echo : 8.16 UTC — Seit einem Jahr nun sehe ich Straßenbahnen zu, wie sie mich passieren in der einen oder anderen Richtung, ohne sie je betreten zu haben. Straßenbahnen sind anwesend, aber nicht verfügbar, weil ich das so entschieden habe. Das hat es in meinem städtischen Leben noch nie zuvor gegeben. Einmal wartete ich vor einer Ampel, als ein Waggon der Linie 16 neben mir hielt. Ich dachte, sie wartet wie ich. Im Waggon saß eine junge Frau. Sie schaute mich an und lächelte. Die junge Frau trug keine Maske, ihr Mund war knallrot geschminkt. Sie schien begeistert zu sein. Ihre Augen strahlten. Sie hatte etwas Verrücktes an sich in diesem Moment, etwas Triumphierendes. — stop
Aus der Wörtersammlung: rete
ai : IRAN
MENSCH IN GEFAHR : “Der 47-jährige Kurde Arsalan Khodkam ist in Gefahr, im Gefängnis von Urumieh in der Provinz West-Asderbaidschan hingerichtet zu werden. Er war am 14. Juli 2018 wegen “Spionage” für die Kurdische Demokratische Partei des Iran (KDPI), eine bewaffnete Oppositionsgruppe, zum Tode verurteilt worden. Damals war er ein niedrigrangiger Angehöriger der Revolutionsgarden. Er hat diese Anschuldigungen immer bestritten und erklärt, dass die Behörden ihn der Spionage beschuldigten, nachdem sie erfahren hatten, dass er über Instagram mit einem Verwandten seiner Frau kommunizierte, der Mitglied der KDPI war. Arsalan Khodkam wurde weniger als drei Monate nach seiner Festnahme in einem unfairen Verfahren, das nur 30 Minuten dauerte, aufgrund von “Geständnissen”, die er seinen Angaben zufolge unter Folter und anderen Misshandlungen unterzeichnet hatte, zum Tode verurteilt. Er hatte zu keinem Zeitpunkt Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl. Im Februar 2020 versuchte sein Anwalt Einsicht in die Gerichtsunterlagen zu erhalten, um ein Gnadengesuch vorzubereiten. Die Staatsanwaltschaft teilte dem Rechtsbeistand jedoch mit, er könne Arsalan Khodkam nicht vertreten. Ein Gnadengesuch, das Arsalan Khodkam aus dem Gefängnis gestellt hatte, wurde abgelehnt. Im Mai 2020 wurden seine Familienangehörigen gewarnt, er könne jederzeit hingerichtet werden. / Nach seiner Festnahme am 23. April 2018 wurde Arsalan Khodkam in eine Hafteinrichtung der Revolutionsgarden in der Militärkaserne Almahdi in Urumieh gebracht. Dort hielt man ihn 36 Tage in Einzelhaft ohne Kontakt zu seiner Familie oder einem Rechtsbeistand. Während dieser Zeit wurde er seinen Angaben zufolge wiederholt gefoltert, um ihn zu einem “Geständnis” zu zwingen. Er sagte, er sei wiederholt ausgepeitscht bzw. mit Stöcken geschlagen und mit Fausthieben und Tritten traktiert worden, unter anderem auf den Rücken, wo er ein chirurgisches Implantat hat. Deshalb habe er mehrfach das Bewusstsein verloren. Die Verhörbeamt_innen sollen ihn über lange Zeiträume in schmerzhafter Weise die Hände gefesselt haben. Während dieser Zeit verweigerte man ihm den Gang zu Toilette, so dass er sich einnässte oder den Harn so lange einhielt, bis er Blasen- und Nierenschmerzen hatte. Er gab außerdem an, am Schlafen gehindert worden zu sein. / Arsalan Khodkam wurde von der Abteilung 1 des Militärgerichts in West-Aserbaidschan der “Feindschaft zu Gott” (moharebeh) durch “Spionage” für schuldig befunden. Er traf seinen vom Gericht bestimmten Rechtsbeistand zum ersten Mal während des Gerichtsverfahrens. Dieser habe vor Gericht nichts zu seiner Verteidigung vorgetragen. Die Abteilung 32 des Obersten Gerichtshof wies sein Rechtsmittel im Schnellverfahren zurück, ohne darauf einzugehen, dass unter Folter erpresste “Geständnisse” vor Gericht zugelassen wurden. Ein darauffolgender Antrag auf gerichtliche Überprüfung des Verfahrens wurde am 3. Oktober 2018 zurückgewiesen. Arsalan Khodkam hat bis heute keine schriftliche Fassung des Urteils gegen ihn erhalten. Die Anwendung der Todesstrafe wegen “Spionage” verstößt gegen das Völkerrecht, das die Todesstrafe auf die “schwersten Verbrechen”, wie vorsätzliche Tötungen, beschränkt. / Amnesty International wendet sich in allen Fällen, weltweit und ausnahmslos gegen die Todesstrafe, ungeachtet der Schwere und der Umstände einer Tat, der Schuld, Unschuld oder besonderen Eigenschaften des Verurteilten, oder der vom Staat gewählten Hinrichtungsmethode, da sie das Recht auf Leben verletzt und die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen darstellt.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 28.9.2020 unter > ai : urgent action
am telefon abends
delta : 0.25 UTC — Vor langer Zeit habe ich eine lustige Geschichte erlebt. In dieser Geschichte kommen ein Mädchen vor, die Mutter des Mädchens, die meine Schwester ist, ein Telefon, ein Fotoapparat, ausserdem ein Fahrrad, das pink ist und ich. Die Geschichte ereignete sich abends. Das Mädchen rief mich an. Sie sagte ihren Namen und dann erzählte sie einfach darauf los, zum Beispiel, dass sie ein Fahrrad besitze, das pinkfarben ist, und dass sie mit dem Fahrrad schon alleine herumfahren könne, ohne umzufallen, und zwar durch den Wald. Plötzlich spricht sie nicht mehr, es ist still, aber ich höre sie atmen. Ich denke noch: Vor wenigen Monaten konnte sie nicht so gut erzählen, wie rasend schnell das geht, dass sich die Wörter formieren. Das Mädchen erzählte jetzt in ganzen Sätzen, es scheint so zu sein, dass sie nun, da sie über ganze Sätze verfügen kann, endlich alle ihre Geschichten sofort erzählen möchte. Eine helle, fröhliche Stimme. Aber dann doch diese seltsame Stille am Telefon, nur ihr Atem. Ich frage: Bist Du noch dran? Hallo! Kannst Du mich hören? Aber das Mädchen antwortet nicht. Immer noch ihr Atmen. Nach einer Minute plötzlich wieder ihre Stimme. Ich erfahre, dass ihre Mutter sie gerade fotografiert, wie sie mit mir telefoniert. Ich sage: Das freut mich. Wunderbar, wir werden fotografiert, Du und ich, ich bin in dem Telefon. Wieder Stille. Ein Pause. Eine sehr kurze Pause. Sagt das Mädchen: Quatsch mit Sauce. — Gestern, es war Abend gleichwohl, rief mich ein Freund an. Er sagte: Du klingst sehr nah an meinem Ohr. Trägst Du eine Maske? Wir sollten einen Schritt zurücktreten! — stop
marys nase
marimba : 12.15 UTC — Ein Schulmädchen zeigte mir heute im Zug ihre Nase. Sie hatte vielleicht beobachtet, wie ich meine Schutzmaske um meine eigene Nase herum heftig knetete, damit alles schön dicht sei. Kurz darauf musste ich niesen und schon war die Maske wiederum verrutscht. Ich machte ein ernstes Gesicht, da zog das Mädchen ihre Maske herunter, weiss der Himmel warum, vermutlich, um mich zu ärgern. In diesem Augenblick dachte ich an einen Besuch auf Ellis Island. Ein schwülwarmer Tag, Gewitter waren aufgezogen, der Himmel über Manhattan bleigrau. Trotzdem fuhren kleine weiße Schiffe von Battery Park aus los, um Besucher auf die frühere Quarantäneinsel zu transportieren. Ehe man an Bord gehen konnte, wurde jeder Passagier sorgfältig durchsucht, Taschen, Schuhe, Computer, Fotoapparate. Ein griechischer Herr von hohem Alter musste mehrfach durch die Strahlenschleuse treten, weil das Gerät Metall alarmierte. Er schwitzte, er machte den Eindruck, dass er sich vor sich selbst zu fürchten begann, auch seine Familie schien von der ernsten Prozedur derart beeindruckt gewesen zu sein, dass ihnen ihr geliebter Großvater unheimlich wurde. Die Überfahrt dauerte nur wenige Minuten. Es begann heftig zu regnen, das Wasser wurde grau wie der Himmel, Pusteln, Tausende, blinkten auf der Oberfläche des Meeres. Im Cafe des Einwanderermuseums kämpften hunderte Menschen um frittierte Kartoffeln, gebratene Hühnervögel, Himbeereis, Sahne, Bonbons. Ihre Beute wurde in den Garten getragen. Dort Sonnenschirme, die der Wind, der vom Atlantik her wehte, davon zu tragen drohte. Am Ufer eine herrenlose Drehorgel, die vor sich hindudelte, Fahnen knallten in der Luft. Über den sandigen Boden vor dem Zentralhaus tanzten handtellergroße Wirbel von Luft, hier, genau an dieser Stelle, könnte Mary Mallon im Alter von 15 Jahren am 12. Juni 1895 sich ihre Füße vertreten haben, ehe sie mit Typhus im Blut nach Manhattan einreisen durfte. Ihr Schatten an diesem Tag in meinen Gedanken. Ein weiteres Gewitter ging über Insel und Schiffe nieder, in Sekunden leerte sich der Park. Dann kamen die Möwen, große Möwen, gelbe Augen, sie raubten von den Tischen, was sie mit sich nehmen konnten. Wie ein Sturm gefiederter Körper stürzten sie vom Himmel, es regnete Knochen, Servietten, Bestecke. Unter einem Tisch kauerte ein Mädchen, die Augen fest geschlossen. – stop / koffertext
von häubchen
romeo : 0.24 UTC — Das Gedächtnis meiner Haut oder doch etwa ihre Fähigkeit zu vergessen. Nach Stunden, da ich eine enganliegende Maske trage, die 95 Prozent feinster Partikel aus meiner Atemluft filtern soll, meiner Atemluft hin und meiner Atemluft her, vergesse ich, dass Nase und Mund bedeckt worden sind. Ein Stück Schokolade, das ich zum Mund führe, stößt auf Widerstand, Wasser rinnt mir den Hals entlang. Und wie ich auf die Straße trete, das Häubchen von Mund und Nase nehme, so wie ich es lernte anzufassen an seinen Schlaufen für zwei Ohren, fühlt sich das an, als würde etwas fehlen. Der Wind plötzlich, es ist kühl, frisch, dort auf der Haut. Nachts baumeln meine Tageshäubchen vor den Fenstern im Wind. Zwanzig Tage lang schaukeln sie dort von der Sonne bestrahlt, drehen sich, werden nachts von Nachtfaltern besucht. — stop
ai : GUATEMALA
MENSCHEN IN GEFAHR : “Im März hat die guatemaltekische Regierung in einem Industriepark in Guatemala-Stadt ein Krankenhaus für COVID-19-Patient_innen eingerichtet. Jetzt wurden 46 dort arbeitende Instandhaltungs- und Reinigungskräfte entlassen. Als Grund für die Kündigungen verwies das Gesundheitsministerium auf Verwaltungsvorschriften, denen zufolge diese Arbeiter_innen einen Oberstufen- oder Universitätsabschluss besitzen müssen, um in dem Krankenhaus arbeiten zu können. Ein Großteil dieser Beschäftigten verfügt nur über eine grundlegende Schulbildung und kann die geforderten Nachweise nicht erbringen. Hinzu kommt, dass die gekündigten Personen, ähnlich wie Teile des medizinischen Personals, seit dem 24. März keinen Lohn erhalten haben. Arbeitslosenunterstützung haben sie ebenfalls nicht bekommen. / Hintergrund: Bereits vor der COVID-19-Pandemie erhielt Guatemala aufgrund seines schwachen Gesundheitssystems besondere Unterstützungen von der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation OPS. Am 9. Juni meldete Guatemala 7.055 COVID-19-Fälle und 252 Pandemietote. / Im März richtete die Regierung Guatemalas in einem Industriepark der Hauptstadt namens Parque de la Industria ein Krankenhaus für COVID-19-Fälle ein. Die Klinik hatte eine Anfangskapazität von 319 Betten und wurde am 21. März eröffnet. Anfang Mai beschwerte sich das medizinische Personal öffentlich über fehlende Arbeitsverträge, nicht ausgezahlten Lohn und gefährliche Arbeitsbedingungen. Presseberichten zufolge, die auf Informationen des nationalen Rechnungshofs basieren, hat das COVID-19-Krankenhaus weniger als zwei Prozent des ihm vom Kongress zugewiesenen Budgets in Anspruch genommen. Der Grund dafür liegt in der geringen operativen Kapazität und dem Fehlen von entsprechend qualifiziertem Personal. / Die Krankenhausleitung gab an, dass die in der Klinik arbeitenden Personen über das Gesundheitsministerium eingestellt werden, wobei die in Haushaltsbestimmung 189 (Titel: “Sonstige Leistungen”) des öffentlichen Haushalts festgelegten Anforderungen zu befolgen sind. Vertreter_innen des Gesundheitsministeriums wiesen darauf hin, das Gesetz über den öffentlichen Dienst verlange, dass unter dieser Haushaltslinie eingestellte Personen einen Nachweis über ihren Oberstufen- oder Universitätsabschluss erbringen müssen. Der nationalen Ombudsstelle für Menschenrechte Procuraduría de los Derechos Humanos zufolge wurden diese Belege noch nicht verlangt, als das Gesundheitsministerium das betreffende Personal einstellte. Da 46 der im COVID-19-Krankenhaus beschäftigten Instandhaltungs- und Reinigungskräfte nicht die entsprechenden Unterlagen vorlegen konnten, wurden sie kurzerhand entlassen. Sie hatten erst knapp drei Monate lang in der Klinik gearbeitet und mussten teilweise ihre eigenen Werkzeuge und Materialien zur Arbeit mitbringen. Das Gesundheitsministerium identifizierte 38 Personen, die die Anforderungen nicht erfüllten. Die nationale Ombudsstelle für Menschenrechte hingegen meldete 46 Kündigungen im Bereich Instandhaltungs- und Reinigungspersonal. / Entgegen der Begründung des Gesundheitsministeriums besagt der Klassifikationsplan für Beschäftigungen im öffentlichen Sektor in Übereinstimmung mit Paragraf 35 des Gesetzes über den öffentlichen Dienst, dass bei einer Reihe von Stellen mit überwiegend “körperlicher und repetitiver Arbeit” keine über die Grundschule hinausgehende Schulbildung notwendig ist. Zudem ist im Handbuch zur Klassifikation der Haushaltslinien für den öffentlichen Dienst (Ministervereinbarung 291‑2012) keine Regelung zur Notwendigkeit eines Oberstufenabschlusses für die Anstellung von Personen unter Haushaltsbestimmung 189 aufgeführt. / Im COVID-19-Krankenhaus im Parque de la Industria in Guatemala-Stadt sind die Rechte der dort Arbeitenden – sowohl die der Instandhaltungs- und Reinigungskräfte als auch die des medizinischen Personals – bedroht. Diese Beschäftigten nicht angemessen zu schützen, bedeutet, nicht nur ihre sondern auch die Gesundheit der guatemaltekischen Bevölkerung aufs Spiel zu setzen. Seit Beginn der Pandemie haben Beschäftigte im Gesundheitswesen im ganzen Land öffentlich und wiederholt das Fehlen angemessener Schutzausrüstung kritisiert. Laut der nationalen Ombudsstelle für Menschenrechte hatten sich bis zum 24. Mai 2020 mindestens 49 Pflegekräfte und Ärzt_innen mit COVID-19 infiziert. Am 30. Mai 2020 forderte das Verfassungsgericht das Gesundheitsministerium auf, unverzüglich alle Beschäftigten im Gesundheitswesen mit entsprechender Schutzausrüstung auszustatten.” - Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen bis spätestens zum 20.7.2020 unter > ai : urgent action
vor abend zeit
sierra : 16.08 UTC — Ehe ich meine Wohnung verließ, telefonierte ich mit K. K. sagte, er würde zurzeit sehr viel lieber zu Hause bleiben, als auf die Straße zu treten. Du bist jung, Du kannst ruhig spazieren gehen, ich bin bald Neunzig, ich warte ab. K. erzählte, er habe einen großen Balkon, das sei jetzt seine Straße, mal laufe er dort oben, 5. Stock, langsam auf und ab, dann wieder beobachte er Menschen weit unten auf der Straße. Sie tragen fast alle Maske, das sei doch beruhigend, trotzdem wolle er lieber hier oben bleiben, noch genug Zeit, um später einmal unten bei den Passantenmenschen spazieren zu gehen. So wie ich auf und abgehe oder hin und her, sagte K., könnte man mich doch ernsthaft für eine Spindel halten, die etwas webt. In den Bäumen sitzen Vögel. Die Vögel wundern sich. Wenn Du das Haus verlässt, sagte K., solltest Du eine dieser sehr dichten Masken tragen. Du musst das üben, Louis! Du solltest erst einmal sechs Stunden eine dieser speziellen Segeltaschen vor Mund und Nase spannen, probieren, ob Du das gut aushalten kannst. Geh herum, steige ein paar Treppen, probiere, ob Du ausreichend Luft bekommst. Seit zwei Stunden also trage ich eine dieser Masken, die so dicht sein sollen, dass sie Aerosole, kleinste fliegende Teilchen einzufangen vermögen. Ich höre meinem Atem zu. Ich habe den Eindruck, als hörte ich mit meiner Nase. Auch habe ich den Eindruck, dass ich vielleicht mit meinen Ohren atme, als ob unbekannte Wege der Luftzirkulation in meinem Kopf existierten. Ich muss das beobachten. Noch vier Stunden, dann geh ich aus. — stop
lampen
delta : 22.16 UTC — Im Spazieren den Blick gegen den Boden richten, suchende Lampe. Kinderzeichnungen von Kreide, Sonnensterne, Flugdrachen, Bäume, Linien mit freier Hand da und dorthin gezogen, über Linien vorangegangener Tage geschichtet, Kreideschatten nach Regen, Kreideflüsse. Vor den Läden Punkte und Streifen, dort sollte man stehen, wenn man ein Mensch ist. Aber doch ist es so geworden, dass Personenabstände im Gehen geringer werden, man muss, wenn man geht, auf die Straße treten, ausweichen, sobald sich Sorglose nähern, muss man Räume berechnen, das Gehen gedankenlos nur am Abend durch den Park, oder Nachts in den Stunden, da man Igeln begegnet und Mäusen mit rot glühenden Augen im Licht einer Taschenlampe. Einmal träumte ich von Virentieren, die leuchten. Wie es mir in diesem Traum selbst goldfarben von den Lippen staubte, wachte ich auf. — stop
im spielfilm
echo : 22.12 — Nervöses Spazieren, sondierende Blicke. Das Distanzieren brennt sich in den Kopf. In den ersten Tagen der Verordnung zu Abstand war noch Ernst gewesen, jetzt da und dort immer wieder ein Lächeln, ein leises Dankeschön, wenn man stillsteht, um Raum zu spenden. In einer zweifach um Ecken gefalteten Schlange stehen Menschen, sie warten in ein Postamt eintreten zu können. Wann habe ich in meinem Leben je so verharrt, geduldig, demütig, entspannt? Rotkopfschildkröten hocken an Stränden der Parkseen, ihre verwitterten Körper sind vollständig aus dem Wasser gekommen, als würden sie nach den Menschen jenseits der Zäune luren. Ein wunderbarer Frühling. Goldfarbene Stäube schweben durch die Luft, die so klar ist wie noch nie, seit ich denken kann, auch Spinnen an ihrer Seide, und all das Unsichtbare, das ich ein und wieder ausatme. An das Unsichtbare denken, das ist neu, dass das nichtsichtbare Gedanken beherrscht, auch die Träume. Litfaßsäulen meiner Straße sind weiß wie leer. Eine Fotografie auf einer Zeitung vor dem Kiosk zeigt Menschen, die von Apparaturen umgeben unbekleidet auf dem Bauch liegen. Im Spielfilm abends hocken Menschen im Kaffeehaus Seite an Seite und gegenüber, stecken ihre Köpfe zusammen und debattieren, sehr seltsam, sehr gefährlich, ich wollte etwas sagen. — stop
kaprunbiber
sierra : 22.03 UTC — Sobald ich mit meiner Schreibmaschine eine U‑Bahn betrete, beginnt sie nach weiteren Schreibmaschinen zu suchen, vermutlich, um Kontakt herzustellen. Meistens antworten anwesende Schreibmaschinen. Sie erzählen einerseits, dass sie da sind, dass sie über Sensoren verfügen, die bemerken, dass meine Schreibmaschine sich nach ihrer Gegenwart erkundigt. Andererseits zeigen sie an, dass sie im Grunde keinen Kontakt aufzunehmen wünschen. Sie senden Namen, Bezeichnungen, Zahlen oder Buchstabenfolgen, die auf nichts verweisen, als eindeutig sie selbst: L‑887MN oder Easy665X. Manchmal jedoch sind Zeichenfolgen zu entdecken, die ein Geräusch im Kopf erzeugen, Mezizo 7, zum Beispiel, oder, gestern: Kaprunbiber. Das war unheimlich, ich drehte mich um. — stop