 40er-Jah­re. Bret­ter waren über U‑Bahngeleise gelegt. In die­ser Wei­se ent­stan­den unter der Stadt Flä­chen, die Men­schen bege­hen, auf wel­chen sie sit­zen oder lie­gen konn­ten. Auch Kin­der waren zu sehen, sie tru­gen Röcke, Schul­uni­form­ja­cken und sehr klei­ne Schu­he. Auf einem Schau­kel­pferd saß ein Jun­ge, der schon älter gewe­sen war. Er beweg­te sich viel­leicht in dem Moment der Auf­nah­me, wes­halb er etwas unscharf wie­der­ge­ge­ben wur­de. In sei­ner unmit­tel­ba­ren Nähe lehn­te eine jun­ge Frau mit dem Rücken zur Wand, sie las in einem Buch oder war ein­ge­schla­fen. Ich erin­ne­re mich, dass ich die Foto­gra­fie, die ich aus einer Zei­tung geschnit­ten hat­te, ein­mal mit einer Lupe betrach­te­te. Irgend­wann hat­te ich sie ver­ges­sen. Ges­tern Abend nun kehr­te sie aus mei­nem Gedächt­nis zurück. – Neun Uhr in Luhansk, Ukrai­ne. Zehn Uhr in Mos­sul, Irak. stop

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san lorenzo de esmeraldas

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kili­man­dscha­ro : 6.55 — Am Sams­tag der ver­gan­ge­nen Woche erreich­te mich eine Waren­sen­dung, die in einem Dorf namens San Loren­zo de Esme­ral­das bereits im Juli auf­ge­ge­ben wor­den war. Die klei­ne Ort­schaft liegt nahe der Gren­ze zu Kolum­bi­en im Dschun­gel unweit der Pazi­fik­küs­te, lan­ge Näch­te, feuch­te Luft, krei­schen­de Tama­ri­ne. Das Päck­chen, ich hat­te lan­ge dar­auf gewar­tet, ent­hielt ein Käst­chen von Holz in der Grö­ße einer Zigar­ren­schach­tel, das mit­tels eines blau­en Gum­mi­rie­mens ver­schlos­sen wur­de. Ich stell­te das Käst­chen auf mei­nen Schreib­tisch ab, um es vor­sich­tig zu öff­nen. Fei­ner, hel­ler Sand wur­de sicht­bar, Sand, so fein wie gemah­le­ner Kam­pot-Pfef­fer. Bald arbei­te­te ich mich mit einem Pin­sel vor­sich­tig in die Tie­fe vor­an, bis ich auf zwei Kör­per stieß. Es han­del­te sich um Käfer­we­sen, die des­halb etwas Beson­de­res dar­stell­ten, weil sie je über zwei Köp­fe ver­füg­ten und über sechs Füh­ler, die im Moment mei­ner Besich­ti­gung nicht im Gerings­ten auf mei­ne Gegen­wart reagier­ten. Nach einer hal­ben Stun­de, ich hat­te die Käfer bis dahin lie­be­voll betrach­tet, waren end­lich Lebens­zei­chen zu erken­nen, die Füh­ler der Käfer beweg­ten sich, und ich hob sie aus ihrem Sand­bett und sie schlu­gen mit den Flü­geln, als woll­ten sie mich begrü­ßen. Ihre Kör­per waren weich, sie beb­ten, und sie ver­ström­ten einen fei­nen Duft, der mich an Man­deln erin­ner­te. Zur ers­ten Pro­be setz­te ich einen der Käfer an mein lin­kes Ohr, und der Käfer drang unver­züg­lich in mich ein, sehr behut­sam, bis ich bemerk­te, dass sei­ne Füh­ler mein Trom­mel­fell betas­te­ten. Kurz dar­auf wei­te­te sich sein Kör­per, ich hör­te ihn knis­tern, bis er mei­nen Gehör­gang voll­stän­dig füll­te. Ein Pochen war zu ver­neh­men, das mich müde wer­den ließ. Kaum hat­te ich den zwei­ten Käfer in das ande­re mei­ner Ohren gesetzt, schlief ich ein. Zwölf Stun­den lang schlief ich tief und fest, mei­ne Stirn ruh­te auf dem Schreib­tisch. Als ich erwach­te, hat­ten sich bei­de Käfer wie­der in ihr Sand­bett zurück­ge­zo­gen. Es ist jetzt frü­her Mor­gen. — stop
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lego

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tan­go : 6.28 — Ein­mal träum­te ich, wie ich in einem hell beleuch­te­ten Saal auf dem Boden sit­ze und einen mensch­li­chen Kör­per, auch sei­ne kleins­ten Struk­tu­ren, mit­tels Lego­stei­nen nach­bil­de. Ich arbei­te­te dort bereits seit über 200 Jah­ren. Weil sich ein Fin­ger der Modell­ge­stalt beweg­te, wach­te ich auf. — stop

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zehn sekunden parrini

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sier­ra : 0.28 — Vor weni­gen Tagen, am Don­ners­tag, erreich­te mich eine E‑Mail von Herrn Par­ri­ni. Ich ken­ne ihn nicht per­sön­lich, er soll gera­de 50 Jah­re alt gewor­den sein. Er habe mei­ne Geschich­te Shang­hai gele­sen, die ich vor zwei Wochen sen­de­te, sie habe ihm gut gefal­len, sie habe ihn berührt, per­sön­lich, obwohl er kaum zum Lesen kom­me, weil er einer sei, der von mor­gens bis abends ger­ne erzäh­len wür­de, er habe das so gelernt, er wie­der­ho­le sich oft, erzäh­le nur damit es nicht still wird, das war schon immer so, er spre­che sogar zu sich selbst stun­den­lang, auch im Schlaf gebe er kei­ne Ruhe, er woll­te ger­ne ein schwei­gen­der Mensch sein, das Schwei­gen ler­nen, aber er wüss­te nicht wie das jemals mög­lich sein könn­te, nach­dem er nun seit bald 45 Jah­ren unauf­hör­lich gespro­chen habe, gan­ze Aben­de habe er sei­ne Freun­de unter­hal­ten, bis sie flüch­te­ten, und in der Schu­le, muss­te er in der Ecke sit­zen, weil er den Mund nicht hal­ten moch­te, dort habe er selbst­ver­ständ­lich wei­ter­ge­spro­chen, mit der Wand oder mit dem Echo sei­ner eige­nen Stim­me bis er vor die Tür geschickt wor­den sei, wo er im Flur auf und ab spa­zier­te immer wei­ter spre­chend, bis er hei­ra­te­te, bis er wie­der allein gewe­sen war, bis er die Ber­ge ent­deck­te, da konn­te ihn kei­ner hören, oder nur sel­ten, oder nur Kühe, wes­we­gen er sehr ger­ne in den Ber­gen wan­de­re, er höre sich nicht, wenn er spre­che, als ob sei­ne Ohren sich wie die Ohren der See­hun­de ver­schlös­sen, sobald sie tauch­ten, ja, spre­chen, wie tau­chen, er wür­de nicht bemer­ken, wenn er spre­che, er kön­ne ent­we­der spre­chen oder schwei­gen, kein ein­zi­ges Wort, sonst geht es wie­der los, kein ein­zi­ges Wort, nicht ein­mal einen Gedan­ken, nichts, aber das Schwei­gen müss­te erst ein­mal mög­lich gewor­den sein, eine Sekun­de wirk­li­ches Schwei­gen, nicht Schwei­gen, nur um Luft zu holen, son­dern wirk­lich nicht spre­chen, atmen, schau­en, hören. — stop

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wanda

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del­ta : 0.18 — Wie Wan­da gera­de wie­der ein­mal glück­lich ist, weil ihm sein Freund Joseph ein Buch Peter Nadas’ schenk­te, 1305 Sei­ten: Das Buch der Erin­ne­rung. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird man ver­mut­lich sagen: Das ist ein schwe­res Buch. Das Papier scheint dünn zu sein, auch die Schat­ten der Buch­sta­ben sind gut zu erken­nen, so dünn sind die Sei­ten des Buches, dass das Licht sie zu durch­drin­gen ver­mag. Wan­da hat das sofort bemerkt. Seit­her nimmt er jede Sei­te, ehe er zu lesen beginnt, zärt­lich zwi­schen sei­ne Fin­ger, fährt ihre Rän­der ent­lang, legt kurz dar­auf ein Blatt Papier auf einen Tisch, der sein per­sön­li­cher Tisch ist, spitzt einen Blei­stift und notiert einen wei­te­ren Satz des Buches der Erin­ne­rung. Win­zi­ge, wun­der­ba­re Schrift­zei­chen, akku­rat gesetzt. Sobald Wan­da am Ende des Sat­zes ange­kom­men ist, hält er inne, um jedes nie­der­ge­leg­te Wort Zei­chen für Zei­chen zu prü­fen: … hat­te ich schon Buda­örs erreicht, der Weg dort­hin war lang, kur­ven­reich und dun­kel gewe­sen, eine Art Steil­pfad führ­te hin­un­ter in die Ebe­ne ein umge­pflas­ter­ter Gra­ben mit gefro­re­nen Wagen­spu­ren, auf bei­den Sei­ten das dich­te Spa­lier hoch auf­ge­schos­se­nen Gestrüpps … So arbei­tet Wan­da Stun­de um Stun­de vor­an, er beginnt am Mor­gen um kurz nach Acht, mit­tags schläft er von Eins bis Drei, Punkt sechs Uhr abends schließt er das Buch und löscht das Licht über dem Tisch. Vor­sich­tig ver­lässt er den Saal, er kann kaum noch sehen. Er sagt, er mache noch die­ses eine Buch, aber das hat er schon oft gesagt, sei­nem letz­ten Buch folg­te ein wei­te­res letz­tes Buch, das ihm Joseph schenk­te. Joseph ist ein Guter unter den Men­schen. Joseph sagt: Solan­ge Du Bücher notierst, solan­ge Du arbei­test, wird Dich nie­mand fra­gen ... — stop
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herr bisaso

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hima­la­ya : 2.08 — Jeden Mor­gen, im Früh­ling oder im Som­mer, Herbst oder Win­ter, erscheint Herr Bisaso gegen 4 Uhr am Ter­mi­nal 1 des Frank­fur­ter Flug­ha­fens. Er trägt eine graue Hose, ein dun­kel­blau­es Hemd, eine gel­be Kra­wat­te und ein Schild­chen, auf dem das Wort SECURITY zu lesen steht, außer­dem ein Stäb­chen von etwa 1 Meter 50 Län­ge, das er in der rech­ten oder lin­ken Hand mit sich zu füh­ren pflegt. Das Stäb­chen scheint aus Bam­bus­rohr gemacht, an sei­ner Spit­ze sitzt eine wei­che Bee­re von Leder und Samt, die von Herrn Bisaso ver­mut­lich höchst­per­sön­lich dort ange­bracht wor­den war. Der alte Mann ist von statt­li­cher Erschei­nung, bei­na­he zwei Meter groß, er wur­de in Mom­ba­sa gebo­ren, lebt aber schon lan­ge Zeit, Jahr­zehn­te, in Euro­pa. Blitz­blan­ke, schwar­ze Schu­he. Auf die­sen Schu­hen macht er sich nun auf sei­nen mor­gend­li­chen Weg, der ihn über das Ter­mi­nal 1 zum Ter­mi­nal 2 und wie­der zurück­füh­ren wird. Ich sehe ihn, wie er sich umsieht und pfeift, er scheint fröh­lich zu sein, er liebt den Mor­gen und viel­leicht auch sei­ne Arbeit, sei­nen Auf­trag. In die­ser Wei­se, lei­se pfei­fend, nähert er sich einer Bank, auf wel­cher ein Mann liegt, der schläft. Das Hemd des Man­nes ist ver­rutscht, sein Bauch zu sehen, auch sind sei­ne Schu­he zu Boden gefal­len. Es riecht ein wenig bit­ter in der Luft. Behut­sam berührt Herr Bisaso den Mann mit jenem wei­chen Ende sei­nes Bam­bus­zei­gers an der Schul­ter, und schon fährt der Mann hoch aus einem Traum, reibt sich die Augen, fuch­telt dann mit den Hän­den, und beginnt laut zu schimp­fen. Guten Mor­gen, ent­geg­net Herr Bisaso mit tie­fer Stim­me. Er steht ganz ruhig und war­tet, bis der noch halb­wegs, Schla­fen­de auf­ge­stan­den ist. Jetzt ist er zufrie­den. Er schlen­dert zur nächs­ten Bank, die zum Nacht­la­ger einer jun­gen Frau gewor­den ist, auch sie scheint ein wenig bit­ter zu rie­chen und ohne Kof­fer zum Flug­ha­fen gekom­men zu sein. Bald steht auch sie, reibt sich die Augen, betrach­tet den gro­ßen Mann und sein Stäb­chen, das Herr Bisaso noch nicht sehr lan­ge Zeit mit sich führt. Fol­gen­de Nach­richt wäre vor weni­gen Wochen noch mög­lich gewe­sen. MELDUNG: Von 4 bis 5 Uhr wur­den in den Ter­mi­nals des Frank­fur­ter Flug­ha­fens 87 Per­so­nen, die auf Sitz­ge­le­gen­hei­ten ruh­ten, von Mr. Bisaso geweckt. Er muss­te des­halb 2 Trit­te, eine Umar­mung, alle­samt unwill­kür­lich, aber nur zwei Ohr­fei­gen ent­ge­gen­neh­men. — stop

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