Aus der Wörtersammlung: staten island

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hirnhummeltee

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echo

~ : malcolm
to : louis
sub­ject : HIRNHUMMELTEE
date : oct 8 13 6.11 p.m.

Am ach­ten Sep­tem­ber, es war ein Sonn­tag gewe­sen, ein war­mer, freund­li­cher Tag, erreich­te Fran­kie Bat­tery Park. Er hielt sich nicht lan­ge auf unter den Bäu­men, die sich bereits herbst­lich färb­ten, folg­te der Küs­ten­li­nie, um zwei Stun­den spä­ter das Schiffs­ter­mi­nal South Fer­ry zu errei­chen. Bis dahin hat­ten wir ver­mu­tet, Fran­kie sei ein scheu­es, ein men­schen­scheu­es Tier, doch gegen den Abend zu in der Däm­me­rung, wag­te sich das Eich­hörn­chen in den zen­tra­len Saal des Gebäu­des, in wel­chem hun­der­te Pas­sa­gie­re auf das nächs­te Schiff nach Sta­ten Island war­te­ten. Alli­son warn­te als Ers­te mit­tels eines Funk­spru­ches, Fran­kie könn­te viel­leicht eines der Fähr­schif­fe entern. Und genau­so war es gekom­men, das klei­ne, mus­ku­lö­se Tier has­te­te laut­los über den blitz­blan­ken Boden des Ter­mi­nals, duck­te sich unter Sitz­bän­ken, ver­barg sich in den Schat­ten des Abends, um von den Hun­den der Küs­ten­wa­che unbe­merkt, nur von eini­gen Kin­dern stau­nend betrach­tet, über den Steg an Bord der John F. Ken­ne­dy zu huschen. Hier befin­den wir uns zu die­sem Zeit­punkt. Es ist wie­der ein­mal Abend gewor­den, der drei­ßigs­te Tag, an dem Fran­kie auf dem Fähr­schiff über die Upper­bay pen­del­te, neigt sich dem Ende zu. Am Hori­zont, im Wes­ten, leuch­ten die Hafen­krä­ne New Jer­seys, sie blin­ken, mäch­ti­ge Eisen­vö­gel. Auf der Pro­me­na­de spa­zie­ren Men­schen mit Foto­ap­pa­ra­ten. Es ist ein schö­ner Spät­som­mer­abend. Seit vie­len Stun­den rollt ein Ball von einer Sei­te des Schif­fes zur ande­ren. Ich wer­de müde, indem ich ihm mit den Augen fol­ge. Nie­mand scheint sich an sei­ner Bewe­gung zu stö­ren, es ist so, als wür­de der Ball zum Schiff gehö­ren, als wür­de er schon seit vie­len Jah­ren über das Hur­ri­ka­ne­deck rol­len. Fran­kie schläft. Er ruht in einer Ret­tungs­wes­te, die unter einer Sitz­bank bau­melt. Die Wes­te schau­kelt im leich­ten See­gang hin und her. — Ihr Mal­colm / code­wort : hirnhummeltee 

emp­fan­gen am
8.10.2013
1871 zeichen

mal­colm to louis »

ping

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am Wasser

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gink­go : 2.08 — Eine Foto­gra­fie, die mich ges­tern Abend per Email erreich­te, zeigt eine älte­re Frau auf der Dach­ter­ras­se eines Hau­ses, das voll­stän­dig aus Holz zu bestehen scheint. Das Gebäu­de befin­det sich an der Küs­te des Atlan­tiks auf Sta­ten Island. Ein blü­hen­der Gar­ten umgibt das Anwe­sen weit­räu­mig, man kann das gut erken­nen, weil der Foto­graf zum Zwe­cke der Auf­nah­me auf einen höhe­ren Baum gestie­gen sein muss, im Hin­ter­grund das Del­ta des Lemon Creek, zwei schnee­wei­ße Segel­boo­te, die vor Anker lie­gen, und Schwä­ne, sowie ein paar ame­ri­ka­ni­sche Sil­ber­mö­wen, die sich zan­ken. Die Frau nun winkt mit ihrer lin­ken Hand zu dem Foto­gra­fen hin. Mit der andern Hand drückt sie ihren Som­mer­hut fest auf den Kopf, ver­mut­lich des­halb, weil an dem Tag der Auf­nah­me eine fri­sche Bri­se vom Meer her weh­te. Far­ben sind auf dem Schwarz­weiß­bild nur zu ver­mu­ten. Ich erin­ne­re mich jedoch, dass mir jemand erzähl­te, das Haus sei in einem leuch­ten­den Rot gestri­chen. Bei der Frau auf der Foto­gra­fie han­delt es sich übri­gens um Emi­ly im Alter von 62 Jah­ren. Ich kann das so genau sagen, weil in einer Notiz, die der Email bei­gefügt wur­de, ein Hin­weis zu fin­den war, eben auf Emi­ly, die sich im Moment der Belich­tung auf der Dach­ter­ras­se ihres Hau­ses damit beschäf­tig­te, eine Salz­wie­se anzu­le­gen: Das ist mei­ne Emi­ly als sie noch leb­te. Ein hei­ßer Tag. Wir waren von einem Spa­zier­gang zurück­ge­kom­men, hat­ten in Ufer­nä­he Salz­mie­ren, Strand­a­s­tern, Mit­tags­blu­men, Fuchs­schwän­ze, Blei­wurz und Was­ser­nüs­se gesam­melt. Am Nach­mit­tag mach­te sich Emi­ly an die Arbeit. Sie brach­te san­di­ge Erde auf ihren Blu­men­ti­schen aus, in wel­cher Lei­tun­gen für Flut, für Ebbe ver­bor­gen lagen. Sie war glück­lich gewe­sen, aber sie ahn­te bereits, dass das Was­ser stei­gen wird. Sie fürch­te­te sich vor den Win­ter­stür­men, ihren Namen, ihrer tosen­den Wild­heit. Am dem Abend, als ich die Auf­nah­me mach­te, sag­te Emi­ly, dass es selt­sam sei, sie habe das Gefühl, an einem Ort zu woh­nen, der eigent­lich schon dem Meer gehö­re. Dein S. — stop
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eine unerhörte geschichte

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alpha : 6.20 — Eine uner­hör­te Geschich­te soll am ver­gan­ge­nen Sams­tag­abend auf der Sta­ten Island Fäh­re MS John F. Ken­ne­dy ihren Aus­gang genom­men haben. Das Schiff war auf dem Weg zurück nach Man­hat­tan gewe­sen, als drei jun­ge Män­ner eine jun­ge Möwe lock­ten, und zwar mit hand­war­men Rosi­nen, die sie dem Tier, das auf einer Reling saß, vor die Füße war­fen, so dass es sich auf den Boden begab, wo es gefan­gen wer­den konn­te. Bei den jun­gen Män­nern han­del­te es sich um Timo­thy Waken, Bill L. Ander­son, sowie Max Aurel Ste­ven­son, alle drei leben in Brook­lyn von Kind­heit an. Sie waren wohl stolz auf ihr Han­deln gewe­sen, weil sie sich film­ten, wäh­rend sie das erschro­cke­ne Tier mit selt­sa­men Bäl­len zwangs­wei­se füt­ter­ten, Bäl­len, die prall mit Heli­um oder einem ande­ren leich­ten Gas gefüllt wor­den waren, wes­halb das Tier, als man es wie­der in die Frei­heit ent­ließ, wild zu schrei­en begann, ver­mut­lich des­halb, weil es bald bemerk­te, dass sich das Ver­hal­ten sei­nes Kör­pers in der Luft stark ver­än­dert hat­te. Die Möwe konn­te nicht mehr lan­den, immer wie­der fass­ten ihre Füße ins Lee­re, wenn sie nach der Reling der John F. Ken­ne­dy grei­fen woll­te. Einen Ver­such nach dem ande­ren unter­nahm die trau­ri­ge Krea­tur, bis sie im letz­ten Moment vor töd­li­cher Erschöp­fung doch noch erfolg­reich war. Nun aber muss­te sich die Möwe fest mit dem Schiff ver­bin­den, um nicht sofort wie­der auf­zu­stei­gen, ihr Bauch war rund, sie schien star­ke Schmer­zen zu haben und sich zu fürch­ten vor den jun­gen Män­nern, die sie film­ten, die ihr mit einem Schein­wer­fer ins Ant­litz leuch­te­ten. Die Möwe hat­te eine rosa Zun­ge, sie war zu die­sem Zeit­punkt die ein­zi­ge Möwe noch an Bord, alle ande­ren Tie­re waren west­wärts nach New Jer­sey geflüch­tet. Gegen 10 Uhr und drei­ßig Minu­ten, kurz bevor das Fähr­schiff Man­hat­tan erreich­te, ver­lie­ßen die Möwe ihre Kräf­te. Mit einem lei­sen, ver­zwei­fel­ten Ton lös­te sie sich vom Schiff. Sie war so schwach, dass sie die Flü­gel hän­gen ließ und lang­sam, wie ein Zep­pe­lin den Bat­tery Park in 25 Fuß Höhe durch­quer­te. Ein leich­ter Wind trieb das Tier die Sixth Ave­nue nord­wärts, wo es mehr­fach von Zeu­gen gesich­tet wur­de, ent­we­der von den Fens­tern der Wohn­häu­ser aus oder vom Boden her. Kurz vor Mit­ter­nacht wur­de die Feu­er­wa­che nahe Washing­ton Squa­re Park alar­miert. Dort genau, in die­sem Park, wur­de die Möwe schließ­lich vom Him­mel geholt. Behut­sam wur­de das Tier in den Arm genom­men. Es hat­te die Augen geschlos­sen und war voll­stän­dig stumm. — stop

polaroidzimmerlicht

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josephine auf der si mary murray

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tan­go : 6.34 — Ist das nicht eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung, wie sich Jose­phi­ne an einem war­men Sams­tag­vor­mit­tag auf den Weg macht nach New Jer­sey, um das Wrack der MS Mary Mur­ray zu besich­ti­gen? Wie sie ein Taxi ordert. Wie der Fah­rer erzählt, dass er noch nie eine so wei­te Fahrt unter­nom­men habe im Auf­trag. Eigent­lich dür­fe er mit sei­nem Wagen die Stadt nicht ver­las­sen. Also stei­gen sie in Jose­phi­nes Auto um, einen uralten Buick, der seit über einem Jahr­zehnt nicht aus der Gara­ge bewegt wor­den war. Sie neh­men die Ver­raza­no-Nar­rows Bridge süd­wärts. Jose­phi­ne raucht schon lan­ge nicht mehr, aber heu­te macht sie eine Aus­nah­me, eine. Ihr dün­nes wei­ßes Haar, das im Wind flat­tert, fängt sie mit wen­di­gen Fin­gern wie­der ein. Sie trägt Turn­schu­he und ein oran­ge­far­be­nes som­mer­li­ches Kleid. Die Haut ihrer Bei­ne, Arme, Schul­tern ist hell wie ihr Haar. Eine Stun­de rau­schen sie wort­los auf dem New Jer­sey Turn­pi­ke dahin. Nahe Free­holf hal­ten sie an. Gleich neben dem High­way bewegt sich ein Fluss, dunk­les, müdes Was­ser, lang­sam. Am Ufer war­tet ein jun­ger, bär­ti­ger Mann in einem Pad­del­boot von leuch­tend roter Far­be. Wie Jose­phi­ne sich in die­sem Augen­blick wünscht, foto­gra­fiert zu wer­den, wie sie sich in das Boot setzt, wie sie ihren Stroh­hut mit bei­den Hän­den zurecht­rückt, dann fah­ren sie los unter mäch­ti­gen Brü­cken hin­durch in Rich­tung des Rarit­an­flus­ses. Möwen ste­hen im bra­cki­gen Was­ser. Es ist fast still, nur das Geräusch des Pad­dels, ein paar Flie­gen brum­men durch die Luft. Ein­mal nähert sich ein Hub­schrau­ber der Küs­ten­wa­che, dreht wie­der ab. Und plötz­lich ist sie zu sehen, eine Fata Mor­ga­na in der Land­schaft, das aus­ran­gier­te gewal­ti­ge Fähr­schiff der Sta­ten Island Flot­te, die MS Mary Mur­ray. Schlag­sei­te steu­er­bords ruht sie in einem Bett von Schilf, Libel­len schie­ßen hin und her, blaue und grü­ne rie­si­ge Tie­re. Wie sich Jose­phi­ne und der jun­ge Mann dem Schiffs­wrack vor­sich­tig nähern. Wie der jun­ge Mann eine Lei­ter am Rumpf des Schif­fes befes­tigt. Wir sehen der alten Dame zu, wie sie vor­sich­tig Spros­se um Spros­se erklimmt. Ihr behut­sa­mer Gang über das Deck, das sich neigt. Jetzt, da die Far­ben vom Schiffs­kör­per fal­len, von Stür­men und Regen gepeitscht, von der Son­ne gebrannt, kann man das höl­zer­ne Herz der alten Flot­ten­da­me erken­nen, Käfer und Amei­sen spa­zie­ren über die Sitz­bän­ke der Pro­me­na­de. Jose­phi­ne muss nicht lan­ge suchen, im Schat­ten einer Ulme, die sich über das Schiff zu beu­gen scheint, eine Sitz­bank, hier genau, ja, hier genau muss die Schrift ihrer Schwes­ter Geral­di­ne zu ent­de­cken sein, ein Satz nur, den das klei­ne Mäd­chen im Jahr 1952 an einem Som­mer­nach­mit­tag auf dem Weg von Man­hat­tan nach Sta­ten Island in das Holz der Bank geritzt hat­te, wäh­rend ihre Zwil­lings­schwes­ter Char­lot­te sie vor Ent­de­ckung schütz­te. Wie Jose­phi­nes zit­tern­de Fin­ger in die­sem Augen­blick über die Ver­tie­fung der Zei­chen fah­ren. — stop

jose­phi­ne

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schneeechsen

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ulys­ses : 6.55 — Im Traum spa­zie­re ich die win­ter­li­che Küs­te der Sta­ten Island Insel ent­lang. San­di­ger Boden, Strand, der unter mei­nen Füßen knis­tert. Es ist sehr kalt, der Schnee in der Nähe des Was­sers geschmol­zen, land­ein­wärts aber türmt er sich, Wehen, die Kie­fern­bäu­me, die gan­ze Häu­ser ver­schlu­cken. An mei­ner Sei­te wan­dert eine alte, hoch­ge­wach­se­ne Frau. Sie erzählt in rasen­der Geschwin­dig­keit eine Geschich­te, die ich nicht wirk­lich wahr­neh­men kann, weil ich ihre Spra­che nicht ver­ste­he. Aber das scheint die alte Frau nicht wei­ter zu küm­mern, viel­leicht erzählt sie nur des­halb unent­wegt vor sich her, damit ich ihre Stim­me hören kann und sie in der Dun­kel­heit nicht ver­lie­re. Tat­säch­lich ist fast licht­lo­se Nacht, nur ein hal­ber Mond und ein paar grö­ße­re Schif­fe weit drau­ßen, die in Rich­tung des offe­nen Atlan­tiks fah­ren. Ich erin­ne­re mich, dass die alte Frau eine Pelz­müt­ze und einen Pelz­man­tel trägt, som­mer­li­che Schu­he, Sport­schu­he, und kei­ner­lei Strümp­fe. Um sie her­um flit­zen Eidech­sen, sie schei­nen ihr zu fol­gen, weiss sind sie wie der Schnee, aus dem sie gekom­men sind. Wenn ich mich bücke kom­men sie neu­gie­rig näher, Ich kann sie auf­he­ben, ich kann sie zer­bre­chen, sie tra­gen schnee­weis­se Zun­gen in ihren klei­nen Mün­dern und sie fau­chen und tau­en, sobald ich sie in mei­ne Hosen­ta­sche ste­cke. In die­sem Moment mei­ne ich, die alte Frau mit einem Namen ange­spro­chen zu haben, an den ich mich nicht erin­nern kann. Ein­mal bleibt sie ste­hen, kau­ert sich auf den Boden, singt lei­se eine Melo­die vor sich hin, der Faden ihrer Stim­me wird sicht­bar in der fros­ti­gen Luft. Jetzt hebt sie Stei­ne aus dem Sand, schich­tet sie über­ein­an­der, so dass sie Tür­me bil­den, die sich in der Dun­kel­heit wie Wäch­ter­we­sen, wie Mah­nen­de beneh­men. Ein hell beleuch­te­tes Fähr­schiff fährt dicht am Ufer ent­lang. Ich sehe Men­schen, die tan­zen. Das Schiff wird von wei­te­ren Men­schen gezo­gen, die im eis­kal­ten Was­ser schwim­men. — stop 

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hurricane

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char­lie

~ : louis
to : dai­sy und vio­let hilton
sub­ject : HURRICANE

Es wird Win­ter, nicht wahr, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, es wird Win­ter. Habe Pull­over, Män­tel, Hand­schu­he, Hüte, Schals auf mein Bett gebrei­tet, alles ist jetzt geprüft, ich bin gerüs­tet. Nicht viel ist zu erzäh­len zur Zeit, viel­leicht dass ich ges­tern am spä­ten Abend die Lek­tü­re eines Romans von Ray Lori­ga auf­ge­nom­men habe, der von der Erfin­dung Man­hat­tans han­deln soll, ein ange­nehm leicht­fü­ßig erzähl­ter Text. Wäh­rend ich las, erin­ner­te ich mich an ein Gespräch, das ich mit einem Matro­sen der Sta­ten Island Fäh­ren noch im Janu­ar führ­te. Er berich­te­te, wie er mit einem der Schif­fe, es war die Andrew J. Bar­be­ri gewe­sen, den Hud­son auf­wärts fuhr, um das Schiff vor dem Hur­ri­kan Ire­ne in Sicher­heit zu brin­gen. Es sei eine unheim­li­che Rei­se gewe­sen, Not­be­leuch­tung an Bord, Möwen waren mit strom­auf­wärts gefah­ren, unbe­wegt saßen sie auf den Hand­läu­fen der Reling, hun­der­te Vögel, als hät­ten sie das Flie­gen ver­lernt. Ein Lot­se, nicht der Kapi­tän, führ­te Kom­man­do über das Schiff. Er selbst habe sich zum ers­ten Mal in sei­nem Leben land­ein­wärts von der Küs­te fort­be­wegt. Ich erin­ne­re mich gern an die­sen klei­nen Mann, der in Brook­lyn groß gewor­den war. Manch­mal trug er eine blin­ken­de Kopf­be­de­ckung, die den Strah­len­rin­gen der Frei­heits­sta­tue nach­emp­fun­den wor­den war. Heu­te, an die­sem Abend, wird er viel­leicht wie­der unter­wegs sein mit sei­nem Schiff den Hud­son auf­wärts, es geht nun um San­dy, und es geht um Barack Oba­ma. Ich fra­ge mich, lie­be Dai­sy, lie­be Vio­let, wen, wenn ihr noch in heim­li­chen Wahl­re­gis­tern ver­zeich­net sein soll­tet, wür­det Ihr wäh­len? Euer Lou­is, sehr herz­lich, wünscht eine gute Nacht!

ps. Mr. Sal­ter hat sei­ne Dro­hung nun wahr gemacht. Im Hof, ver­packt in meh­re­re Kis­ten, war­tet das Eisen­bahn­ab­teil eines Pull­mann­wa­gens dar­auf aus­ge­packt, und in mei­ner Woh­nung mon­tiert zu wer­den. Es ist angeb­lich mög­lich, dass ich mich in das Abteil setz­ten und dort arbei­ten könn­te. Land­schaf­ten, die ich frei wäh­len kann, sol­len an Fens­tern vor­über­zie­hen. Stim­men sind zu hören, das ist sicher, Stim­men aus Nach­bar­ab­tei­len, die nicht exis­tie­ren. Und die Bewe­gung eines wirk­li­chen Zuges unter mei­nen Hän­den. — stop

gesen­det am
28.10.2012
5.16 MEZ
2145 zeichen

lou­is to dai­sy and violet »

MELDUNGEN / ENDE

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korallenbäume

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oli­mam­bo : 7.15 — Ver­gan­ge­ne Nacht Fred Wes­ley im Traum. Wir fuh­ren auf einer Sta­ten Island Fäh­re über die Upper Bay zu New York. Ich glau­be, es war die Samu­el I. New­house gewe­sen. Fred Wes­ley bot einen merk­wür­di­gen Anblick. Sei­ne Ohren waren von dem Mate­ri­al einer Posau­ne, auch unter der Haut sei­ner Stirn und sei­ner Wan­gen schim­mer­te es bereits metal­len. Er schlief so fest, dass ich ihn nicht wecken konn­te. Papa­gei­en flat­ter­ten auf dem Schiffs­deck her­um. Sie stürz­ten auf jeden der Rei­sen­den los, sobald er sich erhe­ben woll­te. Ein älte­rer Mann und ein Jun­ge saßen gleich gegen­über. Der Mann, viel­leicht der Groß­va­ter des Jun­gen, ritz­te Schrift­zei­chen mit einem Mes­ser in das Holz einer Sitz­bank. Drau­ßen über dem Meer, Däm­me­rung. Ein Kano­nen­boot der US Coast Guard beglei­te­te das Schiff. Ich spür­te, dass aus mei­nem Hals Kie­men gewach­sen waren, Koral­len­bäu­me. Ein viel­schich­ti­ges Pfei­fen war zu hören gewe­sen, indem ich atme­te. Davon wach­te ich auf. stop. Nichts wei­ter. — stop

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bewegung

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nord­pol : 0.28 — Wie Peter Bich­sel vor Jah­ren in einer Film­do­ku­men­ta­ti­on von einem Zustand der Bewe­gung berich­te­te, der für ihn zum Schrei­ben hilf­reich sei. Fah­ren. Rei­sen. Der Schrift­stel­ler saß, indem er das erzähl­te, in einem Wagon der Schwei­zer Bun­des­bahn, Land­schaft mit Bäu­men schweb­te hin­ter dem Fens­ter vor­bei, und ich mei­ne, mich rich­tig zu erin­nern, wenn sich das Gesicht des Dich­ters in der Schei­be spie­gel­te. Immer wie­der ein­mal hab ich an die­se Situa­ti­on gedacht, ges­tern zuletzt, weil ich bemerk­te, dass mir in die­sen Tagen die Stun­den des Schrei­bens auf der Sta­ten Island Fäh­re feh­len, Stun­den bemer­kens­wer­ter Beweg­lich­keit in mei­nen Gedan­ken. Nicht allein die gleich­mä­ßi­ge Bewe­gung des Schif­fes, scheint eine selt­sa­me Öff­nung mei­ner Gedan­ken bewirkt zu haben, oder der Blick auf das Meer, die Sil­hou­et­te Brook­lyns, den Hafen New Jer­seys, sei­ne Krä­ne, die wie Stor­chen­vö­gel am Hori­zont zu sehen sind, in mei­nem Fall waren es die Men­schen, ihre Gesich­ter, Stim­men, Bewe­gun­gen, Gerü­che, Hüte, Tele­fo­ne, Schu­he, Taschen, Gesprä­che, die mich mit Span­nung einer­seits und inne­rer Ruhe ander­seits ver­sorg­ten. Ich ahne, ich ver­mag in der Umge­bung zahl­rei­cher Men­schen, die sich nicht wei­ter um mich küm­mern, sehr lan­ge Zei­ten und weit geöff­net still zu sit­zen. Mei­ne Augen spa­zie­ren her­um und mei­ne Ohren, mein Schreib­ge­hirn aber scheint indes­sen in eine ganz ande­re Rich­tung zu schau­en. War­um das so ist, weiß ich nicht. – Ein stil­les Gebet seit Tagen.

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seltsame geschichte

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india : 5.56 — Seit eini­gen Tagen ereig­nen sich in oder in der Umge­bung mei­ner Schreib­ma­schi­ne kurio­se Din­ge. Es geht dar­um, dass ein Text, den ich am Mon­tag notier­te, sich immer dann, wenn ich schla­fe, ver­än­dert und zwar zu sei­nem Nach­teil. Feh­ler­haf­te Wör­ter, die ich bereits kor­ri­gier­te, keh­ren wie­der oder ich ent­de­cke voll­stän­dig neu­ar­ti­ge Miss­bil­dun­gen, ver­dreh­te Buch­sta­ben, Wort­er­fin­dun­gen, Punk­te oder Kom­ma­ta ver­schwin­den, aus der Far­be ROT wird die Far­be BLAU, aus Schnee wird Regen, aus Kin­dern wer­den Grei­se. Es ist eine eigen­ar­ti­ge Situa­ti­on, ich geste­he, ich begin­ne mich zu fürch­ten. Selbst­ver­ständ­lich habe ich mir die Fra­ge gestellt, ob sich viel­leicht ein wei­te­rer Mensch, den ich bis­lang noch nicht ent­deck­te, in mei­ner Woh­nung befin­det, oder ob ich viel­leicht selbst schlaf­wan­delnd mich an mei­ne Schreib­ma­schi­ne set­ze. In die­sem Zusam­men­hang könn­te die unheim­lichs­te Aus­sicht der Gedan­ke sein, dass mei­ne Schreib­ma­schi­ne selbst oder gar der Text an sich, machen was sie wol­len. Von Außen jeden­falls ist ihm nicht anzu­se­hen, ob irgend­et­was mit ihm nicht in Ord­nung sein könn­te. Zur Prü­fung, der Text beginnt so: Der Rasen in Zyp’s Gar­ten war ein Tep­pich von Moos, auf dem immer irgend­et­was blüh­te. Selbst in den kal­ten Mona­ten des Win­ters, wenn es schnei­te, wenn das Eis an die Küs­te schin­del­te, glaub­te Zyp Wes­ley, die Geräu­sche des Wach­sens und Ver­ge­hens zu hören aus dem unsicht­ba­ren Raum unter dem Weiß. Er ver­füg­te über ein her­vor­ra­gen­des Gehör, obwohl er seit Jah­ren Posau­ne spiel­te, wohn­te des­halb etwas abseits. Das nächs­te Haus, indem eine Fami­lie mit Kin­dern sie­del­te, war etwa zwei­hun­dert Meter weit ent­fernt, hin­ter einer Anhö­he pas­sier­ten die Gelei­se der Sta­ten Island Rail sei­ne Gegend. Man konn­te von dort das Schep­pern der Sub­way­zü­ge lei­se hören bei Tag und bei Nacht. – stop
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fährschiff john f. kennedy : armzungen

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del­ta : 0.08 — Eine klei­ne Geschich­te habe ich rasch noch zu erzäh­len. Sie ver­fügt über kaum Hand­lung, eine Geschich­te, die sich im Grun­de Tag für Tag auf einem Fähr­schiff der Sta­ten Island Fäh­ren­flot­te wie­der­ho­len könn­te. Auf die­sem Schiff, das den Namen John F. Ken­ne­dys trägt, befin­det sich in der Mit­te des Bridge­decks hin­ter einem Tre­sen ein klei­nes Laden­ge­schäft, das der Ver­sor­gung der Rei­sen­den dient, ein Ort, der leuch­tet und blinkt, ein Ort, der nach Pop­corn duf­tet, nach Kaf­fee, nach gebra­te­nem Schin­ken und nach wei­te­ren Sub­stan­zen, die ich bis­lang nicht iden­ti­fi­zie­ren konn­te. Obst, Scho­ko­la­de, Coo­kies, Bon­bons, auch Stra­ßen­plä­ne Man­hat­tans, Feu­er­zeu­ge, Coca Cola, Zucker­was­ser in ver­schie­dens­ten Far­ben, Nüs­se, gerös­te­te Man­deln, was ich wäh­le, was ich wün­sche bekom­me ich von einem Mann aus­ge­hän­digt, der sei­ner Erschei­nung nach in Mexi­co oder Nica­ra­gua gebo­ren wor­den sein könn­te. Sein stoi­scher Aus­druck ist mir sofort auf­ge­fal­len, lan­ge Zeit habe ich ihn beob­ach­tet, die­ses Gesicht, das wirk­te, als wür­de es eine aus Tro­pen­holz geschnitz­te, eine auf das Sorg­fäl­tigs­te bemal­te Mas­ke tra­gen, dar­in Augen, dunk­le, schim­mern­de Knöp­fe. Die Stim­me des Man­nes, die sich dort irgend­wo befin­den muss, habe ich bis­her nie gehört. Und ich habe nie gese­hen, dass er sich von sei­nem Platz fort­be­weg­te, er steht senk­recht hin­ter sei­ner Ware, ein Monu­ment, das über sehr schnel­le, sehr lan­ge Arme ver­fügt, ja, es sind die Arme, das ein­zi­ge was sich an die­sem Mann bewegt sind sei­ne Arme, die­se Arme sind Hand­lung, sie sind eine Geschich­te, sie sind erstaun­lich, weil sie in der Geschwin­dig­keit der Cha­mä­le­on­zun­gen nach Waren grei­fen. Ein­mal habe ich einen der Foto­ap­pa­rat gekauft, die der Mann in sei­nem Sor­ti­ment für Tou­ris­ten bereit­hält. Der Appa­rat kos­te­te sechs Dol­lar und der Film 8 Dol­lar. Das ist ein wirk­lich alt­mo­di­scher Film, einer, den man, um sei­ne Bil­der betrach­ten zu kön­nen, ent­wi­ckeln muss. Ich habe den Mann nun mit genau die­sem Foto­ap­pa­rat foto­gra­fiert. Ich glau­be, der Mann freu­te sich über mei­ne Ges­te. Er schien unter der Mas­ke sei­nes Gesich­tes zu lächeln. Viel­leicht ahn­te er zu die­sem Zeit­punkt, dass ich ein­mal nach­se­hen wer­de, ob er lächel­te, ein Geschenk für die Zukunft. Ende der Geschich­te. — stop