ginkgo : 2.32 — Centralbahnhof kurz nach 3 Uhr in der Nacht. Vier Stunden in der Zeit zurück sind zuletzt flüchtende Menschen mit einem Intercity — Zug auf Bahnsteig 7 angekommen. Einige junge Männer sitzen nun im Kreis in der Nähe der Aufnahmezone auf dem Boden. Zwei Familien mit Kindern ruhen nicht weit entfernt auf Matten unter goldenen Isolierdecken geborgen, die schimmern, in dem sich die Menschen bewegen. Sie sind erschöpft, schlafen, ein Junge aber ist noch wach. Er liegt auf dem Rücken, Hände und Arme über der knisternde Decke abgelegt, ganz still und schaut zum Dach der Halle hinauf. Vielleicht beobachtet er Vögel, die zu dieser Stunde noch immer hin und her springen von Eisenstrebe zu Eisenstrebe als wäre nicht Nacht, sondern Tag. Unweit hocken Frauen und Männer der städtischen Berufsfeuerwehr auf Bänken. Sie haben die Flüchtenden, an diesem Abend sind es nicht so viele Menschen gewesen wie an den Abenden zuvor, empfangen. In einem Moment, da die Flüchtenden ihre Namen in die Ohren der Übersetzer sprachen, wurden sie zu Angekommenen, viele zu Überlebenden. Ich höre, eine der Familien, die über Geldmittel in Dollar verfügen soll, habe ihre Flucht von der Stadt Homs bis hierher nach Mitteleuropa in nur fünf Tagen geschafft. Sie sind jetzt in meiner Gegenwart, wirklich geworden. Menschen, die ich möglicherweise auf einem Fernsehbildschirm beobachtet hatte, wie sie durch zerstörte, höllische Straßen rennen, staubig, voller Schrecken, wie flüchtende Menschen in den Straßen Lower Manhattans kurz nach Einsturz der Twin Towers. Wenn nur für einen Moment in dieser nächtlichen Stille eines Bahnhofes hörbar oder sichtbar werden würde, welcherart die Geräusche und Bilder sind, die sie vermutlich in ihrer Erinnerung tragen. — stop
Aus der Wörtersammlung: sprachen
olkiluoto
romeo : 0.01 — Im Dokumentarfilm Into Eternity aus dem Jahr 2010 eine äußerst spannende Frage entdeckt: Ob vielleicht das Endlager für Atommüll Onkalo, auf der finnischen Halbinsel Olkiluotoi gelegen, welches um das Jahr 2100 herum für alle Zeit versiegelt werden wird, an Ort und Stelle vorsichtig markiert oder aber in einen Zustand versetzt werden sollte, dass es von Menschen vergessen werden könnte? Ein vielstimmiger Text geht dieser Frage nach: Ja, es existiert einerseits der philosophische Ansatz, dass es sinnvoll wäre, das Atommülllager Onkalo zu vergessen, eine Entdeckung wäre demzufolge nur durch Zufall denkbar. Wie aber ist es möglich Vergessen zu organisieren? Anderseits könnte man das Endlager markieren. Ein nahe liegendes Modell wäre ein Stein mit einem Text darauf in geläufigen Sprachen der UN, je mit Hinweisen auf weitere Marker mit je weiterführenden Informationen bis hin zu einer steinernen Bibliothek, die in unterirdischen Räumen angelegt werden könnte. Hauptbotschaften sind: Dies ist ein gefährlicher Ort, bitte stört die Ruhe dieser Anlage nicht! Bildsprache käme nun ins Spiel, drastische Symbole oder abweisend gestaltete Landschaften, welche allerdings nicht zwingend wirkungsvoll sein werden. In Norwegen existiert ein uralter Stein, dessen Unterseite mit einer Runeninschrift versehen war: Do not move. Diese Warnung wurde von neuzeitlichen Archäologen komplett ignoriert. Wenn wir die Zeit spiegeln und 100000 Jahre in die Vergangenheit blicken, müssen wir einsehen, wir haben mit unseren Vorfahren, den “Neandertalern”, sehr wenig gemein. Es könnte sein, dass Menschen der Zukunft, die auf das Lager stoßen, über eine ganz andere Erscheinung verfügen, über andere Sinne und Bedürfnisse als menschliche Wesen unserer Zeit. Die Frage ist völlig offen, ob ein vernunftbegabtes Wesen in Zukunft irgendetwas sinnvoll interpretieren könnte oder wollte. In aller Kürze: Niemand weiß irgendetwas! Es ist existiert die Notwendigkeit einer Entscheidung trotz Unwägbarkeit. Man muss zu diesem Zeitpunkt sagen, was man weiß, und man muss sagen wovon man weiß, dass man es nicht weiß, und auch wovon man nicht weiß, dass man es nicht weiß. — stop
tokio
ginkgo : 0.22 — Ein Kind will sehen. So fängt es immer an, und auch damals fing es so an. Ein Kind wollte sehen. Der Junge konnte laufen, und er konnte an eine Türklinke heranreichen. Es steckte keinerlei Absicht dahinter, nur der instinktive Tourismus des Kindesalters. Eine Tür war dazu da, aufgestoßen zu werden; er ging hinein, blieb stehen, schaute. Da war niemand, der ihn beobachtet hätte; er drehte sich um und ging fort, wobei er sorgsam die Tür hinter sich zumachte. — Ich erinnerte mich an diese Zeilen Julian Barnes als ich zum ersten Mal von B. hörte, der eine tiefe Leidenschaft für die Stadt Tokio entwickelt haben soll, obwohl er nie dort gewesen ist. Was weiß ich von B. an diesem Abend? Eigentlich nicht sehr viel. B. ist 52 Jahre alt, ungefähr 1,88 Meter groß, schlank, studierte slawische Sprachen, arbeitete als Übersetzer, Altenpfleger, Autor von Restaurantbeschreibungen, Dramaturg, Postschaffner, seit vier Jahren nun weder das eine noch das andere, weil er wohlhabend geworden ist durch unerwartete Erbschaft. Er blieb damals vor vier Jahren in seiner kleinen Wohnung, kaufte sich einen Computer mit einem großen Bildschirm und muss irgendwie in Tokio gelandet sein. Seinen ersten Besuch mittel der Streetviews ( Google-Maps ) beschreibt er als ein wesentliches Ereignis seines Lebens, er sei irgendwo in der Stadt gelandet, habe sich gewundert über die Enge der Straße, auf welcher er sich plötzlich befand, und über Bäume, die aus Häusern zu wachsen schienen. Ein Mann stand vor einem Getränkeautomaten, er schaute in die Kamera, die ihn gerade ablichtete. Seine Augen, durch Unschärfe verfremdet, waren nicht zu erkennen, aber eine Zigarette, die der Mann zwischen Finger seiner rechten Hand geklemmt hatte. So, erzählte B., habe es angefangen. Stunde um Stunde, Tag für Tag, bewegte er sich fortan durch die Stadt. Immer wieder entdecke er Spuren seltsamster Geschichten. Ich habe eine Tür geöffnet. — stop
in der paukenhöhle
delta : 7.10 — Es ist leicht, sich Zellkörper vorzustellen, die vorsichtig geöffnet wurden, um in sie hinein spähen zu können. Ich wünschte ihre Strukturen mit Namen bezeichnen zu können, mit Wortkörpern, die mir gefallen. Bereits die Anatomie der Ameisen Wort für Wort auszuweisen, wird einen langen poetischen Atem erfordern. Ich überlegte, wie sich afrikanische Menschen bald erheben werden, sie fordern, ihre uralten Sprachen in unsere humananatomische Nomenklatur einzuspeisen, nervus olimambo, der fortan unter dieser Bezeichnung menschliche Augenlider innervieren wird. Bald melden sich Bewohner Grönlands, sunnitische und schiitische Stämme, Indianer der wilden Wälder Papua Neuguineas. Sie alle haben den Wunsch, ihre Sprache, Wörter, ihre geistige Welt in der Vorstellung eines allgemein gültigen menschlichen Körpers zu hinterlassen. Das zuständige Büro der Uno hoch über dem East River, eine Behörde, Jahrzehnte nachdrücklicher Verhandlung in der Paukenhöhle. — stop
kleine anatomische geschichte
echo : 5.01 — Gestern ist mir wieder einmal etwa Seltsames mit mir selbst passiert. Ich beobachtete im Spiegel ein Augenlid, das flatterte. Ich war noch nicht lange wach gewesen. Als sich das Augenlid beruhigt hatte, bemerkte ich, dass auch ein kleiner Muskel an meiner linken Wange bebte und ich überlegte, welcher Muskel das genau sein könnte. In diesem Moment erinnerte ich mich an eine kleine Geschichte, die ich vor wenigen Jahren in einem Café erlebte. Eine Freundin saß mir gegenüber. Wir sprachen über dies und das. Plötzlich beschwerte sie sich, ich würde sie so seltsam ansehen. Tatsächlich hatte ich Bewegungen ihres Gesichtes beobachtet in den Momenten genau, da sie sprach oder lachte. Es war ein unwillkürlicher Blick unter die Haut gewesen, ein sozusagen anatomischer Blick, der sie irritierte, ohne zu wissen weshalb genau. Sie meinte, ich würde ihr nicht zuhören, sondern träumen. In diesem Moment wurde deutlich: Sobald ich einen Menschen in anatomischer Weise betrachte, wird mein Blick in den Augen des Betrachteten kein scharfer Blick sein, wie man vielleicht erwarten würde, sondern ein unscharfer Blick, eine Grenze überschreitend, phantasierend. — stop
robotslogfile
whiskey : 5.58 — Leroy schrieb mir einen Brief auf Papier. Er notierte: Lieber Louis, seit sechs Wochen nun bin ich online. Man kann mich lesen so oft und so lange man möchte, ohne einen Cent dafür bezahlen zu müssen. Das ist ein durchaus angenehmes Gefühl. Ich hatte dieses Gefühl so nicht erwartet. Manchmal sitze ich vor dem Bildschirm und beobachte meinen Text auf dem selben Weg, den auch andere nehmen, um mich lesen zu können. Ich bin begeistert davon, dass ich dem Text nicht anzusehen vermag, ob ihn gerade in diesem Moment andere Augen betrachten, weil es doch derselbe Text mit dem selben Ursprung ist. Ich werde noch dahinterkommen, bis dahin wundere ich mich weiter. Gestern war Singer zu Besuch, der sich auskennt in digitalen Dingen. Er fragte, ob ich ihm sagen könne, wie viele Menschen denn meine elektrischen Texte besuchten. Ich erzählte ihm, dass ich selbstverständlich Nachricht davon erhalten habe. Ich genieße, sagte ich, die Aufmerksamkeit einiger Leser in Island, Amerika, Togo, Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden, China, England, Frankreich, Marokko, Spanien. Manche kommen sehr häufig und lesen, sie kommen stündlich vorbei, auf die Sekunde genau, andere eher selten, als würde sie mich gelesen haben und sofort wieder vergessen. Ich holte uns am Kiosk eine Limonade, während Singer sich mit meinen Logfiles beschäftigte. Als ich zurückkam, hörte ich Singer lachen, in dem Moment genau, da ich die Tür öffnete, hörte ich Singer lachen. Dann hörte er auf, und wir sprachen über Kakteen und ihre Winterblüte, und dass er bald wieder für einige Monate nach Manarola reisen würde, wo es mild sei im Winter. Kurz darauf schlief ich ein. Ich erwachte vom Lärm vieler Stimmen. Auf der Straße liefen Menschen hin und her, es war früher Nachmittag, ich wusste, dass die Nacht für mich zu Ende war. Heute ist also Sonntag. Ich grüße Dich. Dein Leroy. — stop
regen
ulysses : 6.06 — Gestern Abend telefonierte ich mit einer Freundin. Sie hatte kurz zuvor geschrieben, Hochwasser habe den Keller ihres Hauses erreicht. Sie erzählte, das Wasser komme nun durch zwei kleine Löcher in Boden und Wand herein, 5 Liter in einer halben Stunde. Ich hörte ihre Stimme, erschöpft, müde, sie wolle sich einen Wecker stellen und jede halbe Stunde Wasser schöpfen. Eine harte Sache, die noch einen Tag und eine ganze Nacht so weitergehen könne. Während wir sprachen, war das Geräusch tropfenden Wassers im Hintergrund zu vernehmen, als würde meine Gesprächspartnerin in einer Höhle sitzen, in einer entfernten Zeit, auf dem Mond oder auf dem Mars. Als ich klein und sehr unerfahren gewesen war, hatte ich die Vorstellung, nach starkem Regen könnte das Wasser in Telefonleitungen dringen. Ich wunderte mich deshalb, dass das Telefonieren nach Gewitterregen noch funktionierte. Wenn ich dann etwas später durch den Garten spazierte, meinte ich zu beobachten, wie unsere Telefonleitungen aus dem Boden flüchteten. Sie hatten sich zu Teilen aufgelöst und schlängelten, hellrote, glänzende Würmer, durch das feuchte Gras. Ich konnte sie berühren, und wenn ich sie ihn meine Hände nahm, kitzelte es sehr angenehm auf den Handflächen. Einmal setzte ich eine flüchtende Telefonleitung in ein Marmeladeglas. Es waren ein gutes Dutzend Würmer gewesen, die sich um Ausgang bemühten. Ich beäugte sie lange Zeit, die Wände des Glases beschlugen rasch, so dass ich das Glas immer wieder öffnen musste. Wenn ich mein Ohr an den Behälter drückte, konnte ich sie hören, einen eigentümlichen Laut der Not, für dessen Beschreibung ich bisher kein Wort entdeckte. Damals nahm ich das Glas mit in mein Zimmer. Ich stellte es unter mein Bett. Am nächsten Morgen hatte ich seine Existenz vergessen. — stop
elisabeth
himalaya : 6.10 — Im Winter des vergangenen Jahres, an einem windig kalten Tag, besuchte ich in Brooklyn einen alten Herrn, Mr. Tomaszweska und seine Frau Elisabeth. Sie wohnen nahe der Clark Street in einem sechsstöckigen Haus mit Blick auf die Upper Bay von New York. Ich hatte den alten Mann während einer Fahrt auf einem Fährschiff zufällig kennengelernt. Er beobachtete wie ich Fahrgäste fotografierte, die ihre Namen heimlich in die hölzernen Sitzbänke des Schiffes ritzten. Er sprach mich freundlich an, wollte mir einen Schriftzug zeigen, den er selbst drei Jahrzehnte zuvor an Ort und Stelle in der gleichen Weise wie die beobachteten Passagiere eingetragen hatte. Stolz war der alte Mann gewesen. Wir führten ein kurzes Gespräch über die New Yorker Hafenbehörde, Eisenbahnen und Flugzeuge, weiß der Himmel, wie darauf gekommen waren. Als wir das Schiff verließen lud Mr. Tomaszweska mich ein, einmal zu ihm zu kommen, darum stieg ich nur wenige Tage später in den sechsten Stock des schmalen Hauses auf den Höhen Brooklyns. Die Tür zur Wohnung stand offen, warme Luft kam mir entgegen, die nach süßem Teig duftete, nach Zimt und Früchten. Die Räume hinter der Tür waren verdunkelt. Ich hatte sogleich den Eindruck, dass ich vielleicht träumte oder verrückt geworden sein könnte, weil in diesem Halbdunkel an den Wänden, auch auf dem Boden, Lampen, Diodenlichter, glühten. Modelleisenbahnzüge fuhren auf schmalen Geleisen herum. Ich höre noch jetzt das leise Pfeifen einer Dampflokomotive, das meinen Besuch begleitete. Es war eine rasende Zeit, Stunden des Staunens, da in der Wohnung des alten Herrn eine sehr besondere Modellanlage gastierte, ja, ich sollte sagen, dass die Wohnung selbst zur Anlage gehörte, wie der Himmel zur wirklichen Welt. Alle Züge fuhren automatisch von einem Computer gesteuert, die Luft über den Geleisen roch scharf nach Zinn. Wir sprachen indessen nicht viel, Mr. Tomaszweska und ich, sondern schauten dem Leben auf dem Boden in aller Stille zu. An einem Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren, saß Mr. Tomaszweska’s Frau Elisabeth. Sie beachtete mich nicht, starrte vielmehr lächelnd auf eine kleine Klappe, die in die Wand des Hauses eingelassen war. Manchmal öffnete sich die Klappe und ich konnte für Momente das Meer erkennen, das an diesem Tag von grüngrauer Farbe gewesen war, wunderbare Augenblicke, denn immer dann, wenn das Meer in dem kleinen Fenster erschien, lachte die alte Frau mit glockenheller Stimme auf, um kurz darauf wieder zu erstarren. Einmal setzte sich Mr. Tomaszweska neben seine Frau und fütterte sie mit warmem Orangenkuchen, den er selbst gebacken hatte. Und wie wir uns wieder auf den Boden setzten, um ein Modell des Orientexpress durch die Zimmer der Wohnung kreisen zu sehen, erzählt der alte Mann, dass sie gemeinsam hier oben sehr glücklich seien. Er könne mit seiner Frau zwar nicht mehr sprechen, er könne sie nur noch streicheln, was sie irgendwie verstehen würde oder sich erinnern an die Sprache seiner Hände. Verstehst Du, sagte er, sie vergisst immer sofort, alles vergisst sie, auch wer ich bin, aber sie vergisst niemals nach den kleinen Engeln zu sehen, die uns besuchen, sie kommen dort durch die Klappe, siehst Du, schau genau hin, es ist schon ein Wunder, sagte der alte Mann, wie schön sie lacht, mein junges Mädchen, nicht wahr, mein junges Mädchen. — stop
australien
olimambo : 3.26 — Im anatomischen Institut, unter dem Präpariersaal, befinden sich Arbeitsräume für Präparatoren, das sind kleinere Zimmer, in welchen metallene Tische stehen, helles Licht, sehr helles Licht, Lupenleuchten, Pinzetten, Skalpelle, Gefäße aller Art. Ich besuchte dort mehrere Male einen älteren Herrn, durfte ihm gegenüber Platz nehmen, beobachtete ihn bei der Arbeit an einem Herz, das vor uns auf dem Tisch ruhte. Ich erinnere mich noch gut an seine hellen, feingliedrigen Hände, wie sie rasend schnell Gewebe vom Herzkörper zupften. Der alte Mann war sehr erfahren in der Präparation, und er war schweigsam, also sprachen wir wenig. Gestern Abend habe ich an ihn gedacht, weil ich nach einem Telefongespräch eine Frage entdeckte, die ich nun gerne sofort an ihn richten würde, wenn ich nur wüsste, ob er noch existiert. Ich würde nämlich gerne erfahren, wie es möglich sein kann, das Skelett eines Menschen, der gerade erst gestorben ist, seinem Körper zu entnehmen und auf dem Luftpostweg von Australien nach Europa zu senden. Genau das ist nämlich vor nicht einmal einem halben Jahrhundert geschehen. Eine Freundin, die in Griechenland aufgewachsen war, eine Griechin also, erzählte mir gestern, sie habe in ihrer Schulzeit ein menschliches Skelett vor Augen gehabt, von dem sie wusste, dass es echt gewesen war, dass es zu einem Bürger der Stadt, in der sie lebte, gehörte. Dieser Mann war nach Australien ausgewandert, um vor der Armut und Hoffnungslosigkeit, in der er lebte, zu flüchten. Kaum in Australien angekommen, starb der Mann. Und weil er nichts weiter zu verschenken hatte, vermachte er sein Skelett der Schule seiner Stadt. Der Mann hieß mit Vornamen Teofanis, weshalb auch das Skelett diesen Namen trug. Teofanis kehrte also an den Ort zurück, an dem er geboren worden war, genauer sogar in das Klassenzimmer, in dem er seine Matura abgelegt hatte, um dort dauerhaft zu verweilen in einer feinen Geschichte, deren eigentliches Ende in der Zeit noch nicht abzusehen ist. — stop
mululela
bamako : 3.05 — Habe in den vergangenen Wochen verschiedene Wörterbücher untersucht, insbesondere jene Sammlungen, die im Hintergrund zahlreicher Texteditoren heimliche Arbeit verrichten. Es ist so, dass auf der Ebene der Sprachen, Nachtmenschen in einem Wort existieren, aber nicht Tagmenschen. Das Wort Tagmensch wird sofort als nichtkorrektes Wort ausgewiesen. Es scheint demzufolge für am Tage lebende Menschen möglich zu sein, andere, nämlich Menschen, die überwiegend in der Nachtzeit existieren, mit einem Wort zu kennzeichnen, während hingegen Nachtmenschen nicht möglich ist, jene Menschen, die die Nacht verschlafen, mit einem eindeutigen Wort zu bezeichnen. Das ist aus meiner Sicht zunächst seltsam, eine Übung, die sich vermutlich bald ändern wird, indem sich Lebensarten und Arbeitswelten der Menschen immer fort verdichten. — Flughafen. Leichter Schneefall. Es ist kurz vor drei Uhr. Eine riesige Antonow-Maschine rollt über das Flugfeld. Kein Laut zu hören vom Ungetüm, das doch fliegen kann. Wenigen Minuten zuvor erzählte mir Mululela, 24, Trainee aus Kamerun, dass sich das Leben in Deutschland doch sehr vom Leben in Afrika unterscheide. In ihrem Dorf, zum Beispiel, spaziere sie einfach los, wenn sie an jemanden denken würde, um diesen Menschen sofort zu besuchen. In Deutschland müsse man zunächst telefonieren, fragen, sich ankündigen. Überhaupt müsse man hier für alles, aber auch wirklich alles bezahlen, nur das Wasser in den Trinkbrunnen scheine kostenlos zu sein und die Luft zum atmen. Ganz sicher sei sie sich in dieser Sache aber nicht! — stop