Aus der Wörtersammlung: post

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von fröschen

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echo : 5.16 — Ein Buch, das ich ges­tern in einer Post­fi­lia­le, Prenz­lau­er­stra­ße 86, abho­len woll­te, war nicht erreich­bar, da die Post­fi­lia­le, die mich von der Lage­rung des Buches tele­fo­nisch unter­rich­tet hat­te, geschlos­sen wer­den muss­te, die Ange­stell­ten der Filia­le sind in einen Streik getre­ten. Das war nicht wei­ter schlimm, weil vor­sorg­lich am Abend zuvor Brie­fe und Bücher­sen­dun­gen in eine benach­bar­te Post­fi­lia­le abtrans­por­tiert wur­den, wie eine hand­schrift­li­che Notiz bezeug­te. Ich setz­te mich auf mein Fahr­rad und fuhr in die Ber­li­ner­stra­ße 8, wo sich mein Buch inzwi­schen auf­hal­ten soll­te. Aber auch dort war nie­mand anzu­tref­fen, aller­dings der Hin­weis, alle Sen­dun­gen die­ser Filia­le, sowie über­nom­me­ne Sen­dun­gen der Prenz­lau­er­stra­ße 86, sei­en wegen außer­or­dent­li­cher Betriebs­ver­samm­lung in die Filia­le am Madri­der Platz ver­bracht. Zügig radel­te ich wei­ter, eine doch beträcht­li­che Stre­cke war zurück­zu­le­gen quer durch die Stadt, es reg­ne­te, und ich dach­te noch, der Him­mel scheint beheizt zu sein, som­mer­lich war­mes Was­ser, die Luft duf­te­te nach Flie­der, über den Asphalt der Stra­ßen hüpf­ten tau­sen­de umbra­far­be­ne Frö­sche, wei­che Kör­per, laut­los, klag­los. Nahe dem Madri­der Platz, unter Kas­ta­ni­en­bäu­men, hock­ten ein paar Leu­te wie unter Schir­men dicht an dicht. Es wur­de lang­sam dun­kel. Ich mei­ne, zu die­sem Zeit­punkt bemerkt zu haben, dass man an der Art und Wei­se, wie Men­schen sich Schutz suchend auf den Boden set­zen, erken­nen kann, wie alt sie sind. – stop

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tokio

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gink­go : 0.22 — Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, und auch damals fing es so an. Ein Kind woll­te sehen. Der Jun­ge konn­te lau­fen, und er konn­te an eine Tür­klin­ke her­an­rei­chen. Es steck­te kei­ner­lei Absicht dahin­ter, nur der instink­ti­ve Tou­ris­mus des Kin­des­al­ters. Eine Tür war dazu da, auf­ge­sto­ßen zu wer­den; er ging hin­ein, blieb ste­hen, schau­te. Da war nie­mand, der ihn beob­ach­tet hät­te; er dreh­te sich um und ging fort, wobei er sorg­sam die Tür hin­ter sich zumach­te. — Ich erin­ner­te mich an die­se Zei­len Juli­an Bar­nes, als ich zum ers­ten Mal von B. hör­te, der eine tie­fe Lei­den­schaft für die Stadt Tokio ent­wi­ckelt haben soll, obwohl er nie dort gewe­sen ist. Was weiß ich von B. an die­sem Abend? Eigent­lich nicht sehr viel. B. ist 52 Jah­re alt, unge­fähr 1,88 Meter groß, schlank, stu­dier­te sla­wi­sche Spra­chen, arbei­te­te als Über­set­zer, Alten­pfle­ger, Autor von Restau­rant­be­schrei­bun­gen, Dra­ma­turg, Post­schaff­ner, seit vier Jah­ren nun weder das eine noch das ande­re, weil er wohl­ha­bend gewor­den ist durch uner­war­te­te Erb­schaft. Er blieb damals vor vier Jah­ren in sei­ner klei­nen Woh­nung, kauf­te sich einen Com­pu­ter mit einem gro­ßen Bild­schirm und muss irgend­wie in Tokio gelan­det sein. Sei­nen ers­ten Besuch mit­tel der Street­views (Goog­le-Maps) beschreibt er als ein wesent­li­ches Ereig­nis sei­nes Lebens, er sei irgend­wo in der Stadt gelan­det, habe sich gewun­dert über die Enge der Stra­ße, auf wel­cher er sich plötz­lich befand, und über Bäu­me, die aus Häu­sern zu wach­sen schie­nen. Ein Mann stand vor einem Geträn­ke­au­to­ma­ten, er schau­te in die Kame­ra, die ihn gera­de ablich­te­te. Sei­ne Augen, durch Unschär­fe ver­frem­det, waren nicht zu erken­nen, aber eine Ziga­ret­te, die der Mann zwi­schen Fin­ger sei­ner rech­ten Hand geklemmt hat­te. So, erzähl­te B., habe es ange­fan­gen. Stun­de um Stun­de, Tag für Tag, beweg­te er sich fort­an durch die Stadt. Immer wie­der ent­de­cke er Spu­ren selt­sams­ter Geschich­ten. Ich habe eine Tür geöff­net. — stop

joseph

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ein päckchen

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tan­go : 17.01 — Ein­mal, in einem August, ste­he ich in einer Schlan­ge war­ten­der Men­schen. Der Ort: U.S. Gene­ral Post Office, New York, 8. Stra­ße. Die Zeit: Kurz vor sechs Uhr abends. Ich bin müde, bin wei­te Stre­cken durch die Stadt gewan­dert. Ich den­ke noch, wenn ich nicht acht­sam bin, könn­te ich viel­leicht im Ste­hen ein­schla­fen. Ich über­le­ge, ob ich in die­sem Fal­le umfal­len oder ein­fach so schla­fend ste­hen blei­ben wür­de. Drau­ßen ist es höl­lisch heiß, schwül und feucht, in der Hal­le des Post­am­tes eher kühl. Vor mir, so nah, dass ich sie ver­se­hent­lich umar­men könn­te, war­tet eine zier­li­che, älte­re Dame, sie ist viel­leicht gera­de vom Fri­seur gekom­men, ihr Haar, ein bläu­lich schim­mern­der Ball, der hef­tig duf­tet. Auf ihren Schul­tern ruht ein Fuchs, der tot ist. Als sie an die Rei­he kommt, tritt sie an den Schal­ter her­an, stellt sich auf ihre Zehen­spit­zen und legt ein Päck­chen auf dem Tre­sen ab. Mit einer läs­si­gen Hand­be­we­gung schiebt sie die Ware zu einer Post­an­ge­stell­ten hin. Die Frau­en unter­hal­ten sich. Ich kann nicht jedes Wort ver­ste­hen, sie spre­chen schnell. Ich mei­ne, zu hören, wie die Post­an­ge­stell­te bemerkt, dass das Päck­chen leicht sei, so leicht, als ob in ihm nichts ent­hal­ten wäre. Die alte Dame erwi­dert, in dem Päck­chen sei sehr wohl etwas ent­hal­ten, näm­lich 7 x 1 Stun­de Schlaf, die sie einem Freund über­mit­teln wür­de, der nahe Bos­ton woh­ne, ein Geschenk. Dar­auf­hin lacht die Post­an­ge­stell­te mit tie­fer Stim­me. Sie sagt: Das ist ein unglaub­li­ches Geschenk, sie wür­de auch ein­mal sehr ger­ne etwas Schlaf­zeit geschenkt bekom­men. Kurz dar­auf dreht sich die alte, zier­li­che Frau auf dem Absatz um, ein feu­er­rot geschmink­ter Mund, gepu­der­te, hel­le Haut, win­zi­ge blaue Augen. Sie durch­quert den Saal nach Nor­den hin. Klei­ne Schrit­te, schnell. Kurz vor einer der Türen, da sie die Rich­tung kor­ri­gie­ren muss, wird sie bei­na­he aus der Kur­ve getra­gen. — stop
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ai : IRAN

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MENSCH IN GEFAHR: „Der ira­nisch-ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­list Jason Rezai­an befin­det sich seit sechs Mona­ten im Tehe­ra­ner Evin-Gefäng­nis in Ein­zel­haft. Er hat kei­nen Zugang zu einem Rechts­bei­stand, wur­de aber am 6. Dezem­ber zum ers­ten Mal vor Gericht gestellt. Er ist ein gewalt­lo­ser poli­ti­scher Gefan­ge­ner. / Jason Rezai­an, ein Iran-Kor­re­spon­dent der Washing­ton Post, wur­de am Abend des 22. Juli zusam­men mit sei­ner Frau Yega­neh Salehi, die für die Zei­tung The Natio­nal aus den Ara­bi­schen Emi­ra­ten schreibt, von Sicher­heits­kräf­ten in Zivil fest­ge­nom­men. Das Haus des Ehe­paars wur­de durch­sucht und ihre Päs­se kon­fis­ziert. Etwa einen Monat spä­ter erst wur­de die Fami­lie von Jason Rezai­an und Yega­neh Salehi über den Ver­bleib der bei­den infor­miert. Yega­neh Salehi kam im Okto­ber auf Kau­ti­on frei. Jason Rezai­an wur­de sei­nem Bru­der Ali Rezai­an zufol­ge mehr­mals ver­hört. Ein von der Fami­lie beauf­trag­ter Rechts­bei­stand hat bis­lang kei­ne Erlaub­nis erhal­ten, Jason Rezai­an zu besu­chen oder sei­ne Gerichts­ak­ten ein­zu­se­hen. Bei der Gerichts­ver­hand­lung am 6. Dezem­ber, die laut Ali Rezai­an einen gan­zen Tag lang ange­dau­ert haben soll, wur­de Jason Rezai­an ledig­lich ein Dol­met­scher und kein Rechts­bei­stand zur Ver­fü­gung gestellt. Zudem wur­de er auf­ge­for­dert, ein Doku­ment zu unter­zeich­nen, in dem er sich der Ankla­gen schul­dig bekennt. Was Jason Rezai­an vor­ge­wor­fen wird oder war­um, ist nicht bekannt. / Seit sei­ner Fest­nah­me wird Jason Rezai­an im Evin-Gefäng­nis in Ein­zel­haft fest­ge­hal­ten. Dort darf ihn sei­ne Fami­lie nur gele­gent­lich besu­chen. Er lei­det unter Blut­hoch­druck und muss des­halb täg­lich Medi­ka­men­te ein­neh­men. / In einem Inter­view mit der Nach­rich­ten­agen­tur Euro­News am 6. Novem­ber wur­de der Vor­sit­zen­de des ira­ni­schen Obers­ten Rats für Men­schen­rech­te, Moham­mad Javad Lari­ja­ni, gefragt, wann Jason Rezai­an frei­ge­las­sen wer­de. Nach sei­ner Ein­schät­zung hät­te dies “in weni­ger als einem Monat” gesche­hen müs­sen. Kaum eine Woche spä­ter sag­te jedoch der Stell­ver­tre­ter der Obers­ten Jus­tiz­au­to­ri­tät des Irans, Hadi Sadeghi, dass die Ermitt­lun­gen im Fall Jason Rezai­an noch im Gan­ge sei­en und dass die­se län­ger als einen Monat dau­ern kön­nen. Die ira­ni­schen Behör­den haben bis­her nichts über die Grün­de für die Fest­nah­me von Jason Rezai­an ver­lau­ten las­sen.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 20. Janu­ar 2015 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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bombay

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bamako : 2.12 — Auf mei­nem Schreib­tisch bemer­ke ich eine Post­kar­te, die dort eigent­lich nicht exis­tie­ren soll­te. Tau­sen­de Figu­ren bede­cken das Schrift­stück, For­men, die ich einer­seits als Zei­chen iden­ti­fi­zie­ren, ande­rer­seits ihrer Bedeu­tung nach nicht ent­zif­fern kann, auch die Brief­mar­ke der Post­kar­te wur­de mit Zei­chen ver­se­hen. Irgend­je­mand muss, mit­hil­fe einer Lupe, so vie­le Schrift­zei­chen wie mög­lich auf der Post­kar­te unter­ge­bracht haben. Es han­delt sich ver­mut­lich um einen Text in sin­gha­le­si­scher Spra­che. Weder sind Absät­ze zu erken­nen, noch Wör­ter, kein Raum für Lee­re. Die Brief­mar­ke ist unter den Zei­chen nur noch sche­men­haft zu erken­nen, 25 Rupi­en, Ele­fan­ten durch­schrei­ten einen Fluss. Auf die Bild­sei­te der Post­kar­te wur­de kein Schrift­zei­chen gesetzt. Sie trägt eine berühm­te Foto­gra­fie Sebas­tião Sal­ga­dos: Church­ga­te Train Sta­ti­on / Bom­bay. Men­schen strö­men über Bahn­stei­ge. Sie bewe­gen sich so schnell, dass sie unscharf erschei­nen wie eine Flüs­sig­keit. Im lin­ken unte­ren Bereich der Foto­gra­fie eine Frau, die sich ver­mut­lich im Moment der Auf­nah­me kaum oder nur sehr lang­sam beweg­te. Sie hält eine Tasche in der rech­ten Hand, sie scheint die ein­zi­ge nicht flüs­si­ge Per­son zu sein, die auf der Foto­gra­fie wahr­zu­neh­men ist. — stop – Diens­tag. — stop – Sturm von Nord­west. — stop
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ein brief

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india : 5.56 — Ich ent­deck­te eine Nach­richt in mei­nem Brief­kas­ten, eine nicht zustell­ba­re Sen­dung wür­de im Post­amt auf mich war­ten. Einen Tag spä­ter, so gut wie sofort, war ich dort gewe­sen. Ich stand in einer Schlan­ge von Men­schen und über­leg­te, um wel­che Sen­dung, die auf mich in nächs­ter Nähe war­te­te, es sich han­deln könn­te. Es war ein neb­li­ger Tag. Möwen waren vom Fluss her tief in die Stadt vor­ge­drun­gen. Obwohl eigent­lich eher scheue Per­sön­lich­kei­ten, hock­ten sie auf dem Fens­ter­sims des Post­am­tes, als wür­den sie uns beob­ach­ten, Men­schen, wie sie war­te­ten, in dem sie lang­sam in eine Rich­tung zu einer Schal­ter­rei­he vor­rück­ten. Es war eine län­ge­re Schlan­ge. Ich hol­te mein Mobil­te­le­fon her­aus und las in einer Zei­tung, dass in einer nörd­lich der Stadt Bag­dad gele­ge­nen Gegend Senf­gas ent­deckt wor­den sein soll zu einem Zeit­punkt, da es nicht exis­tier­te. Es ist sehr merk­wür­dig, man kann sich in einem Bericht die­ser Art ver­lie­ren und kommt doch gut vor­an in einer Schlan­ge von Men­schen, ohne berührt zu wer­den. Nach einer Vier­tel­stun­de war ich am Ziel ange­kom­men, ein Schal­ter­be­am­ter, der sich ganz offen­sicht­lich freu­te, über­reich­te mir einen win­zi­gen Brief. Der Brief war der­art klein, dass er zunächst zwi­schen der Bee­re des Zei­ge­fin­gers und der Dau­men­spit­ze des Man­nes, die den Brief fixier­ten, voll­stän­dig ver­schwand. Kurz dar­auf hob er den Brief mit­tels einer Pin­zet­te in die Luft, um ihn auf dem Tre­sen vor mir abzu­le­gen. Der Mann reich­te mir eine Lupe, ich sol­le mich ver­ge­wis­sern, die Brief­mar­ke feh­le. Tat­säch­lich war auf der Anschrif­ten­sei­te des Kuverts mein voll­stän­di­ger Name und mei­ne Adres­se ver­merkt, eine Brief­mar­ke aber war nicht zu ent­de­cken, ver­mut­lich des­halb, weil Brief­mar­ken für Brie­fe die­ser Grö­ße noch nicht aus­ge­lie­fert wor­den sind. Der Beam­te sag­te, dass es sich bei die­sem Brief, um den kleins­ten Brief han­de­le, den er je bear­bei­tet haben wür­de, ich soll­te ihn gut ver­wah­ren: 65 Cent. Der Brief liegt jetzt auf mei­nem Küchen­tisch. Ich habe ihn noch immer nicht geöff­net. Es ist kurz vor fünf Uhr. Wie­der Nebel. — stop
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überall liegen Bücher herum

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echo : 2.26 — Frü­her ein­mal exis­tier­ten Bücher, deren Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren. Bevor man die Sei­ten die­ser Bücher lesen konn­te, muss­te man sie von­ein­an­der tren­nen. Selt­sa­mer­wei­se hat­te ich ihre Exis­tenz ver­ges­sen, bis ich soeben sol­che Bücher in einem Text von Natha­lie Sar­rau­te bemerk­te. Aber viel­leicht ist das Wort ver­ges­sen, in die­sem Zusam­men­hang nicht rich­tig gewählt, ich hat­te jah­re­lang nicht an sie gedacht, im Gehei­men waren sie ver­mut­lich immer anwe­send gewe­sen. Sofort begann ich damit, die Umge­bung mei­ner Erin­ne­rung zu erkun­den. Ich ent­deck­te eine Tan­te. Wenn die Tan­te zu Besuch kam, küss­te sie mich auf die Stirn. Es gab dann immer Lauch­sup­pe, weil sie einen Gemü­se­händ­ler kann­te, der ihr Lauch­stan­gen schenk­te. Die­se Tan­te also, deren Gesicht zer­furcht war von unzäh­li­gen Fal­ten, schenk­te mir ein­mal ein Buch genau die­ser erwähn­ten Art, ein Buch, des­sen Sei­ten mit­ein­an­der ver­bun­den waren, sodass ich jede Sei­te mit einer Sche­re zunächst von der nächs­ten tren­nen muss­te. Das Buch war kein Kin­der­buch gewe­sen, ich hat­te noch nicht sehr viel mit Büchern zu tun zu die­sem Zeit­punkt, aber Natha­lie Sar­rau­te, die damals unge­fähr in mei­nem Alter gewe­sen sein könn­te, in einem Alter, als mich die Tan­te mit den Lauch­stan­gen noch besuch­te. Sie notier­te: Es lie­gen über­all Bücher her­um, in allen Zim­mern, auf den Möbeln und sogar auf dem Boden, Bücher, die Mama und Kola gebracht haben oder die mit der Post gekom­men sind … klei­ne­re, mitt­le­re und gro­ße … Ich neh­me die Neu­an­kömm­lin­ge in Augen­schein, ich schät­ze die Mühe, die jedes erfor­dern wird, die Zeit, die es mich kos­ten wird … Ich wäh­le eins aus und set­ze mich mit dem auf­ge­schla­ge­nen Buch auf den Knien hin, ich umklam­me­re das brei­te Papier­mes­ser aus grau aus­se­hen­dem Horn, und ich fan­ge an … zuerst zer­trennt das waa­ge­recht gehal­te­ne Papier­mes­ser den obe­ren Falz der vier zusam­men­hän­gen­den Dop­pel­sei­ten, dann senkt es sich, rich­tet sich wie­der auf und glei­tet zwi­schen die bei­den Sei­ten, die nur noch längs­seits mit­ein­an­der ver­bun­den sind … dann kom­men die „leich­ten“ Sei­ten, sie sind an ihrem lan­gen Rand offen und bra­chen nur noch oben getrennt wer­den. Und wie­der die vier „schwie­ri­gen“ Sei­ten … und dann vier „leich­te“, und dann vier „schwie­ri­ge“, und so wei­ter, immer schnel­ler, mei­ne Hand wird müde, mein Kopf wird schwer, er brummt, mir wird ein wenig schwind­lig … „Hör jetzt auf, mein Lieb­ling, das reicht, hast du wirk­lich nichts Inter­es­san­te­res zu tun? Ich wer­de beim Lesen selbst auf­schnei­den, das stört mich nicht, ich mache das ganz auto­ma­tisch …“ Es kommt jedoch nicht infra­ge, dass ich auf­ge­be. — stop / Natha­lie Sar­rau­te Kind­heit — aus der fran­zö­si­schen Spra­che über­setzt von Eri­ka und Elmar Tophoven

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anna ludmilla

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nor­pol : 0.33 — Wäh­rend ich aus dem Fens­ter schaue, höre ich einen Bericht, der vom Fern­se­hen gesen­det wird. Uly­a­na M., das heißt die Stim­me ihrer Über­set­ze­rin, erzählt, sie habe mit ihrem Mann nahe Mariu­pol Zuflucht vor Gra­nat­be­schuss im Kel­ler eines Nach­barn gesucht. Ein Mann, den sie von Fer­ne kann­te, habe den Kel­ler ver­las­sen, um nach sei­nem Häus­chen zu sehen. Er sei nicht zurück­ge­kom­men. Als der Beschuss auf­ge­hört habe, sei­en sie zu ihrem Haus zurück­ge­kehrt. Auf dem Weg fan­den sie den Mann, der nach sei­nem Häus­chen gese­hen hat­te. Er lag in sei­nem Gar­ten ohne Kopf, sein Häus­chen brann­te. An die­ser Stel­le des Berich­tes mach­te die Stim­me, die ich hör­te, eine kur­ze, selt­sa­me Pau­se. Ich hat­te nicht den Ein­druck, dass die Stim­me der ori­gi­na­len Erzäh­le­rin Uly­a­na M. eine Pau­se mach­te, aber die Über­set­ze­rin macht eine Pau­se, ihre eige­ne Pau­se. Fünf Sekun­den spä­ter fuhr sie fort in ihrer Arbeit. Sie sag­te, man habe nach dem Kopf des Man­nes gesucht, man habe ihn gefun­den und zurück­ge­bracht zu dem Kör­per des Man­nes, der in sei­nem Gar­ten lag. – Frü­her Abend. Kas­ta­ni­en­bäu­me tief unten ste­hen bereits in Flam­men, Bahn­stei­ge der Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le bedeckt von Sta­chel­früch­ten, die nicht zer­plat­zen. Eich­hörn­chen­schat­ten tra­gen sie nachts davon, obwohl noch Anfang Sep­tem­ber ist. Anna Lud­mil­la L.. Ich erin­ne­re mich an Anna Lud­mil­la L., die in St. Peters­burg gebo­ren wur­de. Sie lebt seit 15 Jah­ren in Deutsch­land, woll­te Modell wer­den, heita­te­te, gebar eine Toch­ter und wur­de geschie­den. Seit Jah­ren arbei­tet sie in der Post­stel­le eines Frank­fur­ter Ver­lags­hau­ses. M. erzähl­te, Anna zwin­ke­re seit eini­gen Wochen, wenn man mit ihr spre­che, mit einem Auge, eine flat­tern­de Bewe­gung. Er habe sie ein­mal gefragt, wie es ihr gehe, wie ihrer Fami­lie, ob sie Ver­wand­te in der Ukrai­ne habe. Sie habe sich über sei­ne Fra­ge viel­leicht gefreut, er sei sich aber nicht sicher. — stop

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mr. ruby

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sier­ra : 0.02 — Eine Dach­woh­nung im 32. Stock eines Hau­ses an der Madi­son Ave­nue. Auf­zü­ge fah­ren nur noch bis zum 20. Stock, das Gebäu­de scheint lang­sam zu ver­fal­len, irgend­je­mand will Rat­ten in der 15. Eta­ge gese­hen haben. Der Bewoh­ner des klei­nen Habi­tats, ein Mann von 72 Jah­ren, geht kaum noch vor die Tür. Er kann sich glück­li­cher­wei­se einen Boten leis­ten, der sei­ne Hem­den und Hosen zur Rei­ni­gung bringt, Ein­käu­fe erle­digt, Post aus dem Brief­kas­ten holt, sei­nen Kühl­schrank füllt. Zudem genießt er einen groß­ar­ti­gen Aus­blick auf die Stadt. Vor den Fens­tern der Woh­nung war­ten Tele­sko­pe, die wie grö­ße­re Stelz­jagd­vö­gel auf lan­gen Bei­ne ste­hen. Es geht ihm nicht dar­um, in der Nacht heim­lich Men­schen zu betrach­ten, in Woh­nun­gen zu spä­hen, wie man viel­leicht mei­nen möch­te, nein, es geht dar­um, das Licht zu beob­ach­ten, dort, wo zu viel Licht ist, wo man ver­säum­te, das Licht aus­zu­schal­ten. Zum Bei­spiel am ver­gan­ge­nen Sams­tag, da brann­ten in einem Gebäu­de der Hafen­be­hör­de Höhe 48. Stra­ße im sechs­ten Stock noch ein paar Bir­nen. Unver­züg­lich wur­de von der Madi­son Ave­nue aus ein Tele­fon­ge­spräch geführt: Hal­lo, guten Abend, hier Ruby, spre­che ich mit Mr. Bale, oh, lei­ten sich mich doch bit­te an die Haus­ver­wal­tung wei­ter! Kurz dar­auf sehe ich Ruby nach Süd­wes­ten spä­hen. Ich bemer­ke ihn über­haupt zum ers­ten Mal in vol­ler Grö­ße. Ein klei­ner Mann, der immer einen Hut trägt, einen Came­ron Pork Pie, mehr­fach gewa­schen, ich kann nicht sagen, war­um ich das weiß. Ich sehe ihn genau, er ist bar­fuß, sei­ne Kon­tur, sei­nen Umriss, fast bewe­gungs­los vor dem Licht­meer der gro­ßen Stadt ste­hen. Und ich höre ihn seuf­zen als im 8. Stock der Hafen­be­hör­de das Licht erlischt, eines nach dem ande­ren, Zim­mer für Zim­mer. Und schon wech­selt er das Fens­ter und späht wie­der in die Stadt hin­aus. Stadt­plä­ne lie­gen auf dem Boden der Woh­nung her­um. Es ist kurz vor Mit­ter­nacht. Ein Fracht­schiff fährt den Hud­son her­auf. Natür­lich scheint die­se Geschich­te aus sehr unter­schied­li­chen Grün­den nicht mög­lich zu sein. Ers­ter Ver­such. — stop

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von stäbchen von rädchen

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del­ta : 6.12 — Im Traum hat­te ich an einer Appa­ra­tur gear­bei­tet, mit deren Hil­fe ich bald in der Lage sein wer­de, hand­schrift­li­che Noti­zen der­art zu ver­klei­nern, dass ich Papie­re von der Grö­ße einer Brief­mar­ke beschrei­ben könn­te, sagen wir, eine Erzäh­lung von 85 Sei­ten à 1800 Zei­chen auf einer Luft­post­mar­ke Finn­lands zu 80 Cent. Ich könn­te in die­ser Arbeit der Ver­klei­ne­rung oder Ver­dich­tung auf eine Lupe ver­zich­ten, wür­de auf übli­chen Papie­ren notie­ren, wäh­rend mit­tels mecha­ni­scher Über­tra­gung, fast geräusch­los von hun­der­ten Stäb­chen zu hun­der­ten Räd­chen, Zei­chen für Zei­chen in mikro­sko­pi­sche Dimen­sio­nen tran­skri­biert wer­den wür­de. Eine Biblio­thek könn­te in weni­gen Jah­ren mit mir in einem Brief­mar­ken­al­bum rei­sen, eine Biblio­thek, deren Mikro­gramm­bü­cher selbst­ver­ständ­lich nicht les­bar wären, ohne sie unter ein Mikro­skop zu legen, eine Biblio­thek jedoch, die mich glück­lich stim­men wür­de, ich wüss­te, dass sie exis­tiert und mit ihr die Mög­lich­keit des Lesens all der ver­steck­ten Geschich­ten, die im Moment des erin­nern­den Gedan­kens, schon wie­der so groß gewor­den sind, wie sie immer waren. — stop
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