victor : 6.28 — Jeden Samstag kam Maria ins Café Gazette. Wenn Mittwoch war, konnte man sie im Hemingways besuchen, einem heruntergekommenen Laden in der Nähe des Hauptbahnhofes. Montags saß sie in der Bar-Celona. An Dienstagen und Freitagen war sie mal da und mal dort, und am Donnerstag ging sie ins Kino. Es war immer dasselbe, die kleine Frau, deren Alter niemand zu bestimmen wusste, kam herein, setzte sich an einen freien Tisch, oder wartete so lange im Stehen, bis ein Tisch freigeworden war, um sofort mit ihrer Arbeit zu beginnen. Sie bedeckte den Tisch, an dem sie Platz genommen hatte, mit weißen Papieren in unterschiedlichen Größen, holte aus einem Kofferwagen, der ihr ständiger Begleiter war, kräftige Filzstifte und begann zu malen. Wer sie einmal genau beobachtet hatte, wird vielleicht bemerkt haben, dass sie bei Eintritt in das Café oder die Bar, mit einem scheuen Blick alle anwesenden Menschen wahrgenommen oder in sich aufgenommen hatte, um sie nun zu porträtieren, einen Menschen nach dem anderen Menschen, auch dann, wenn sie den Ort längst verlassen hatten. Maria malte langsam, sie malte wie ein Kind, manchmal biss sie sich auf die Zunge. Sie war eine sehr stille, eine stumme Frau, und ihr Gesicht vom Leben ohne Obdach gezeichnet. Sie hatte einen Buckel, der mit den Jahren zu wachsen schien und sie immer weiter gegen den Boden drängte. Viele Menschen kannten sie. Vielleicht kann man sagen, dass es sich bei Maria um eine Ikone der Stadt handelte, sie lachte niemals, aber alle Menschen auf ihren Bildern lachten. Alle sahen sie aus wie Maria, ihre Gesichter genau genommen, Augen, Nase, Mund, aber die Haare waren andere Haare, auch die Farben der Hemden, Pullover, Krawatten, Blusen, waren genau jener Sekundenwirklichkeit entnommen, da Maria von der Straße hereingekommen war. Ja, sie malte langsam, und wenn es einmal sehr still war, konnte man die Geräusche ihrer Werkzeuge deutlich hören. Sobald Maria alle Menschen porträtiert hatte, erhob sie sich und ging von Tisch zu Tisch, um ihre kleinen, wertvollen Malereien zu verkaufen. Sie verlangte nie mehr als 1 Deutsche Mark. Im Laufe der Jahre kaufte ich immer wieder einmal eines ihrer Bilder, also Maria und mich, mal mit kurzen, mal mit längeren Haaren. Da war der Sommer der weißen Hemden und dort der Sommer der blauen Hemden. Einmal, es war Winter gewesen, trugen wir einen Hut. – stop
Aus der Wörtersammlung: werk
uhrwerk
olimambo : 22.03 — Noch immer ohne Antwort: ~ Existieren steinerne Uhrwerke, die aufziehbar sind? Welche Gesteine präzise würden als Uhrwerkfedern dienen? Wie schwer oder leicht würden steinerne Uhrwerke sein? Wären diese Uhren tragbare Uhren? Wären sie genau? Könnte ein Mensch sie mit der Kraft seines Körpers bewegen? — stop
eine libelle
himalaya : 6.51 — Im Columbus Park sitzen Männer im Kreis um einen Stein und spielen mit Karten, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Vom East River her, der nah ist, das Gespräch der Schiffe. In den blattlosen Bäumen kauern kalte Vögel, äußerst langsam öffnen und schließen sie ihre Augen, Häutchen, hell wie von Milch. Ich bin auf dem Weg, Mr. Fefei in seiner Werkstatt Pell Street 8 zu besuchen. Trage die Uhr meines Vaters in der rechten Hosentasche, halte sie fest, halte sie fest. In der Werkstatt ist es dunkel. Eine alte Frau, tief gebückt, führt mich durch den schmalen Raum. Vorsichtig, sehr vorsichtig, als würde sie nie wieder vom Boden kommen, wenn sie einmal stürzen sollte, geht sie durch die stickige Luft dahin. Ein Lungenhummer kreuzt scheppernd unseren Weg. Mr. Fefei sitzt hinter einer Werkbank im Rollstuhl, einem uralten Ding mit Rädern, die so groß sind wie der alte Mann selbst. Ich werde eine Viertelstunde in seiner Nähe verbringen, ich werde ihm erzählen von der Uhr meines Vaters, dass sie nicht stehen geblieben ist, seit er starb, dass ich mir wünschte, sie würde niemals stehen bleiben, die Zeit meines Vaters. Wie, Mr. Fefei, werde ich fragen, könnte es möglich sein, die Batterien der Uhr zu wechseln, ohne sie anhalten zu müssen? Ich werde sehen, wie die zierliche Hand des alten Mannes über den Tisch wandert, um nach der Uhr zu greifen, wie er die Uhr wiegen und wie er sie betrachten wird, von allen Seiten her, wie er ein Hörrohr an das Gehäuse legen, wie er nicken, wie er lachen wird. Seine Frau wird mir einen Tee servieren, einen grünen Tee, einen sehr grünen dampfenden Tee, den ich sicher nicht vertragen und doch trinken werde, während sich Mr. Fefei wieder mit seiner Libelle beschäftigt. Vorsichtig nähert er sich dem Gesicht des wilden Tieres, das zu einem zitternden Röhrchen gefesselt vor ihm liegt, mit einer Pinzette. Alles das wird gleich geschehen, in wenigen Minuten ist wieder Abend geworden. Alte Männer sitzen im Kreis um einen Stein und spielen Karten, die ich noch nie gesehen habe. Vom East River her, der nah ist, höre ich das Gespräch der Schiffe. In den blattlosen Bäumen kauern kalte Vögel, äußerst langsam öffnen und schließen sie ihre Augen, Häutchen, hell wie von Milch. — stop
eine funkuhr
sierra : 7.01 — Wenige Stunden nachdem mein Vater im April des vergangenen Jahres gestorben war, überreichte mir meine Mutter eine Uhr. Sie sagte, ich, der älteste Sohn der Familie, solle sie tragen. Vielleicht meinte sie, ich solle die Uhr meines Vaters bewahren und damit die Zeit meines Vaters behüten. Ja, genau so könnte das gewesen sein, denn die kleinen und die großen Uhren der Menschen, die gestorben sind, bleiben nicht sofort stehen, auch die Uhr meines Vaters, die ich in diesem Moment an meinem linken Unterarm trage, zeigt unermüdlich weiter die vorrückende Zeit. Sie knistert, wenn ich sie an mein Ohr lege. Das Geräusch ist so leise, dass ich nicht sagen kann, ob das Werk der Uhr knistert oder mein Ohr in der Begegnung mit dem kühlen Gehäuse. Viele Tage und Wochen lang habe ich die Uhr meines Vaters nicht getragen, sie ruhte auf meinem Schreibtisch. Manchmal, indem ich sie beobachtete, hatte ich den Eindruck, sie warte. Immer wieder einmal hob ich sie in die Luft, um die genaue, die wirkliche Zeit angezeigt zu bekommen. Bei der Uhr meines Vaters handelt es sich nämlich um eine Funkuhr, die zu jeder Zeit auf die Sekunde genau die allgemeingültige Zeit anzuzeigen vermag. Ihr Zifferblatt ist übersichtlich gestaltet, ein großer Kreis für Halbtageszeit und kleiner Kreis in der unteren Hälfte, in dem der Sekundenzeiger sich um Minutenzeit fortbewegt. Diese Uhr und ihre drei Zeiger ist nun meine Uhr. Am vergangenen Sonntag setzte ich mich mit ihr auf mein Sofa. Es war kurz vor zwei Uhr zur Nachtzeit. Um genau zwei Uhr beschleunigte der Minutenzeiger wie von Geisterhand, drehte sich schnell einmal im Kreis herum, dann war Sommer geworden, ein seltsamer Moment, weil ich für einen Augenblick den Eindruck hatte, mein Vater selbst bewegte den Zeiger der Uhr, die seine letzte gewesen ist, weil er auf mich und meine Zeit achtet. — Gestern habe ich mir einen Hut gekauft. — stop
vom zufall
delta : 0.12 — Henry erzählte, er habe vor einigen Wochen eine Kartonschachtel erworben für 80 Cent. Zu Hause habe er im Inneren der Schachtel einhundertundzwölf Schwarz-Weiß-Fotografien entdeckt, Fotografien einer Zeit um das Jahr 1965 herum. Menschen, die auf diesen Fotografien zu sehen sind, tragen Schuhwerk jener Jahre, Mäntel, Hüte. Auch Automobile, die da und dort im Hintergrund zu sehen sind, verweisen auf die Mitte eines Jahrzehntes, als Henry selbst geboren worden war. Er habe die Bilder nun digitalisiert und würde sie in wenigen Tagen auf einer Webseite veröffentlichen mit der Bitte, sich bei ihm zu melden, sobald man sich selbst auf einer der Fotografien entdecken würde. Ich wollte wissen, warum er so handele. Henry antwortete, er habe das Gefühl, diese Aufnahmen könnten vielleicht fehlen, irgendjemandem, einem Album, einer Geschichte. Ja, selbstverständlich sei ihm bewusst, dass nur durch einen Zufall seine Seite von genau jenen Menschen besucht werden würde, die sich wieder erkennen könnten, es gehe ihm rein um die Möglichkeit, dass sich dieser Zufall ereignen könne, er habe im Grunde die Möglichkeit eines Zufalles geschaffen. Eine der Fotografien soll ein hölzernes Feuerwehrauto zeigen, das von Kinderhand geführt über einen Teppich fährt. In dem Teppich sei ein Loch, das ihn an ein Brandloch erinnert habe. Eine weitere Aufnahme zeige eine Gardine, die sich im Wind zu bewegen scheine, im Hintergrund etwas Himmel, Wolken und ein Flugzeug. Und diese alte Frau, die auf einer Parkbank sitzt, sie wird, sagte Henry, vielleicht oder sehr sicher nicht mehr unter den Lebenden sein. Sie hält einen Fotoapparat, es könnte sich um eine Leica handeln, in ihren Händen. Die alte Frau lacht, es ist Sommer, sie lacht wie jene andere, etwas jüngere Frau, die auf einem steinigen Weg breitbeinig steht, ein Fuß ist zur Seite geknickt, auch sie hält eine Kamera, ein Leica vielleicht, ihn ihren Händen. — stop
ameisengeschichte
india : 6.15 — Die müde Stimme eines Freundes gestern Abend auf dem Anrufbeantworter. Ich hatte um einen Rückruf gebeten, der Rückruf kam bald. Er meldete, er sei gerade auf dem Land in seinem Haus und kämpfe mit Ameisen. In den darauffolgenden Minuten hatten wir mehrfach kürzere Verbindungen, die je nur Sekundenzeit dauerten. Das waren Verbindungen einer Art gewesen, die man vielleicht von früher her kennt, Störgeräusche, Wortfetzen, Stimmen von sehr weit her, geheimnisvoll. Nach einigen Minuten war dann endlich eine stabile Verbindung erreicht. Ich hörte einen Bericht jener Vorgänge, die sich fern, im Rheingau, in einem kleinen Haus, das sich in der Nähe eines Waldes befindet, abspielten. Möbel wurden verrückt, in Mauerspalten geleuchtet, Dielen angehoben, um das Nest der Ameisentiere, die wieder einmal in das Haus eingewandert waren, aufzuspüren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch immer die Vorstellung eines Kampfes, der mit den Werkzeugen der Uhrmacher gefochten wurde, Lupen, Pinzetten, dazu feinste Netze, Nadeln, Honigtropfen. Rasch wurde deutlich, dass ich mich in Dimensionen der Vorstellung bewegte, die mit der Wirklichkeit meines Freundes nichts zu tun hatten, mein Freund kämpfte mit Schaufeln, mit Besen, mit Giften, mit Feuer, mit Wasser. Er sagte, er habe einzelne Tiere bereits vor Wochen wahrgenommen, sie aber zunächst nicht ernst genommen. Ich stellte mir vor, wie sie nun überall sind, ein Haus, das von Ameisen geflutet wird, ein Haus, das eine Haut von Ameisenkörpern trägt. Sie sollen als Staatswesen ohne besondere Intelligenz sein. Sie bemerken nicht, dass man sie bekämpft, sie werden weniger, aber sie hören nicht auf, sie flüchten nicht, gerade deshalb sind sie vielleicht nicht zu bezwingen. Und wieder die Frage, nehmen wir einmal an, ein Volk von Wanderameisen näherte sich, was würde ich hören? Vielleicht ein gut sichtbares Geräusch? — stop
nachtameise
~ : sam
to : Mr. louis
subject : WANDERAMEISE
Mein lieber Freund Louis, es gibt Neues zu berichten. Ich bin nämlich umgezogen, von einer Wohnung in eine andere Wohnung, beide befinden sich in demselben Haus. Jahrelang, wie Du weißt, lebte ich im 3. Stock, jetzt schaue ich vom 25. Stockwerk auf die Straße hinunter. Die Menschen sind noch kleiner geworden, ihre Stimmen nicht länger zu hören. Ich wohne unter dem Dach. Manchmal liege ich rücklings auf dem Boden und denke, dass es hier ganz wunderbar ist, weil ich nie wieder von Schritten geweckt werde, wenn ich schlafe. Natürlich ist der Aufstieg beschwerlich, kein Lift nach wie vor, aber die Luft scheint hell zu sein, auch nachts, weil sie so gut riecht, nach Seeluft, ja, nach Seeluft. Vor wenigen Stunden öffnete ich das Fenster nach Süden hin und fütterte Möwen mit Brot, seither umkreisen sie lauernd das Haus. Die Wohnung nebenan scheint leer zu stehen, von unten ist leise Klaviermusik zu hören, nichts weiter. Es ist überhaupt sehr still hier oben. Während ich nachts, eine Wanderameise, meine Bücher und Papiere nach oben schleppte, war ich keiner Menschenseele begegnet. Aber ich hörte Stimmen, nicht von den Türen, von irgendwo her, als wären Menschen in den Stufen, dem Holz des Treppengeländers, den Wänden des alten Hauses gefangen. In den höheren Stockwerken befinden sich Briefkästen mit schweren, eisernen Deckeln, in welche man Botschaften abwerfen kann. Natürlich bin ich nicht sicher, ob sie noch funktionieren. Ich habe zur Probe eine Nachricht folgenden Inhaltes an mich selbst abgeschickt: Etwas Seltsames ist geschehen. Bin gestern Abend eingeschlafen, obwohl ich in einem äußerst spannenden Buch geblättert hatte. Vielleicht war’s die schwere, warme Luft oder eine schlaflose Nacht der vergangenen Jahre, die rasch noch nachgeholt werden musste. So oder so schlummerte ich eine Stunde tief und fest im Gras und wäre vermutlich bis zum frühen Morgen hin in dieser Weise anwesend und abwesend zur gleichen Zeit auf dem Boden gelegen, wenn ich nicht sanft von einer nachtwandelnden Ameise geweckt worden wäre. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war ich schon mit einer Frage beschäftigt, die ich erst wenige Stunden zuvor entdeckt hatte, mit der Frage nämlich, wie Tiefseeelefanten hören, was sie miteinander sprechen, da doch die Sprechgeräusche ihrer Rüssel sehr weit von ihren Ohren entfernt jenseits der Wasseroberfläche zur Welt kommen und rasch in alle Himmelsrichtungen verschwinden. Eine diffizile Frage, eine Frage, auf die ich bisher vielleicht deshalb keine Antwort gefunden habe, weil ich eine Antwort nur im Schlaf finden kann, wenn mein Gehirn machen darf, was es will. – Dein Sam. Guten Morgen! — stop
gesendet am
17.03.2013
8.15 pm
2253 zeichen
jamaica
echo : 20.26 — Ich will von einem Mann erzählen, der mir in einem Subwaywagon auf der Fahrt von der Lexington Avenue nach Jamaica begegnet war. Er trug, obwohl es im Abteil sehr warm gewesen war, Handschuhe an beiden Händen. Das waren recht merkwürdige Handschuhe, denn die Daumen des Mannes wurden von Schnüren, die an den Fäustlingen befestigt waren, ins Innere der Hand gezogen. Finger umschlossen sie fest, auch sie waren mittels Schnurwerkes gefesselt. Man könnte sagen, dass die Handschuhe, die der Mann trug, seine Hände bändigten, indem sie Fäuste formten. So, gefesselt, saß der Mann während der langen Fahrt vor mir und nickte. Er betrachtete seine Hände, wie mir schien, mit zärtlicher Aufmerksamkeit, in der Art und Weise der Liebenden vielleicht, wenn ein Blick nachts heimlich einen schlafenden Mund umschmeichelt. Ich versuchte zu arbeiten, konnte mich aber nicht konzentrieren. Nach einiger Zeit fragte ich den Mann, ob er denn etwas in Händen hielte, etwas, das vielleicht flüchten könnte, wenn er seine Hände öffnete. Das schien nicht der Fall zu sein, weil der Mann seinen Kopf schüttelte und lachte, ohne indessen mit mir ein Gespräch aufnehmen zu wollen. Ich wartete also einige Zeit, sah aus dem Fenster, späte Flugzeuge, eine Kette von Lichtern, näherte sich dem Flughafen. Und da war mein müdes Gesicht im Spiegel der Scheibe. Und dann wieder der Mann und seine Hände, die auf seinen Schenkeln lagen. Sie drücken die Daumen, sagte ich, ist das möglich? Der Mann lachte jetzt. Er schien zu überlegen, dann antwortete er mit leiser Stimme, die in dem scheppernden Lärm des Subwaywagons kaum noch zu hören war, dass ein Problem sei, dass er nicht wisse, wie er seine Fäustlinge für das Wünschen bei Nacht, ohne die Hilfe eines weiteren Menschen anlegen könnte. Der linke der Handschuhe war im Übrigen von gelber, der rechte von blauer Farbe. — stop
nummer 6
tango : 3.56 — An einem Sommertag gehe ich mit Tom spazieren. Er ist ein ziemlich großer, junger Mann, schlaksig, der, während er von seinen Erlebnissen im Präpariersaal erzählt, immer wieder einmal einen Stein oder ein Stück Holz vom Boden hebt, um es in den Fluss zu werfen. Da ist nämlich ein Fluss, Tom wollte am Fluss spazieren, ich ahne weshalb. Er scheint, indem er Steine wirft, genauer denken zu können. Hin und wieder läuft er in den Wald, der unseren Weg begleitet und bleibt für einige Minuten verschwunden. Er spricht sehr schnell, ich kann kaum folgen, er will mir deshalb noch einige Gedanken notieren, damit ich sie ausdrucken kann. Wenige Tage nach unserem Spaziergang kommt tatsächlich eine E‑Mail, eine sehr präzise Form der Beobachtung. Tom: > Ich versuche jetzt näher heranzugehen. Noch haben wir den 1. Tag. Wir haben mit der Präparation des Körpers begonnen. Wir haben die Körper auf den Tischen inspiziert, wir haben ein Leichenprotokoll angefertigt, Hautschnitte gesetzt. Sie sehen, wie wir uns über unsere Arbeitstische beugen. Vier von uns befinden sich auf der einen, vier auf der anderen Seite des Tisches. Jedem von uns wurde eine Position am Präparat zugeordnet. Ich habe die Nummer 6. Also arbeite ich zu diesem Zeitpunkt in der Höhe der Brust. Wenn ich den Blick hebe, sehe ich Katharina. Von den Leichen steigt ein Dunst auf, den man nicht sehen kann, aber zu spüren bekommt. Unsere Augen sind gerötet. Das ist eine Situation, an die wir uns zunächst noch zu gewöhnen haben. Skalpelle, Pinzetten, Hände sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Wir könnten uns verletzen, deshalb halten wir unsere Werkzeuge, als würden wir Bleistifte führen. Wir zeichnen auf sehr engen Bahnen. Wir beginnen in der regio praesternalis. Dort haben die Hautschnitte des Assistenten Zugang erzeugt, dort können wir die Haut mit unseren Pinzetten aufnehmen und etwas vom Körper heben. Eine erste unsichere Bewegung. Wir spannen die Haut. Wir schneiden von der subcutis in Richtung der gespannten Haut, arbeiten von innen nach außen, arbeiten von medial nach lateral. Haben wir gesprochen? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich sehe, dass ich meine Hand bereits auf die Brust des Toten gestützt habe. Ich spüre die Erschütterungen, die durch die Bewegungen meiner Freunde in dem Körper hervorgerufen werden. Wenn ich mich aufrichte, um meinen Rücken zu entspannen, erkenne ich die Fortschritte meiner Arbeit. Ich habe ein Stück der Haut so weit vom Körper gelöst, dass ich es zurückklappen kann. Woran habe ich gedacht, in dieser ersten Stunde der Arbeit? Habe ich daran gedacht, dass ich begonnen habe, einen Leichnam zu zergliedern? Ich weiß es nicht! Aber ich kann Ihnen sagen, dass es nicht leicht ist, ein Skalpell zu führen, als würde man damit schreiben. Ich kann Ihnen versichern, man geht nicht in die Tiefe, wenn man Haut präpariert. Man packt einen Körper aus. Eine wahre Geduldsprobe. Zentimeter um Zentimeter arbeitet man sich über die Oberfläche des Körpers voran. Erstaunlich, wie nah wir dem Leichnam nach zwei Stunden bereits gekommen sind. — stop
koffer
echo : 0.28 — Die Vorstellung, man könnte vielleicht bald einmal Gegenstände mit geeigneten Apparaturen betasten und durchleuchten, um sie Molekül für Molekül in den Speicher eines Computers abzulegen. Ich könnte nun die Gegenstände meiner Zimmer, all die Lampen, Bücher, Stühle, Tische, Kakteen, Teller, Kissen, Löffel, Tassen unter den Arm nehmen, alle zur gleichen Zeit, um sie an einen anderen Ort zu transferieren, von einem Stockwerk in ein anderes Stockwerk, oder von einer Stadt in eine andere Stadt. Dort könnte ich sie auspacken, das heißt, ich könnte sie mit geeigneten Apparaturen aus Molekülen der Luft wiedererstehen zu lassen, ein Prozess, der so präzise funktionieren müsste, dass selbst handschriftliche Notizen, die sich in meinen Büchern befinden, nicht verloren sein werden. Nehmen wir einmal an, ich würde nun selbst, ob mit oder ohne Absicht, in meiner Computermaschine landen, dann könnte man mich, das heißt genauer, meine Information als E‑Mail verschicken, Augen, Hände, Ohren, auch meine Erinnerungen, meine Wünsche, meine Hoffnungen, selbst die Erinnerung an diese kleine Geschichte hier, wie ich sie gerade erzählte. — Guten Morgen! Es ist Montag. Die Luft duftet nach Schnee. — stop