Aus der Wörtersammlung: schwarz

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am Wasser

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gink­go : 2.08 — Eine Foto­gra­fie, die mich ges­tern Abend per E‑Mail erreich­te, zeigt eine älte­re Frau auf der Dach­ter­ras­se eines Hau­ses, das voll­stän­dig aus Holz zu bestehen scheint. Das Gebäu­de befin­det sich an der Küs­te des Atlan­tiks auf Sta­ten Island. Ein blü­hen­der Gar­ten umgibt das Anwe­sen weit­räu­mig, man kann das gut erken­nen, weil der Foto­graf zum Zwe­cke der Auf­nah­me auf einen höhe­ren Baum gestie­gen sein muss, im Hin­ter­grund das Del­ta des Lemon Creek, zwei schnee­wei­ße Segel­boo­te, die vor Anker lie­gen, und Schwä­ne, sowie ein paar ame­ri­ka­ni­sche Sil­ber­mö­wen, die sich zan­ken. Die Frau nun winkt mit ihrer lin­ken Hand zu dem Foto­gra­fen hin. Mit der ande­ren Hand drückt sie ihren Som­mer­hut fest auf den Kopf, ver­mut­lich des­halb, weil an dem Tag der Auf­nah­me eine fri­sche Bri­se vom Meer her weh­te. Far­ben sind auf dem Schwarz-Weiß-Bild nur zu ver­mu­ten. Ich erin­ne­re mich jedoch, dass mir jemand erzähl­te, das Haus sei in einem leuch­ten­den Rot gestri­chen. Bei der Frau auf der Foto­gra­fie han­delt es sich übri­gens um Emi­ly im Alter von 62 Jah­ren. Ich kann das so genau sagen, weil in einer Notiz, die der E‑Mail bei­gefügt wur­de, einen Hin­weis zu fin­den war, eben auf Emi­ly, die sich im Moment der Belich­tung auf der Dach­ter­ras­se ihres Hau­ses damit beschäf­tig­te, eine Salz­wie­se anzu­le­gen: Das ist mei­ne Emi­ly als sie noch leb­te. Ein hei­ßer Tag. Wir waren von einem Spa­zier­gang zurück­ge­kom­men, hat­ten in Ufer­nä­he Salz­mie­ren, Strand­a­s­tern, Mit­tags­blu­men, Fuchs­schwän­ze, Blei­wurz und Was­ser­nüs­se gesam­melt. Am Nach­mit­tag mach­te sich Emi­ly an die Arbeit. Sie brach­te san­di­ge Erde auf ihren Blu­men­ti­schen aus, in wel­cher Lei­tun­gen für Flut, für Ebbe ver­bor­gen lagen. Sie war glück­lich gewe­sen, aber sie ahn­te bereits, dass das Was­ser stei­gen wird. Sie fürch­te­te sich vor den Win­ter­stür­men, ihren Namen, ihrer tosen­den Wild­heit. An dem Abend, als ich die Auf­nah­me mach­te, sag­te Emi­ly, dass es selt­sam sei, sie habe das Gefühl, an einem Ort zu woh­nen, der eigent­lich bereits dem Meer gehö­re. Dein S. – stop
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vor den mangroven

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del­ta : 2.25 — Es darf nicht sein, dass Leu­te einem den Film kaputt machen. Man­chen habe ich schon das Essen aus der Hand geris­sen und weg­ge­wor­fen. Man muss sie ver­prü­geln oder bedro­hen, sonst ist der Film ver­dor­ben, man hat das Recht sie umzu­brin­gen, damit sie auf­hö­ren. Aber Mord ist kei­ne sehr gute Lösung, nach­her wird man noch ver­haf­tet, bevor der Film zu Ende ist. Als ich die „Lady von Shang­hai“ das letz­te Mal gese­hen habe, woll­te ich nicht ein­fach nur mit Rita Hay­worth schla­fen: Ich woll­te Sex mit ihr in Schwarz­weiß! Viel­leicht könn­te man das mit Kon­takt­lin­sen oder einer Bril­le hin­krie­gen, die alles in Mono­chrom ver­wan­delt. Das ist eine selt­sa­me Sache, dass ihre Lip­pen nicht rot sind. Und das liegt nicht am Lip­pen­stift. Ihr Mund hat die­se beson­de­re Far­be, weil er in die­sem silb­ri­gen Schwarz­weiß gefilmt wor­den ist. Sie ist ein Fetisch­ob­jekt, nicht nur, weil sie so schön ist, son­dern weil Wel­les’ Kame­ra sie foto­gra­fiert hat. Des­halb möch­te man nicht nur ein­fach Sex mit Rita Hay­worth, man möch­te genau mit die­ser Figur aus dem Film schla­fen. Der Grund, war­um ich sexu­ell total ver­küm­mert bin, liegt in mei­nem Schei­tern, den fil­mi­schen Vor­bil­dern gerecht zu wer­den. Im ech­ten Leben spielt sich Sex nie­mals in Schwarz­weiß ab. — Die­se klei­ne Geschich­te, die eigent­lich aus zwei Geschich­ten besteht, erzähl­te Jack Angst­reich gera­de noch in dem wun­der­vol­len Film Cine­ma­nia von Ange­la Christ­lieb und Ste­phen Kijak, einer Doku­men­ta­ti­on, die von dem Leben lei­den­schaft­li­cher Kino­gän­ger in New York berich­tet. — 2:15 Uhr. Regen nach wie vor, küh­ler, hell­grau­er Herbst­re­gen. Es könn­te sein, dass die­ser Regen nie wie­der auf­hö­ren wird. In eini­gen tau­send Jah­ren bald beweg­ten sich amphi­bi­sche Eich­hörn­chen vor mei­nem Fens­ter durchs Man­gro­ven­ge­biet. Eben­so denk­bar ist, dass ich zu die­sem Zeit­punkt über zuge­spitz­te Fin­ger­bee­ren ver­fü­gen wer­de, geeig­net, jede der fili­gra­nen Tas­ta­tu­ren moder­ner Tele­fon­ap­pa­ra­te feh­ler­frei und gelas­sen bespie­len zu kön­nen. — stop
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ein zeppelinkäfer

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echo : 2.54 — Wann war es, dass ich zum ers­ten Mal bemerk­te, wie mei­ne Brie­fe klei­ner und klei­ner wur­den? Wesen von wirk­li­chem Papier, Bögen in Umschlä­gen, mit einem Post­wert­zei­chen, das zuletzt die Anschrif­ten­sei­te mei­nes Schrei­bens voll­stän­dig bedeck­te. Im Post­amt wer­de ich seit­her ernst genom­men. Vor eini­gen Wochen kauf­te ich sinn­vol­ler­wei­se ein hand­li­ches Mikro­skop und einen Satz Blei­stif­te von äußers­ter Här­te. Ich spitz­te das Schreib­werk­zeug eine Vier­tel­stun­de lang, dann leg­te ich einen Bogen Papier in das Licht einer Lin­se mitt­le­rer Stär­ke. Ich näher­te mich mit beben­den Fin­gern. Man soll­te mich in die­sem Moment gese­hen haben. Bei jedem Wort, das ich auf das klei­ne Blatt notier­te, hielt ich die Luft an. Tat­säch­lich habe ich in mei­nen Leben noch nie zuvor in einer der­art sorg­fäl­ti­gen Wei­se geschrie­ben. Ich brauch­te drei Stun­den Zeit, um das Papier, das nicht grö­ßer gewe­sen war als eine Brief­mar­ke von 1,5 cm Kan­ten­län­ge, voll­stän­dig zu beschrif­ten. Ich schrieb fol­gen­de Zei­len an einen Freund: Lie­ber Sta­nis­law, Du wirst es nicht glau­ben, nach 1 Uhr heu­te Nacht schweb­te ein Zep­pel­in­kä­fer einer nicht sicht­ba­ren, schnur­ge­ra­den Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. – Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. – Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit sechs recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. Dein Lou­is, herz­lichst. — Es war eine wirk­lich har­te Arbeit, all die­se Zei­chen zu notie­ren. Dann fal­te­te ich das Blatt Papier ein­mal kreuz und quer. Ich arbei­te mit zwei Pin­zet­ten wie­der­um unter star­kem Licht, steck­te den Brief in ein Cou­vert, des­sen Her­stel­lung noch mühe­vol­ler gewe­sen war als das Schrei­ben des Brie­fes selbst, und mach­te mich auf den Weg in das nächs­te Post­amt. Dort wur­de ich unver­züg­lich an den Schal­ter für beson­de­re Brief­for­ma­te wei­ter­ge­lei­tet, wo mein Brief, den ich mit einer Pin­zet­te auf den Tre­sen beför­dert hat­te, von einer wei­te­ren Pin­zet­te ent­ge­gen­ge­nom­men wur­de. Ich war sehr glück­lich. Ich beob­ach­te­te, wie der Beam­te eine Brief­mar­ke von der Grö­ße eines Reis­korns behut­sam auf mei­nen Brief leg­te und mit­tels eines Stem­pels, der vor mei­nen blo­ßen Augen kaum noch sicht­bar gewe­sen war, ent­wer­te­te. Dann ging mein Brief auf Rei­sen. Er flog sehr weit durch die Luft, und ich habe ihn für kur­ze Zeit ver­ges­sen. Nun aber, vor weni­gen Stun­den, wur­de mir von einem Son­der­bo­ten der Post ein Brief von der­art leich­ter Gestalt über­ge­ben, dass ich zunächst die Anwei­sung erhielt, alle Fens­ter mei­ner Woh­nung zu schlie­ßen. Die­ser Brief, eine Depe­sche mei­nes Freun­des, ruht vor mir auf dem Tisch. Es ist ein klei­nes Kunst­werk. Auf sei­ner Brief­mar­ke sol­len sich zwei Para­dies­vö­gel befin­den, die ihre Schnä­bel kreu­zen. Ich wer­de das gleich über­prü­fen. — Es ist Frei­tag! Guten Mor­gen! — stop / fürs marie­chen

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monroe

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alpha : 6.26 — Ich wünsch mir zum Geburts­tag ein klei­nes Tier, eine Libel­le näm­lich von der Grö­ße einer Hand, sie wird mich fort­an im Leben beglei­ten. Wenn ich mor­gens die Augen öff­ne, soll sie bereits vor mir auf einem Kis­sen ruhen, das ihr eige­nes, ihr Nacht­kis­sen ist. Das Sum­men üben­der Flü­gel, ein Blick von tau­send Augen, und schon sind wir hell­wach, schon auf dem Weg in die Küche. Zum Früh­stück zwei fri­sche Zwerg­frö­sche, sie leben noch für Sekun­den. Und etwas Kaf­fee für mich, und Löf­fel feins­ten Sumpf­was­sers für Mon­roe, das soll­te jeden Mor­gen mög­lich sein, im Win­ter wie im Som­mer. Was für ein sel­ten präch­ti­ger Vogel, mari­ne­blau, zitro­nen­gelb, schwarz schil­lern­de Augen, feu­er­ro­te Bei­ne. — Guten Mor­gen! — stop

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vom zufall

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del­ta : 0.12 — Hen­ry erzähl­te, er habe vor eini­gen Wochen eine Kar­ton­schach­tel erwor­ben für 80 Cent. Zu Hau­se habe er im Inne­ren der Schach­tel ein­hun­dert­und­zwölf Schwarz-Weiß-Foto­gra­fien ent­deckt, Foto­gra­fien einer Zeit um das Jahr 1965 her­um. Men­schen, die auf die­sen Foto­gra­fien zu sehen sind, tra­gen Schuh­werk jener Jah­re, Män­tel, Hüte. Auch Auto­mo­bi­le, die da und dort im Hin­ter­grund zu sehen sind, ver­wei­sen auf die Mit­te eines Jahr­zehn­tes, als Hen­ry selbst gebo­ren wor­den war. Er habe die Bil­der nun digi­ta­li­siert und wür­de sie in weni­gen Tagen auf einer Web­sei­te ver­öf­fent­li­chen mit der Bit­te, sich bei ihm zu mel­den, sobald man sich selbst auf einer der Foto­gra­fien ent­de­cken wür­de. Ich woll­te wis­sen, war­um er so han­de­le. Hen­ry ant­wor­te­te, er habe das Gefühl, die­se Auf­nah­men könn­ten viel­leicht feh­len, irgend­je­man­dem, einem Album, einer Geschich­te. Ja, selbst­ver­ständ­lich sei ihm bewusst, dass nur durch einen Zufall sei­ne Sei­te von genau jenen Men­schen besucht wer­den wür­de, die sich wie­der erken­nen könn­ten, es gehe ihm rein um die Mög­lich­keit, dass sich die­ser Zufall ereig­nen kön­ne, er habe im Grun­de die Mög­lich­keit eines Zufal­les geschaf­fen. Eine der Foto­gra­fien soll ein höl­zer­nes Feu­er­wehr­au­to zei­gen, das von Kin­der­hand geführt über einen Tep­pich fährt. In dem Tep­pich sei ein Loch, das ihn an ein Brand­loch erin­nert habe. Eine wei­te­re Auf­nah­me zei­ge eine Gar­di­ne, die sich im Wind zu bewe­gen schei­ne, im Hin­ter­grund etwas Him­mel, Wol­ken und ein Flug­zeug. Und die­se alte Frau, die auf einer Park­bank sitzt, sie wird, sag­te Hen­ry, viel­leicht oder sehr sicher nicht mehr unter den Leben­den sein. Sie hält einen Foto­ap­pa­rat, es könn­te sich um eine Lei­ca han­deln, in ihren Hän­den. Die alte Frau lacht, es ist Som­mer, sie lacht wie jene ande­re, etwas jün­ge­re Frau, die auf einem stei­ni­gen Weg breit­bei­nig steht, ein Fuß ist zur Sei­te geknickt, auch sie hält eine Kame­ra, ein Lei­ca viel­leicht, ihn ihren Hän­den. — stop

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PRÄPARIERSAAL : feuerherz

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nord­pol : 7.07 — In der ver­gan­ge­nen Nacht habe ich in mei­nen Ver­zeich­nis­sen nach einem E‑Mailbrief gesucht, den mir eine jun­ge Frau, Lid­wi­en, vor eini­gen Jah­ren notiert hat­te. Ich konn­te den Brief nicht fin­den, kei­ne mei­ner Such­ma­schi­nen, weil ich den Brief ver­se­hent­lich ohne Namen abge­legt hat­te. Ich erin­ne­re mich noch gut an Lid­wi­en. Sie war eine zier­li­che, freund­li­che und ziel­be­wuss­te Per­son, die mit einem leicht fran­zö­si­schen Akzent for­mu­lier­te. Ich hat­te sie ein­mal beob­ach­tet, wie sie im Prä­pa­rier­saal mit ihren Hän­den in einem Säck­chen wühl­te, um kurz dar­auf inne­zu­hal­ten und die Augen zu schlie­ßen. In dem Säck­chen, das von schwar­zem, licht­un­durch­läs­si­gem Stoff gewe­sen war, befan­den sich Kno­chen einer Hand. Es war die Auf­ga­be Lid­wi­ens gewe­sen, unter den Kno­chen einen bestimm­ten Kno­chen zu fin­den und durch rei­nes Tas­ten ein­deu­tig zu iden­ti­fi­zie­ren. Ich beob­ach­te­te die jun­ge Frau, wie sie wäh­rend ihrer Suche in dem strah­lend hel­len Licht des Saa­les ste­hend die Augen schloss, als ob sie in die­ser Wei­se mit ihren Fin­ger­spit­zen in der Dun­kel­heit des Säck­chens bes­ser sehen könn­te. Ein Gespräch folg­te über Bil­der, die der Saal in Lid­wi­ens Geist erzeug­te. Kurz dar­auf erhielt ich einen Brief, in dem sie ihre Gedan­ken prä­zi­sier­te. Genau die­sen Brief such­te ich ver­geb­lich, dann erin­ner­te ich mich an den Titel eines Films, von dem die jun­ge Frau berich­tet hat­te, und schon war der Brief in mei­nen Archi­ven auf­zu­spü­ren gewe­sen. Lid­wi­en notier­te unter ande­rem Fol­gen­des: Wis­sen Sie, auf die Fra­ge, ob die Bil­der aus dem Saal in mei­nen All­tag hin­über­glei­ten, kann ich mit einem total auf­rich­ti­gen NEIN ant­wor­ten. Ich habe über­legt, wie das über­haupt sein kann, da muss ein Fil­ter sein und ich fin­de die­sen Fil­ter in mei­nem Gehirn wirk­lich fas­zi­nie­rend. Neu­lich habe ich ein Inter­view mit einer ehe­ma­li­gen Kin­der­sol­da­tin aus dem Sudan gese­hen, die eine Bio­gra­fie mit dem Titel FEUERHERZ geschrie­ben hat­te. Dra­ma­ti­sche Din­ge muss sie erlebt und für uns nahe­zu unvor­stell­ba­re Bil­der gese­hen haben. Auf die Fra­ge, wie sie mit die­sen grau­sa­men Bil­dern umging, ant­wor­te­te sie: Ich habe die­se Bil­der nicht beson­ders ver­ar­bei­tet, denn ES WAR UNSER ALLTAG UND WIR WAREN ES NICHT ANDERS GEWOHNT. Ich habe die­se Aus­sa­ge mit mei­nen Erfah­run­gen in Bezie­hung gesetzt. Von dem Moment an, da ich die Prä­pa­ri­er­hal­len regel­mä­ßig betre­te und vie­le Stun­den des Tages dar­in ver­brin­ge, wer­den all die toten Kör­per, all die Prä­pa­ra­te, die man auf unge­wohn­te und selt­sa­me Wei­se mit den eige­nen Hän­den bewirkt, ja gera­de zu erschafft, und der bei­ßen­de Geruch des For­mal­ins, zu mei­nem All­tag. In die­sem All­täg­li­chen, in der Rou­ti­ne, ver­lie­ren mensch­li­che Emo­tio­nen und die dazu­ge­hö­ri­gen Bil­der an Gewicht und Pola­ri­tät: Aus lei­den­schaft­li­cher Lie­be wird Freund­schaft und Zusam­men­halt, und aus Angst und Furcht wird Fata­lis­mus und Gelas­sen­heit. – Und des­halb blei­ben mei­ne Bil­der im Saal und ich las­se sie dort, wenn ich nach Hau­se zu mei­ner Fami­lie gehe. — stop

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buenos aires

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MELDUNG. Ange­sichts einer im Sand vor­lie­gen­den Bro­sche von Nil­pferd­dung und schil­lern­den Flie­gen­rü­cken, wur­de Julio L. bereits am Sonn­tag, 15. Dezem­ber, gegen 16 Uhr bei schöns­tem Son­nen­licht im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten zu Bue­nos Aires von Eleo­no­re B. das Jawort erteilt. Am Kunst­werk, am Glück, haben mit­ge­wirkt: 57 Tie­re der Gat­tung Cal­li­pho­ri­dae in him­mel­blau­er Pan­ze­rung, 15 Rüs­sel­kä­fer von grün­gol­de­ner Beleuch­tung, 1 Pil­len­dre­her, schwarz. — stop

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ulys­ses: 6.58 — Viel­leicht liegt die Foto­gra­fie, die Rahel vor zwei Tagen im Zug kurz vor dem Flug­ha­fen mit ihrem Han­dy von mir mach­te, soeben in Neu­see­land auf einem Holz­tisch in der Küche ihres Hau­ses, dun­kel­grü­ne Wei­den, Scha­fe vor den Fens­tern. Ja, viel­leicht, das ist denk­bar. Sicher ist, dass die­se Auf­nah­me tat­säch­lich gemacht wur­de, und dass ich auf ihr ver­mut­lich etwas unru­hig wir­ken könn­te, weil ich Rahel so vie­le Jah­re nicht gese­hen hat­te, wie sie plötz­lich vor mir sitzt, ein Geist sozu­sa­gen, ich glaub­te, sie sei längst gestor­ben. Man hat­te mir erzählt, ein Freund, sie sei tot, das war plau­si­bel, so wie Rahel leb­te. Von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de war sie in dem Moment der Nach­richt ihres Able­bens nach Jah­ren voll­kom­me­ner Abwe­sen­heit, wie­der zu einer Anwe­sen­den gewor­den, eine Tote nun mit einem Sta­tus. Jah­re war sie ein Nichts gewe­sen, weder da noch dort, eine Lee­re. Und plötz­lich saß sie in mei­ner Gegen­wart im Zug und nann­te mich beim Namen. Sie wun­der­te sich, sie frag­te: War­um siehst Du mich so selt­sam an? Ich ant­wor­te­te, dass ich über­rascht sei. Lie­be Rahel, sag­te ich, ich kann noch nicht glau­ben, Dich hier zu sehen. Ja, so sprach ich zu ihr hin, ohne mich eigent­lich hören zu kön­nen. Lei­der war kaum Zeit für ein Gespräch gewe­sen, ehe Rahel aus dem Zug stür­men wür­de, um das Nacht­flug­zeug nach Sin­ga­pur noch zu errei­chen. In die­ser Zeit, die nur Minu­ten dau­er­te, erzähl­te sie, dass sie damals, vor vie­len Jah­ren, nach Neu­see­land gereist und dort geblie­ben sei. Sie habe Euro­pa bei­na­he ver­ges­sen, sie sei nur des­halb zurück­ge­kom­men, weil ihre Mut­ter gestor­ben war. Stolz erwähn­te sie, dass sie zwei Töch­ter habe, und ich stel­le mir nun vor, wie sie viel­leicht in die­sem Moment, da ich mei­nen Text notie­re, jene Foto­gra­fie gemein­sam betrach­ten, die auf dem höl­zer­nen Tisch der Küche in Neu­see­land liegt, aus­ge­druckt in schwar­zer und wei­ßer Far­be, das Gesicht eines Man­nes, der staunt, der im Grun­de glaubt, zu träu­men. Ges­tern war die­ses Bild zu mir gekom­men, durch Luft, sagen wir, Signa­le. Ich hör­te, wie mein Tele­fon ein Geräusch mach­te, als die Foto­gra­fie voll­stän­dig ein­ge­trof­fen war. Unter dem Bild war eine klei­ne Notiz zu fin­den. Rahel schrieb: Lie­ber Lou­is, ich freu mich sehr, Dich gese­hen zu haben. Ich glaub­te, Du wärest nicht mehr unter uns. Mel­de mich wie­der. r. – stop

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valletta

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MELDUNG. Zwei­hun­dert­fünf­zig jun­ge Schwarz­kopf­gei­er aus Mara­dah [ nörd­li­ches Afri­ka ] haben sich von 15.00 – 17.00 Uhr MEZ bei Le Sam­buc [ Cam­ar­gue ] an Win­ter­fla­min­gos und wil­den Pfer­den ver­gan­gen. Man kreist zur Zeit nacht­wärts über Val­let­ta und Gäs­ten. — stop
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rom : taschen

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marim­ba : 22.05 — Man wird viel­leicht nicht sofort bemer­ken, dass man sich in einem Jagd­ge­sche­hen befin­det. Nein, von Jägern ist auf der Piaz­za Navo­na zunächst nichts zu sehen und nichts zu hören. Ein zau­ber­haf­ter Platz, läng­lich in der Form, drei Brun­nen, eine Kir­che, und Cafés, eines nach dem ande­ren, klei­ne­re Läden, in wel­chen wir Pas­ta in allen mög­li­chen For­men und Far­ben ent­de­cken, Wei­ne, Schin­ken, Käse. Am Abend flie­gen beleuch­te­te Pro­pel­ler durch die Luft. Maler, wel­che ent­setz­li­che Bil­der pro­du­zie­ren, erwar­ten ame­ri­ka­ni­sche Kun­den, sie sit­zen auf Klapp­stüh­len im Licht ihrer Glüh­lam­pen, die sie mit­tels Bat­te­rien mit Strom ver­sor­gen. Stra­ßen­mu­si­kan­ten sind da noch, mit ihren Ban­do­ne­ons, Gei­gen, Kon­tra­bäs­sen, und Ange­stell­te der Müll­ent­sor­gung, Frau­en, jün­ge­re Frau­en in wein­ro­ten Over­alls, ihre Hän­de sind gepflegt, ihre Fin­ger­nä­gel rot lackiert. Aber jetzt, wenn man in Rich­tung jener schwarz­häu­ti­gen jun­gen Män­ner blickt, die vor einem der Brun­nen den Ver­such unter­neh­men, ihre Arbeit zu ver­rich­ten, wird es ernst. Sie haben Hand­ta­schen in allen mög­li­chen For­men auf den Boden vor sich abge­stellt, je zwei Rei­hen, Behäl­ter von Pra­da, Picard, Cha­nel, Grif­fe der­art aus­ge­rich­tet, dass man sie mit je einer Hand­be­we­gung alle­samt sofort ergrei­fen und flüch­ten kann. Eine typi­sche Ges­te, sind doch jene arm­se­lig wir­ken­den Händ­ler der Luxus­ta­schen mehr oder weni­ger flüch­ten­de Wesen. Kaum haben sie ihre Anord­nung im Fla­nier­be­zirk mög­li­cher Kun­den sorg­fäl­tigst auf­ge­baut, raf­fen sie ihre Ware wie­der zusam­men und rasen in eine der Sei­ten­stra­ßen davon, um nach weni­gen Minu­ten wie­der her­vor­zu­kom­men, wie in einem Spiel, wie auf­ge­zo­gen. Am ers­ten Abend mei­ner Beob­ach­tun­gen auf der Piaz­za Navo­na, waren nur Flüch­ten­de zu sehen, nicht aber die Jäger, eine eigen­ar­ti­ge Situa­ti­on, aber schon am zwei­ten Abend war eine jagen­de Gestalt vor mei­nen Augen in Erschei­nung getre­ten. Es han­del­te sich um einen Haupt­mann der Cara­bi­nie­ri, um einen Herrn prä­zi­se mit äußerst auf­rech­tem Gang. Er trug wei­ße Strei­fen an sei­nen Hosen, und eine Uni­form­ja­cke, tadel­los, und eine Müt­ze, sehr amt­lich, er war eine wirk­li­che Zier­de, ein Staats­mann, wie er so über den Platz schritt, hin­ter den flüch­ten­den afri­ka­ni­schen Män­ner her, aus­dau­ernd, lau­ernd, ein Ansitz­jä­ger, möch­te ich sagen, einer, der an Stra­ßen­ecken war­tet, um die Wie­der­kehr der schwar­zen Händ­ler zu unter­bin­den oder um einen von ihnen ein­zu­fan­gen und an Ort und Stel­le unver­züg­lich zu ver­spei­sen. Stop. Frei­tag­abend. stop. Eine Bie­ne über­quert zur Unzeit den Platz in süd­li­che Rich­tung, als wär sie ein Zug­vo­gel. — stop
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