alpha : 4.32 — Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich vor zwei Jahren mit einem Bekannten führte, der lange Zeit in Ägypten lebte, genauer in Kairo am Nil. Er wurde in der alten, riesigen Stadt geboren, vor einem halben Jahrhundert. Ich hatte von unserem Gespräch bereits erzählt. Immer, wenn ich ihn seither getroffen hatte, stellte ich ihm Fragen: Warst Du zu Hause im Sommer? Wie geht es Deiner Familie? Was kostet ein Hotelzimmer in Kairo in sicherer Lage? Ich bemerkte, dass Belem sich über meine Fragen freute, aber er antwortete nur selten präzise, er sagte immer wieder, dass es eine Frage des Respekts sei, dass man irgendwie lernen müsse, gemeinsam zu arbeiten und zu leben. Viele Menschen seien arm, das sei das größte Problem, sie könnten nicht lesen und schreiben. Einmal fragte ich, ob er bereit wäre, einen kleinen Text aus der arabischen Sprache für mich zu übersetzen, einen Twitterbrief, den ich nicht lesen konnte. Aber das wollte Belem nicht, er schien sich in diesem Moment vor mir oder den Zeilen, die ich auf ein Stück Papier gedruckt hatte, zu fürchten. — Montag. Seit Stunden komme ich nicht weiter in der Lektüre digitaler Nachrichten aus Kairo. Ich versuche, zu verstehen. Es sind sehr seltsame Texte, die mir Übersetzungsmaschinen liefern, Bruchstücke, Ahnungen, Wortsand: Gott Ylankwa auf der Erde und im Himmel ein Fluch und Fluch ya Welad El Bhaim o oberste Karte Hunde vor Aiallk Einak Ahan fühlen Sodbrennen Herz Eltern und alle da Les Ahan Schafe Iowa euch haben tatsächlich Amorphophallus Rivieri CDDA Schafe ich Worte von Beleidigung und defekt, aber nach Li da Sie lip Tstahlwa schmutzigsten Beleidigung in Alashan Antua eigentlich Schafe und Hunde und Sklaven und Amrkwa welche Hatbkowa brauchen euch eine Betharbwa Alhan Cuesh Religion und nicht in die Heimat Euch Betharbwa Alhan 7tt jeder Hund und Ely ist Mursi nicht beigelegt. Mursi da wenn Ragel harte Masche 7tt Khrong wurde das Blut Division zu halten oder sogar mindestens seiner Familie und seinen Clan aber Lebensdauer Staaten Khainin Brüdern und beide Alaikum Ya Ya Welad Hunde Hunde / Und Gott Staatssicherheit haben sie Gnade, die uns von DVD Elly Zico Btalwa verließ die Sicherheit des Staates und die Herstellung da Rettung, welche Bektosh kennen sie lachen über Leute und Leute ich Tani Les ein Raza Ullah Einwohner in Sidi Gaber in der elften Runde ihre Brüder Embareh Æøáúæç Úáì Ãç Íþæã Èå Architektur und schlagen den Portier und sie in ihrer Wohnung waren und eine Stimme hörte zu mir sprechen und ich traf den Schuss und Aialha Horror und weinte und floh die besetzten Oberfläche Btaa Architektur, und Violine von Atrmi wurde die Violine ein Verbrecher und Embareh führen den Sicherheitsstatus / Erste Bewertungen über den Stausee ist klar, dass Kinder nicht müssen manuelle Illustrator Gabe Architektur der Eingang Portal Teilnehmer arbeiten und mehr Menschen sind entweder Kinder, ihre Eltern-Wächter, die nur Sie der Stausee-Entwicklung herausnehmen, aber sie Menschen, die sie benötigen sind, um Schutz gegen unsere Herrn sagen Ahan Mikhlinash Brüder hasste Sie jeden Bedarf wir sagen ganz klar die Szene zu einem meiner Brüder ist Bdkon NAS Keteer sehr Pädagogen Dkonhm Ägyptens und Familien starrte ist rührend, meine Brüder und Les in eine feste Schiene Und sie nehmen ihre Mode Welaikh und Gentleman und Menschen Wakhdinha das Alter des Propheten Christian Lehman Daqqoun Kinder-und Jugendsport halten Masche einer Bank, es nicht Brüder, ist vorausgesetzt die Tahrir Daqqoun Kteer waren die Rebellen, nicht Brüder natürlich sage ich allen mein Ziel, dass alle Medien benötigten zu Fuß und wir sahen, Schließung des Auges Ehna Lina in ich weggelassen Z Mabenshov CBC tagsüber DreamWorks benötigt, finden Sie unter Nile News und Arabisch und Al-Jazeera siehe Entwarnung Notwendigkeit gezeigt Nicht alle Kanäle Valfol Wahrheit und Bedauern-Verlängerung. — stop
Aus der Wörtersammlung: viele
ai : MEXIKO
MENSCHEN IN GEFAHR : “Die Menschenrechtsorganisation Artículo 19 hat einen anonymen Drohbrief erhalten. Die Organisation setzt sich für das Recht der freien Meinungsäußerung ein und hat ihr Büro in der Hauptstadt Mexiko-Stadt. / Am 19. April war ein Brief an der Haustür des Büros von Artículo 19 gefunden worden. Der Brief war an den Leiter der Organisation, Darío Ramírez, sowie die restlichen Mitarbeiter von Artículo 19 gerichtet: “Kleiner verdammter Chef… Du Stricher hast keine Ahnung, mit wem du es zu tun hast… Wollen wir mal sehen, ob dein Herz nicht auf einmal aufhört zu schlagen. Zu viel beschissene Freiheit. Mal sehen, wie Macho du bist, wenn wir dich und deine kleinen Scheißer wirklich kaltgemacht haben… Wir beobachten euch ganz genau… Ihr wisst, wer wir sind und dass wir das durchzuziehen können” (Pinche jefesito pendejo…eres un puto que no sabes con quien te estas metiendo…A ver si con una madrisa no se te para el corazon. Mucha puta libertad verdad. A ver que ten verga eres cuando termines tu y tus putitos bien puteados…Estamos viendote y bien cerca…Sabes quienes somos y que si lo podemos ahcer [sic]). / Artículo 19 hat wegen der Drohung Anzeige bei den städtischen Behörden erstattet. Die Organisation fordert, dass die Schutzmaßnahmen, die für Journalisten und Menschenrechtsverteidiger eingerichtet wurden, auch für Darío Ramírez und die Mitglieder von Artículo 19 Anwendung finden. Die städtischen Behörden haben auf der Grundlage einer Schutzanordnung der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt (Comisión de Derechos Humanos del Distrito Federal) Polizeistreifen eingesetzt. / Artículo 19, der Leiter und die Mitglieder der Organisation haben entschieden, ihre Arbeit, die Freiheit der Meinungsäußerung in Mexiko zu dokumentieren, zu verteidigen und zu fördern, fortzusetzen. Artículo 19 hat viele Fälle dokumentiert, in denen JournalistInnen im ganzen Land angegriffen und/oder bedroht werden und in denen die Behörden keine effektiven Untersuchungen durchgeführt und somit die Sicherheit von JournalistInnen nicht sichergestellt haben.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 5. Juni 2013 hinaus, unter »> ai : urgent action
mr. charles brown
sierra : 6.28 — Mitten in der Nacht entdecke ich, dass Charles Brown tatsächlich existierte. Er war Engländer gewesen, sammelte Uhren und trug diese Uhren am eigenen Körper. Nicht etwa eine Uhr nach der anderen Uhr, wie man meinen möchte, vielmehr einige Uhren oder sehr viele Uhren zur gleichen Zeit. Ich bin natürlich äußerst begeistert, öffne zunächst das Fenster, lass frische Luft in die Wohnung, kehre vor den Bildschirm zurück, er ist immer doch da, Mr. Charles Brown oder ein Mann, der vorgab, Mr. Charles Brown gewesen zu sein, ein Mann, der Uhren sammelte, der Uhren beobachtete. Er soll Uhren an seinen Fingern getragen haben, Uhren am Revers, Uhren in der Gestalt von Manschettenknöpfen. Ich stelle mir vor, dass ein feines Zeitrauschen von ihm ausgegangen sein muss. Ist es nicht wunderbar, stundenlang an ein Geräusch wie dieses Rauschen der Zeit zu denken? — 3 Uhr und 10 Minuten. Ich habe heute nichts weiter zu tun, als wach zu bleiben, bis es hell werden wird. — stop / ps. Bemerkt zunächst bei Peter Glaser
ein leises pfeifen
bamako : 2.25 — Eine kurdische Freundin alevitischen Glaubens erzählte mir eine Geschichte, die eigentlich keine Geschichte ist, sondern ein Bericht, weil sie persönlich mehrfach erleben musste, wie ihre Tochter eine Freundin mit nach Hause brachte, eine junge Kurdin sunnitischen Glaubens, die zwar mit der Tochter Zeit verbringen, aber nicht mit der Familie essen wollte, weil sie fürchtete, vielleicht vergiftet zu werden. Ich beobachtete einen tiefen Schmerz in den Augen meiner Freundin, während sie erzählte, und auch Zorn und Enttäuschung. Sie erklärte: Das sind die Eltern, die ihre Kinder impfen. Wir Aleviten sind gefährliche Leute, verstehst Du, wir sind lebensgefährliche Leute. Ich fürchte, das alles geht ein Leben lang nicht mehr aus den armen Kinderseelen raus! – Es ist jetzt 0 Uhr und 55 Minuten. Nicht wahr, das ist eine wirklich merkwürdige Begebenheit, die ich in dieser Nacht notiere, um sie nicht zu vergessen. Überhaupt vergesse ich zurzeit recht viel. Vor einigen Tagen, während ich mit einer weiteren Freundin telefonierte, machte ich eine kurze Pause, um Kaffee zu kochen. Ich bat meine Freundin in der Leitung zu bleiben und stand also in der Küche und erhitzte das Wasser, als eine Taube auf dem Fensterbrett landete. Immer, wenn ich eine Taube sehe, denke ich an Wolfgang Koeppen. Ich habe Wolfgang Koeppen einmal in München in einem Kino beobachtet, einen gebückt gehenden, alten Mann mit Brille, der sich sehr langsam bewegte. Niemand schien ihn erkannt zu haben, worüber ich mich damals wunderte. Ich erinnere mich genau, ich wunderte mich viele Tage lang und überlegte, ob ich Wolfgang Koeppen nicht einen Brief schreiben sollte, um ihm zu erzählen, dass ich ihn gesehen habe, im Kino und dass ich mich darüber sehr freute. Plötzlich hörte ich vom Tisch her, auf dem mein Telefon lag, ein leises Pfeifen. Das Pfeifen kam tatsächlich aus dem kleinen Apparat heraus. Als ich das Telefon anhob, wurde das Pfeifen lauter und lauter, und meine Freundin erzählte nur Sekunden später, sie habe nicht mehr daran geglaubt, dass ich sie noch hören würde oder mich an sie erinnern. Sie habe meine Schritte deutlich gehört, außerdem soll ich mit mir selbst gesprochen haben. – stop
von der freiheit der maria
victor : 6.28 — Jeden Samstag kam Maria ins Café Gazette. Wenn Mittwoch war, konnte man sie im Hemingways besuchen, einem heruntergekommenen Laden in der Nähe des Hauptbahnhofes. Montags saß sie in der Bar-Celona. An Dienstagen und Freitagen war sie mal da und mal dort, und am Donnerstag ging sie ins Kino. Es war immer dasselbe, die kleine Frau, deren Alter niemand zu bestimmen wusste, kam herein, setzte sich an einen freien Tisch, oder wartete so lange im Stehen, bis ein Tisch freigeworden war, um sofort mit ihrer Arbeit zu beginnen. Sie bedeckte den Tisch, an dem sie Platz genommen hatte, mit weißen Papieren in unterschiedlichen Größen, holte aus einem Kofferwagen, der ihr ständiger Begleiter war, kräftige Filzstifte und begann zu malen. Wer sie einmal genau beobachtet hatte, wird vielleicht bemerkt haben, dass sie bei Eintritt in das Café oder die Bar, mit einem scheuen Blick alle anwesenden Menschen wahrgenommen oder in sich aufgenommen hatte, um sie nun zu porträtieren, einen Menschen nach dem anderen Menschen, auch dann, wenn sie den Ort längst verlassen hatten. Maria malte langsam, sie malte wie ein Kind, manchmal biss sie sich auf die Zunge. Sie war eine sehr stille, eine stumme Frau, und ihr Gesicht vom Leben ohne Obdach gezeichnet. Sie hatte einen Buckel, der mit den Jahren zu wachsen schien und sie immer weiter gegen den Boden drängte. Viele Menschen kannten sie. Vielleicht kann man sagen, dass es sich bei Maria um eine Ikone der Stadt handelte, sie lachte niemals, aber alle Menschen auf ihren Bildern lachten. Alle sahen sie aus wie Maria, ihre Gesichter genau genommen, Augen, Nase, Mund, aber die Haare waren andere Haare, auch die Farben der Hemden, Pullover, Krawatten, Blusen, waren genau jener Sekundenwirklichkeit entnommen, da Maria von der Straße hereingekommen war. Ja, sie malte langsam, und wenn es einmal sehr still war, konnte man die Geräusche ihrer Werkzeuge deutlich hören. Sobald Maria alle Menschen porträtiert hatte, erhob sie sich und ging von Tisch zu Tisch, um ihre kleinen, wertvollen Malereien zu verkaufen. Sie verlangte nie mehr als 1 Deutsche Mark. Im Laufe der Jahre kaufte ich immer wieder einmal eines ihrer Bilder, also Maria und mich, mal mit kurzen, mal mit längeren Haaren. Da war der Sommer der weißen Hemden und dort der Sommer der blauen Hemden. Einmal, es war Winter gewesen, trugen wir einen Hut. – stop
eine funkuhr
sierra : 7.01 — Wenige Stunden nachdem mein Vater im April des vergangenen Jahres gestorben war, überreichte mir meine Mutter eine Uhr. Sie sagte, ich, der älteste Sohn der Familie, solle sie tragen. Vielleicht meinte sie, ich solle die Uhr meines Vaters bewahren und damit die Zeit meines Vaters behüten. Ja, genau so könnte das gewesen sein, denn die kleinen und die großen Uhren der Menschen, die gestorben sind, bleiben nicht sofort stehen, auch die Uhr meines Vaters, die ich in diesem Moment an meinem linken Unterarm trage, zeigt unermüdlich weiter die vorrückende Zeit. Sie knistert, wenn ich sie an mein Ohr lege. Das Geräusch ist so leise, dass ich nicht sagen kann, ob das Werk der Uhr knistert oder mein Ohr in der Begegnung mit dem kühlen Gehäuse. Viele Tage und Wochen lang habe ich die Uhr meines Vaters nicht getragen, sie ruhte auf meinem Schreibtisch. Manchmal, indem ich sie beobachtete, hatte ich den Eindruck, sie warte. Immer wieder einmal hob ich sie in die Luft, um die genaue, die wirkliche Zeit angezeigt zu bekommen. Bei der Uhr meines Vaters handelt es sich nämlich um eine Funkuhr, die zu jeder Zeit auf die Sekunde genau die allgemeingültige Zeit anzuzeigen vermag. Ihr Zifferblatt ist übersichtlich gestaltet, ein großer Kreis für Halbtageszeit und kleiner Kreis in der unteren Hälfte, in dem der Sekundenzeiger sich um Minutenzeit fortbewegt. Diese Uhr und ihre drei Zeiger ist nun meine Uhr. Am vergangenen Sonntag setzte ich mich mit ihr auf mein Sofa. Es war kurz vor zwei Uhr zur Nachtzeit. Um genau zwei Uhr beschleunigte der Minutenzeiger wie von Geisterhand, drehte sich schnell einmal im Kreis herum, dann war Sommer geworden, ein seltsamer Moment, weil ich für einen Augenblick den Eindruck hatte, mein Vater selbst bewegte den Zeiger der Uhr, die seine letzte gewesen ist, weil er auf mich und meine Zeit achtet. — Gestern habe ich mir einen Hut gekauft. — stop
seegras
sierra : 5.22 — Im Traum hatte ich an jeder Hand ungefähr einhundert Finger. Meine geträumten Finger, jeder für sich, waren sehr dünn. Ich wollte mit meiner linken Hand zählen, wie viele Finger sich an meiner rechten Hand exakt befanden. Ich legte deshalb die rechte Hand auf den Tisch und näherte mich mit der linken, aber ich konnte keinen Finger meiner linken Hand exakt mit meinen Gedanken finden, um mittels eines weiteren linken Fingers, die Finger meiner rechten Hand für Zählung zu sortieren. Auch die Finger der rechten Hand ließen sich nicht ansprechen, sie machten, was sie wollten, sie bewegten sich unter meinem Atem wie Seegras in Strömung nahe Ufer. — stop
konzert für posaune
lima : 2.12 — Vor wenigen Stunden, am späten Nachmittag, wurden in der Chambers Street 155, dritter Stock, zwei Sauerstoffflaschen für den Transport in Richtung der Lexington Avenue vorbereitet. Es handelte sich um zwei schlanke, metallene Behälter von je 12 Kilogramm Gewicht. Sie schimmerten sehr schön im Licht der tief stehenden Sonne, die durch die Fenster eines exquisiten Ladens strahlte, in dem man Zubehör für Taucher und andere Wassermenschen erwerben kann, seefeste Bücher, schwebende Stühle und Tische, Kiemenvögel, Prachtschnecken, Leuchtmollusken und viele weitere Gegenstände, die man sich vielleicht wünschen wird, wenn man es mit einer dauerhaften Existenz im oder unter dem Wasser zu tun haben würde. Nun waren an den Sauerstoff bewahrenden Behältern je zwei besondere Vorrichtungen zu vermerken, Propeller oder etwas Ähnliches, die sich zur Probe mit einem hellen Sausen so schnell drehten, dass man sie in der Luft nicht sehen, aber spüren konnte. Vier Angestellte des kleinen Ladens prüften sehr sorgfältig eine halbe Stunde lang die Funktionstüchtigkeit der Apparaturen, dann montierten sie zwei metallene Schläuche, an welchen sich Mundstücke befanden, die den Mundstücken der Trompeten ähnelten. Denkbar, dass jene beobachteten Sauerstoffflaschen durch das Wasser schweben werden, während man etwas Luft von ihnen nippen könnte. Meine besondere Aufmerksamkeit aber galt einem Zettel, der dem Transport beigefügt worden war. Dort war vermerkt, dass die Behälter am späten Abend mittels eines Taxitransfers an Mrs. Sünja Täppinnen ausgeliefert werden sollten, wohnhaft in der Lexington Avenue 1285, wie bereits erwähnt, 14. Etage. Ursächlich für die Bestellung könnte ein Unterwasserjazzkonzert gewesen sein, das genau in diesen Minuten, da ich meine Nachricht notiere, zur Aufführung kommen wird. Es ist nun alles, auch wirklich alles möglich, was man sich denken kann in dieser schönen Winternacht. — stop
erzählende physik eines fallendes radios
sierra : 6.32 — Von der Berechnung des Luftwiderstandes, dem ein Körper begegnet, wenn er sich im freien Fall befindet, wusste ich bis kurz nach Mitternacht nichts. Auch die Berechnung der wachsenden Geschwindigkeit, mit der sich ein stürzender Körper dem Erdmittelpunkt nähert, war mir bisher nicht möglich, weil ich noch nie gut gewesen bin in der Mathematik der Physik. Ich habe also nachgelesen und bin in dieser Lektüre auf einen wunderbaren Text gestoßen, den der Philosoph Lukrez bereits im Jahr 55 vor Christus notiert haben soll. Er schreibt: Wer nun etwa vermeint, die schwereren Körper, die senkrecht rascher im Leeren versinken, vermöchten von oben zu fallen auf die leichteren Körper und dadurch die Stöße bewirken, die zu erregen vermögen die schöpferisch tätigen Kräfte: Der entfernt sich gar weit von dem richtigen Wege der Wahrheit. Denn was immer im Wasser herabfällt oder im Luftreich, muss, je schwerer es ist, umso mehr sein Fallen beeilen, deshalb, weil die Natur des Gewässers und leichteren Luftreichs nicht in der nämlichen Weise den Fall zu verzögern imstand ist, sondern im Kampfe besiegt vor dem Schwereren schneller zurückweicht: Dahingegen vermöchte das Leere sich niemals und nirgends wider irgendein Ding als Halt entgegenzustellen, sondern es weicht ihm beständig, wie seine Natur es erfordert. Deshalb müssen die Körper mit gleicher Geschwindigkeit alle trotz ungleichem Gewicht durch das ruhende Leere sich stürzen. — Eine weitere Stunde später hatte ich eine recht präzise Vorstellung von der Beschleunigung, die ein Transistorradio erfährt, wenn es aus 1,60 Meter Höhe von einem Bartisch aus zu Boden fällt. Das ist eine wichtige Erfahrung, um eine Geschichte erzählen zu können, die sich dem Verhalten eines fallenden Radios gemäß entwickeln könnte. Weil sich das Radio zunächst langsam, dann schneller werdend durch die Luft bewegt, würden sich auch die Wörter der Geschichte zunächst langsamer ereignen, eine geringe Menge Wörter für ein erzähltes Particle der Geschichte, wohingegen zuletzt, kurz vor dem Aufprall des Radios sich sehr viele Wörter ereignen werden, um ein erzähltes Particle zu erzeugen. Eine interessante Vorstellung, die ich paradoxerweise in meinem Gehirn herumzudrehen vermag. Weil sich das Radio zunächst langsam bewegt, ist viel Zeit, um viele Wörter zu notieren. Stetig werden die Wörter weniger, weil sich die Zeit ihrer Aufführung verkürzt. Alles das ist für eine extreme Zeitlupe ausgedacht. Und jetzt habe ich einen kleinen Knoten im Kopf. Guten Morgen. — stop
emilia nabokov no2
delta : 6.36 — Ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen arbeitet, beinahe könnte ich sagen, ich hatte ein Gespräch mit einem Freund, der seit vielen Jahren in digitalen Räumen zu existieren scheint. Zahlreiche seiner Arbeiten verbinden sich mit Arbeiten anderer Menschen, weil man auf ihn verweist, weil man auf ihn wartet, auf Texte, auch auf Bilder, Filme, Geräusche, die er aufnimmt, sobald er etwas Interessantes zu hören meint. Mit jeder Minute der vergehenden Zeit wächst sein elektrischer Schatten. Er macht das ähnlich wie eine New Yorker Fotografin, die stundenlang durch die Stadt spaziert und mit einem iPhone all das fotografiert, was ihr ins Auge fällt. Manchmal sind es hunderte Fotografien an einem einzigen Tag, die nur Sekunden nach Aufnahme von ihrem Fotoapparat, mit dem sie gleichwohl telefonieren kann, an das Flickr – Medium gesendet werden. Mein Freund erzählte, dass er den Eindruck habe, die junge fotografierende Frau in Echtzeit zu beobachten, ihr im Grunde so nah gekommen zu sein, dass er kurz vor Weihnachten fürchtete, etwas Ernsthaftes könnte ihr widerfahren sein, weil drei Tage in Folge keine Fotografie gesendet wurde. Am vierten Tag erkundigte er sich mittels einer E‑Mail, die er an Flickr sendete, ob es der schweigsamen Fotografin gut gehe, er mache sich Gedanken oder Sorgen. Man muss das wissen, mein Freund hatte der Fotografin nie zuvor geschrieben, kannte nicht einmal ihren wirklichen Namen, sondern nur ein Pseudonym: Emilia Nabokov No2. Eine halbe Stunde, nachdem die E‑Mail gesendet worden war, erschien, als habe ihm die spazierende Künstlerin zur Beruhigung geantwortet, eine Fotografie ohne Titel. Diese Fotografie erzählte davon, dass sich Emilia Nabokov No2 vermutlich nicht in New York aufhielt, sondern in Montauk, weil auf der Fotografie ein Leuchtturm auf einem verschneiten Hügel zu sehen war, der eindeutig zur kleinen Stadt Montauk an der nordöstlichen Spitze Long Islands gehörte. Im Hintergrund das Meer, und vorne, ob nun mit Absicht oder nicht, ein Fuß in einem Gummistiefel von knallroter Farbe. — stop