Aus der Wörtersammlung: stimme

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auf der roseninsel

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india : 5.15 — Ich habe etwas Lus­ti­ges geträumt. War nachts mit einem Zug nach Pos­sen­ho­fen gefah­ren. Ein har­ter Win­ter, ich schlen­der­te am Ufer des Starn­ber­ger Sees. Man­schet­ten von Eis umsäum­ten Stei­ne und Höl­zer, die im Nied­rig­was­ser sicht­bar gewor­den waren. Ich erin­ne­re mich, dass ich ver­such­te Wör­ter zu fin­den für Geräu­sche, die mei­ne Schrit­te auf dem gefro­re­nen Boden erzeug­ten. Ich hat­te viel Zeit, ich war auf dem Weg zur Rosen­in­sel. Eich­hörn­chen flitz­ten durchs Unter­holz, auf Bän­ken, wel­che ich pas­sier­te, saßen gefro­re­ne Men­schen, das war selt­sam, weil sie alle lächel­ten, als wäre das Erfrie­ren ein ange­neh­mer Vor­gang gewe­sen. Außer­dem konn­ten sie lei­se spre­chen. Wenn ich ihnen eine Fra­ge stell­te, näm­lich, ob ich auf dem rich­ti­gen Weg zur Rosen­in­sel sei, ant­wor­te­ten sie, ja ja, ihre Stim­men kamen aus den Ohren der gefro­re­nen Gestal­ten her­aus, sodass ich den Ein­druck hat­te, in den mensch­li­chen Kör­pern wür­den wei­te­re Kör­per sit­zen. Auch Fische spa­zier­ten im Traum her­um, auf Füs­sen, an wel­chen sie Wan­der­schu­he tru­gen. Dann war ich irgend­wann ange­kom­men und war­te­te am Ufer, ob mich jemand holen wür­de. Das Was­ser an die­ser Stel­le leuch­te­te, ein Licht, das sich beweg­te. Plötz­lich tauch­te ein klei­nes U‑Boot aus dem Was­ser. Es hat­te die Form einer Zigar­re und war durch­sich­tig und kam sehr nah an das Ufer her­an. Eine Luke öff­ne­te sich. Robert De Niro wink­te und er sag­te, ich sol­le zu ihm ins Boot stei­gen. Wir tauch­ten dann rüber zur Insel, es war Tag als wir ange­kom­men waren, Som­mer. Auf einer Bank saß mein Vater, er las in einer Zei­tung. Hier, in sei­ner Nähe, wach­te ich auf, weil mein Wecker klin­gel­te. Ich nahm den Wecker in die Hand, und als ich drei Stun­den spä­ter wie­der ein­mal wach gewor­den war, hat­te ich den Wecker noch immer der Hand, so wie es sein muss, mit den Weckern, wenn man sie träumt. — stop

polaroidwolken

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daniel pearl

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nord­pol : 6.22 — In weni­gen Tagen wer­de ich die Woh­nung, in der ich lan­ge Zeit leb­te, ver­las­sen, um in eine ande­re, grö­ße­re Woh­nung zu zie­hen. Es wird eine Woh­nung unter dem Dach sein, ver­mut­lich wer­de ich Tau­ben hören, wie sie über mir plau­dernd spa­zie­ren. Ich habe erfah­ren, dass Tau­ben­paa­re auch nachts mit­ein­an­der spre­chen, wäh­rend ande­re Vögel still oder stumm zu sein schei­nen. Aber viel­leicht zwit­schern die­se Vögel, die nicht Tau­ben sind, doch, wenn sie träu­men. Es ist selt­sam, wie ein Frem­der füh­le ich mich nach und nach, wenn ich mich in mei­ner eige­nen Woh­nung bewe­ge. Ich über­leg­te, wer in weni­gen Wochen hier von einem Zim­mer in ein ande­res Zim­mer lau­fen wird. Die­ser Mensch oder die­se Men­schen wer­den zunächst kei­ne Ahnung haben, kei­ne Vor­stel­lung, sagen wir, wer vor ihnen in die­sen Räu­men wohn­te. Es ist denk­bar, dass sie viel­leicht mei­ne Nach­barn fra­gen wer­den. Ich könn­te eine Foto­gra­fie mit mei­nem Namen und einer Bot­schaft hin­ter­las­sen: Hal­lo, hier wohn­te Lou­is, hier an die­ser Stel­le stand mein Schreib­tisch, hier habe ich Tex­te notiert. In einem Win­ter vor lan­ger Zeit, ich ahn­te nicht, dass ich die­se mei­ne Woh­nung ein­mal auf­ge­ben wür­de, hat­te ich die Zeit ver­ges­sen. Ich schrieb Fol­gen­des: Was haben wir heu­te eigent­lich für einen Tag, Sonn­tag viel­leicht, oder Mon­tag? Abend jeden­falls, einen schwie­ri­gen Abend. Wür­de ich aus mei­ner Haut fah­ren, sagen wir, oder mit einem Auge mei­nen Kör­per ver­las­sen und etwas in der Zeit zurück­rei­sen, dann könn­te ich mich selbst beob­ach­ten, einen Mann, der gegen sechs Uhr in der Küche steht und spricht. Der Mann spricht mit sich selbst, wäh­rend er Tee zube­rei­tet, er sagt: Heu­te machen wir das, heu­te ist es rich­tig. Ein Bün­del von Melis­se zieht durchs hei­ße, sam­tig flim­mern­de Was­ser. Jetzt trägt er sei­ne damp­fen­de Tas­se durch den Flur ins Arbeits­zim­mer, schal­tet den Bild­schirm an, sitzt auf einem Gar­ten­stuhl vor dem Schreib­tisch und arbei­tet sich durch elek­tri­sche Ord­ner in die Tie­fe. Dann steht der Mann, er steht zwei Meter vom Bild­schirm ent­fernt, ein Mensch kniet dort auf dem Boden, ein Mensch, der sich fürch­tet. Da ist eine Stim­me. Eine schril­le Stim­me spricht schep­pernd Sät­ze in ara­bi­scher Spra­che, uner­träg­lich die­se Töne, sodass der Mann vor dem Schreib­tisch einen Schritt zurück­tritt. Er scheint sich zur Betrach­tung zu zwin­gen. Zwei Fin­ger der rech­ten Hand bil­den einen Ring. Er hält ihn vor sein lin­kes Auge, das ande­re Auge geschlos­sen, und sieht hin­durch. So ver­harrt er, leicht vor­ge­beugt, bewe­gungs­los, zwei Minu­ten, drei Minu­ten. Ein­mal ist sein Atmen hef­tig zu hören. Kurz dar­auf steht er wie­der in der Küche, lehnt mit dem Rücken am Kühl­schrank, denkt, dass es schneit und spürt eine Unru­he, die lan­ge Zeit in die­ser Hef­tig­keit nicht wahr­zu­neh­men gewe­sen war. Ein Mensch, Dani­el Pearl, wur­de zur Ansicht getö­tet. – Was machen wir jetzt? - stop

ping

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chile

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echo : 6.05 — Der Spatz, der ges­tern Nach­mit­tag auf dem Brett vor dem Fens­ter saß, war ein küh­ler Vogel gewe­sen. Von der Käl­te der Luft so lang­sam gewor­den, konn­te ich ihn ohne Gegen­wehr in mei­ne Hän­de neh­men. Drau­ßen ist es jetzt schon lan­ge dun­kel gewor­den. Der klei­ne Vogel kau­ert in der Nähe der Hei­zung in einem Körb­chen auf einem Tuch und scheint zu schla­fen. Ich fra­ge mich, wie er den Novem­ber, den Dezem­ber, den Janu­ar über­le­ben konn­te. Es ist über­haupt seit län­ge­rer Zeit der ers­te Spatz, der mir begeg­net. Wenn ich dar­über nach­den­ke, weiß ich nicht ein­mal mehr, über wel­che Stim­me Spat­zen oder Sper­lin­ge gebie­ten. Ich höre hier in der Stadt im Som­mer noch das sir­ren­de Gespräch der Schwal­ben und im Win­ter das Gur­ren der Tau­ben vom Dach her und mor­gens ein­sa­me Amseln sin­gen. Die Stim­men der Sper­lin­ge aber sind ver­lo­ren gegan­gen. Gera­de noch habe ich in den Brief­mar­ken­samm­lun­gen mei­nes Vaters geblät­tert, die zu einer Zeit ange­legt wor­den waren, als in Mit­tel­eu­ro­pa noch Wol­ken von Spat­zen durch die Gär­ten wir­bel­ten. Es ist ein eigen­tüm­li­cher Geruch, der von den Alben aus­geht, lan­ge wur­den sie nicht geöff­net. Auch Brie­fe sind dort archi­viert, kost­ba­re Schrift­stü­cke einer Zeit, da mein Vater noch lan­ge nicht exis­tier­te. In die­ser Minu­te erin­ne­re ich mich an einen beson­de­ren Brief, den ich vor Jah­ren ein­mal auf mei­nem Schreib­tisch gefun­den hat­te, ich berich­te­te bereits, es war ein Luft­post­brief. Als ich das Cou­vert des Brie­fes genau­er betrach­te­te, das heißt, als ich den Brief so nahe an mei­ne Augen her­an­führ­te, dass ich die Stem­pel­ein­trä­ge sei­ner Anschrif­ten­sei­te ent­zif­fern konn­te, bemerk­te ich, dass der Luft­post­brief bereits vor lan­ger Zeit in Euro­pa auf­ge­ge­ben und über den Atlan­tik geflo­gen wor­den war. In Sant­ia­go de Chi­le dann ange­kom­men, konn­te der Brief nicht zuge­stellt wer­den, ver­mut­lich weil die Zei­chen, die den Brief beschrif­te­ten, kaum zu ent­zif­fern gewe­sen waren. Nach eini­gen Wochen War­te­zeit, reis­te der Brief, nun mar­kiert mit einem Schild­chen in blau­er, spa­ni­scher Far­be: Impo­si­ble de ent­re­gar! *, über den Atlan­tik zurück, um sich nur weni­ge Tage spä­ter erneut auf den Weg über das Meer nach Chi­le zu bege­ben. Ein wei­te­rer Schrift­zug war hin­zu­ge­kom­men, ein fei­ner, aber groß­zü­gi­ger Stem­pel­auf­druck: -Die­se Sen­dung wur­de von einem Blin­den geschrie­ben!- Zwei fri­sche Wert­mar­ken, nichts sonst ver­än­dert. Und so mach­te sich der Brief bald dar­auf ein vier­tes Mal auf den Weg über das Meer wie­der nach Euro­pa zurück und lan­de­te, weiß der Him­mel, war­um, in mei­ner Nähe, in der Nähe mei­ner Schreib­ma­schi­ne.- stop

* Nicht zustellbar

polaroidlouisa

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schwäne

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sier­ra : 6.26 — Beob­ach­tung in die­ser Nacht, eine Wie­der­ho­lung, dass sich in der Welt mei­ner Vor­stel­lung, die Zeit ohne Aus­nah­me in eine Rich­tung zu bewe­gen scheint. Sobald ich mich an einen Ort zurück­ver­set­ze oder mich mit einem Ereig­nis ver­bin­de, mich also erin­ne­re, an einen August­tag am Starn­ber­ger See bei­spiels­wei­se, bewe­ge ich mich als klei­ner, von der Son­ne gebräun­ter Jun­ge unver­züg­lich vor­wärts wei­ter. Auch alle Schwä­ne bewe­gen sich vor­wärts wei­ter, Flie­gen, Stim­men, Wel­len, Som­mer­fä­den. Es sind in mei­ner erin­nern­den Arbeit stets nur sprung­haf­te Bewe­gun­gen in der Zeit mög­lich, als wür­de der Raum, der zwi­schen bei­den vor­ge­stell­ten Zeit­or­ten liegt, nicht exis­tie­ren. — stop

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jamaica

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echo : 20.26 — Ich will von einem Mann erzäh­len, der mir in einem Sub­way­wa­gon auf der Fahrt von der Lex­ing­ton Ave­nue nach Jamai­ca begeg­net war. Er trug, obwohl es im Abteil sehr warm gewe­sen war, Hand­schu­he an bei­den Hän­den. Das waren recht merk­wür­di­ge Hand­schu­he, denn die Dau­men des Man­nes wur­den von Schnü­ren, die an den Fäust­lin­gen befes­tigt waren, ins Inne­re der Hand gezo­gen. Fin­ger umschlos­sen sie fest, auch sie waren mit­tels Schnur­wer­kes gefes­selt. Man könn­te sagen, dass die Hand­schu­he, die der Mann trug, sei­ne Hän­de bän­dig­ten, indem sie Fäus­te form­ten. So, gefes­selt, saß der Mann wäh­rend der lan­gen Fahrt vor mir und nick­te. Er betrach­te­te sei­ne Hän­de, wie mir schien, mit zärt­li­cher Auf­merk­sam­keit, in der Art und Wei­se der Lie­ben­den viel­leicht, wenn ein Blick nachts heim­lich einen schla­fen­den Mund umschmei­chelt. Ich ver­such­te zu arbei­ten, konn­te mich aber nicht kon­zen­trie­ren. Nach eini­ger Zeit frag­te ich den Mann, ob er denn etwas in Hän­den hiel­te, etwas, das viel­leicht flüch­ten könn­te, wenn er sei­ne Hän­de öff­ne­te. Das schien nicht der Fall zu sein, weil der Mann sei­nen Kopf schüt­tel­te und lach­te, ohne indes­sen mit mir ein Gespräch auf­neh­men zu wol­len. Ich war­te­te also eini­ge Zeit, sah aus dem Fens­ter, spä­te Flug­zeu­ge, eine Ket­te von Lich­tern, näher­te sich dem Flug­ha­fen. Und da war mein müdes Gesicht im Spie­gel der Schei­be. Und dann wie­der der Mann und sei­ne Hän­de, die auf sei­nen Schen­keln lagen. Sie drü­cken die Dau­men, sag­te ich, ist das mög­lich? Der Mann lach­te jetzt. Er schien zu über­le­gen, dann ant­wor­te­te er mit lei­ser Stim­me, die in dem schep­pern­den Lärm des Sub­way­wa­gons kaum noch zu hören war, dass ein Pro­blem sei, dass er nicht wis­se, wie er sei­ne Fäust­lin­ge für das Wün­schen bei Nacht, ohne die Hil­fe eines wei­te­ren Men­schen anle­gen könn­te. Der lin­ke der Hand­schu­he war im Übri­gen von gel­ber, der rech­te von blau­er Far­be. — stop

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radio

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kili­man­dscha­ro : 2.12 — Es ist jetzt kurz nach 2 Uhr. Seit einer hal­ben Stun­de schaue ich aus dem Fens­ter. Angeb­lich soll die Raum­sta­ti­on ISS soeben den Him­mel über mir pas­sie­ren. Ich suche ver­geb­lich. Wol­ken ver­sper­ren die Sicht, auch ist die Stadt viel zu hell, um das For­schungs­schiff erken­nen zu kön­nen. Trotz­dem schaue ich nach oben und freue mich. Vor­hin habe ich noch einen Text notiert, der von einem alten Radio han­delt, das von einem Tisch fällt, weil es Maceo Par­ker spiel­te. Gera­de noch recht­zei­tig, ehe es den Boden erreich­te, wur­de es auf­ge­fan­gen, um kurz dar­auf auf dem Tisch fest­ge­klebt zu wer­den. Das Radio war eines gewe­sen, wie ich es frü­her ein­mal hat­te, ein Radio mit einem elek­tri­schen Auge. Sobald ich auf einen Knopf drück­te, glüh­te das Auge zunächst däm­mernd, dann leuch­te­te das Auge grün wie das Was­ser eines Berg­sees und ich hör­te selt­sa­me Stim­men und Rau­schen und Pfei­fen. Das Radio war ein sehr gutes Radio. Es exis­tier­te seit dem Jah­re 1952, war also viel älter als ich selbst und muss­te nie zur Repa­ra­tur gebracht wer­den. Nur ein­mal hüpf­te eine Tas­te her­aus und das Radio sah fort­an aus, als habe es einen Zahn ver­lo­ren. An einem sehr hei­ßen Juli­tag des Jah­res 1974 saß ich gera­de vor dem Radio ohne Zahn, als gemel­det wur­de, Fall­schirm­jä­ger sei­en über Zypern abge­sprun­gen. Von einem Kon­flikt war die Rede und das Auge des Radi­os leuch­te­te dazu und die Mem­bran sei­nes Laut­spre­chers zit­ter­te. Ich erin­ne­re mich, dass ich dach­te, dass nun Krieg sei, ein wirk­li­cher Krieg, der ers­te Kriegs­be­ginn, den ich als Wel­len­emp­fän­ger mit­er­leb­te. Spä­ter ver­schwand das alte Radio und ich bekam ein neu­es Radio. Die­ses Radio konn­te Geräu­sche spei­chern, und so spei­cher­te ich Geräu­sche, sin­gen­de Frö­sche viel­leicht, oder mei­ne Stim­me, die mich befrem­de­te, die nie mei­ne eige­ne Stim­me gewe­sen war, son­dern immer die Stim­me eines ande­ren, der ähn­li­che Din­ge sag­te. Bald mach­te ich mit einer wei­te­ren Maschi­ne Fil­me, nein, ich zeich­ne­te Fil­me auf ein Band, den Film der Stadt Bag­dad an einem Vor­kriegs­mor­gen zum Bei­spiel. Die Son­ne strahl­te vom Him­mel, und ein Vogel, der nicht zu sehen war, zwit­scher­te. Viel­leicht saß der Vogel auf einer gepan­zer­ten Kame­ra, die das Bild der leuch­ten­den Stadt zu mir hin über­trug. Die­ser Vogel war noch Radio gewe­sen. — stop
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von den eisbriefen

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kili­man­dscha­ro : 6.28 — Für ein oder zwei Minu­ten war ich wild ent­schlos­sen gewe­sen, ein Grün­der zu wer­den, und zwar ges­tern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Brief­kas­ten gelau­fen, der nicht weit ent­fernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befes­tigt ist. Ein Eich­hörn­chen, natür­lich, beglei­te­te mich. Es war sehr kalt, und plötz­lich habe ich wahr­ge­nom­men, dass ich, wenn es mir mög­lich wäre, gern Brie­fe von Eis ver­schi­cken wür­de, hauch­dün­ne Blät­ter gefro­re­nen Was­sers, die man in küh­len­de Kuverts ste­cken und in alle Welt ver­schi­cken könn­te. Eine wun­der­ba­re Vor­stel­lung nach­ge­ra­de, wie ein Mensch, dem ich einen Eis­brief gesen­det habe, in der Küche vor sei­nem Eis­schrank sitzt und mei­nen Brief für Sekun­den stu­diert, um ihn dann rasch wie­der in die Käl­te zurück­zu­le­gen, damit er nicht ver­schwin­det in der war­men Luft. Ich soll­te also bald ein­mal jene beson­de­ren Eis­pa­pie­re, ihre Fabri­ken und Läden erfin­den, und Kuverts, und Brief­käs­ten, die wie Kühl­schrän­ke funk­tio­nie­ren. Wo man die Brie­fe sor­tiert, in einem Post­amt, wür­de man in tief­ge­kühl­ten Räu­men arbei­ten, und alle die­se Auto­mo­bi­le, nicht wahr, die ver­eis­te Brief­wa­re über das Land beför­dern. Ein Unter­neh­men die­ser Art, wäre eine wirk­li­che Her­aus­for­de­rung, eine gute und sehr ver­rück­te Sache, so dach­te ich am gest­ri­gen Abend. Kaum war ich wie­der in mei­ne Woh­nung zurück­ge­kehrt, war aus der Grün­der­zeit bereits eine Erfin­der­zeit gewor­den. Und wie ich in die­sem Augen­blick vol­ler Freu­de im pola­ren Zim­mer vor mei­nem Schreib­tisch sit­ze, damp­fen­der Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hör­ba­ren Pfei­fen Zei­chen in schim­mern­de Eis­pa­pier­bö­gen fräst. Ich schrei­be: Mein lie­ber Theo­dor, ich woll­te Dir schon lan­ge ein­mal einen Eis­brief notie­ren. Hier nun, wie ver­spro­chen, ist er end­lich bei Dir ange­kom­men. Ich hof­fe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir auf­ge­schrie­ben habe, dass ich näm­lich den Wunsch habe, bald ein­mal zwei oder drei Tage zu schwei­gen, um den Kopf­stim­men stum­mer Men­schen nach­zu­spü­ren. Ich könn­te mich kurz vor Beginn mei­ner Stil­le ver­ab­schie­den von Freun­den: Bin tele­fo­nisch nicht erreich­bar! Oder einen Notiz­block besor­gen, um Fra­gen für den All­tag zu ver­zeich­nen, sagen wir so: Füh­ren sie in ihrem Sor­ti­ment Hör­ge­rä­te für Engel­we­sen fin­ger­groß? Eine Kärt­chen­samm­lung zu erwar­ten­der Wie­der­ho­lungs­sät­ze wei­ter­hin: Habe vor­über­ge­hend mein Ton­ver­mö­gen ver­lo­ren! – Es ist eine ange­neh­me Nacht, lie­ber Theo­dor. Ich erin­ner­te einen Satz René Chars, den er in sei­ner Gedicht­samm­lung »Lob einer Ver­däch­ti­gen” notier­te. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangs­ar­ten mit dem Leben: ent­we­der man träu­me es oder man erfül­le es. In bei­den Fäl­len sei man rich­tungs­los unter dem Sturz des Tages, und grob behan­delt, Sei­den­herz mit Herz ohne Sturm­glo­cke. Dein Lou­is, ganz herz­lich! — stop

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wenedikt jerofejew : die reise nach petuschki

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sier­ra : 22.01 – Unter den Büchern, die bei mir woh­nen, fin­det sich eines, das von einem gro­ßen rus­si­schen Erzäh­ler geschrie­ben wur­de, von Wene­dikt Jero­fe­jew, der nicht mehr unter uns Leben­den weilt, Alko­hol hat ihn umge­bracht oder er sich selbst oder wie auch immer. Sein Buch berich­tet die Rei­se eines Trin­kers vom Kurs­ker Bahn­hof zu Mos­kau nach Petusch­ki, einem rus­si­schen Städt­chen drau­ßen in der Wei­te. Eine Höl­len­fahrt, ein Buch, das ich nie­mals auf­ge­ben wer­de, ein Gespräch mit Engeln: War­um hast Du alles aus­ge­trun­ken, Wen­ja! – Von Zeit zu Zeit trag ich das Bänd­chen in mei­nen Hän­den, schau hin­ein, lese Wör­ter und Sät­ze, aber ich habe die Geschich­te nie bis zu ihrem letz­ten Satz gele­sen, kann nicht genau sagen, war­um das so ist. Viel­leicht wün­sche ich ins­ge­heim, dass das Buch kein Ende fin­den möge. Es ist kein umfang­rei­ches Buch, nein, nein, 170 Sei­ten, und sein Rücken zer­schlis­sen, sodass ich manch­mal näher­tre­ten und nach ihm suchen muss. Gele­gent­lich, als Wene­dikt Jero­fe­jew noch unter uns war, hat­te ich mir vor­ge­stellt, wie ich ihn ein­mal besu­chen wür­de, wie ich vor sei­nem höl­zer­nen Haus auf einer Trep­pe sit­zend war­te, wie er auf mich zukommt, wie ich sei­ne Hand neh­me, wie ich das zit­tern­de Feu­er sei­ner Lebens­höl­le spü­re, wie ich zu ihm sage: Wen­ja, mein lie­ber Wen­ja, lies mir vor! Und wie wir dann auf einer Trep­pe in der Son­ne sit­zen, Flie­gen tan­zen über unse­ren Köp­fen, sei­ne Stim­me: Lou­is, hör zu! – Alle sagen, – der Kreml, der Kreml. Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein ein­zi­ges Mal gese­hen. Wie vie­le Male schon habe ich im Rausch oder danach mit brum­men­dem Schä­del Mos­kau durch­quert, von Nor­den nach Süden, von Wes­ten nach Osten, aufs Gera­te­wohl, von einem Ende zum ande­ren, aber den Kreml habe ich kein ein­zi­ges Mal gese­hen. — stop

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schallplatte

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del­ta : 3.58 — Ich stell­te mir eine Schall­plat­te vor, eine Schall­plat­te von 200 Metern Durch­mes­ser, eine Ton­spur von 100 Jah­ren Dau­er. Was könn­te auf die­ser Schall­plat­te ver­zeich­net sein? Die Geräu­sche einer Lich­tung des Ama­zo­nas Regen­wal­des viel­leicht? Oder eine mensch­li­che Stim­me, alle jene Wör­ter eines Lebens, auch in Träu­men gespro­che­ne Wör­ter. Das Schrei­en eines Kin­des. Das Selbst­ge­spräch einer uralten Frau? — stop

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uhrenwesen

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sier­ra : 6.33 — Im Traum saß ich ein­mal in einem Zug in nächs­ter Nähe eines Man­nes und wun­der­te mich, weil ich ein merk­wür­di­ges, ein san­dig wis­pern­des Geräusch ver­nahm, das von dem Mann aus­zu­ge­hen schien. Er schlief tief und fest, erwach­te auch dann nicht, als ich mich über ihn beug­te und in eine der Taschen sei­nes Man­tels späh­te. Die Tasche war gefüllt mit Arm­band­uh­ren. Als ich eine der Uhren her­aus­nahm, ruh­te sie warm in mei­ner Hand. Ich leg­te ein Ohr an den Kör­per der Uhr und hör­te das Herz der Uhr lei­se schla­gen und eine hel­le Stim­me noch, die Sekun­den zähl­te. — stop
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