ginkgo : 6.38 — Ich habe diese Geschichte gestern Abend selbst erlebt. Wenn sie mir jemand anderes als ich selbst erzählt haben würde, hätte ich sie vielleicht nicht geglaubt, weil sie schon ein wenig verrückt ist. Die Geschichte beginnt damit, dass ich in einem Café sitze und auf einen jungen Mann warte, der mir etwas erzählen will. Ich bin frühzeitig gekommen, bestelle einen Cappuccino und schalte mein kleines Handkino an, beobachte eine Dokumentation der Arbeit Maceo Parkers in New York, mitreißende Musik, soeben umarmt die Sängerin Kym Mazelle den Posaunisten Fred Wesley, als der junge Mann, den ich erwartete, plötzlich neben mir sitzt. Er schaut wie ich auf den kleinen Bildschirm. Sofort kommen wir ins Gespräch. Ich frage ihn, welche Musik er gehört habe, als Kind in der belagerten Stadt Sarajevo. Jedenfalls nicht solche Musik, antwortet er, und lacht, no Funk, wir hatten keinen Strom. Avi ist heute Anfang dreißig, dass er noch lebt ist ein Wunder. Tatsächlich steht ihm jetzt Schweiß auf der Stirn, wie immer, wenn er von der Stadt Sarajevo erzählt. Einmal fragte ich ihn, was er empfunden habe, als er von Karadzics Verhaftung hörte. Anstatt zu antworten, perlte in Sekundenschnelle Schweiß von Avis Stirn. Heute schwitzt er schon, ehe er überhaupt zu erzählen beginnt, weil er weiß, dass er gleich wieder berichten wird von den Straßen seiner Heimatstadt, die nicht mehr passierbar waren, weil Scharfschützen sie ins Visier genommen hatten. Man schleuderte Papiere, Zigaretten, Brote, Wasserflaschen in Körben von einer Seite der Straße zu anderen. Diese Körbe wurden nicht beschossen, aber sobald ein Mensch auch nur eine Hand aus der Deckung hielt, ja, aber dann. Avi war ein kleiner Junge. Er war so klein, dass er nicht verstehen konnte, was mit ihm und um ihn herum geschah, auch dass ein Holzsplitter sein linkes Auge so schwer verletzte, dass er jetzt ein Glasauge tragen muss, das so gut gestaltet ist, dass man schon genau hinsehen muss, um sein künstliches Wesen zu erkennen. Er sagt, er könnte, wenn ich möchte, das Auge für mich herausnehmen. Aber das will ich nicht. Ich erzähle ihm, dass ich damals, als er klein gewesen war, jeden Abend Bilder aus Sarajevo im Fernsehen beobachtet habe. Was das für Bilder gewesen seien, will Avi wissen. Ich sage: Das waren Bilder, die rennende Menschen zeigten. Avi schwitzt. Und er lacht: Das Fernsehen kann nicht gezeigt haben, was geschah, weil es immer schnell und überall passierte. Und diese Geräusche. Plötzlich nimmt der junge Mann mein kleines Kino in die Hand zurück, setzt sich die Kopfhörer in seine Ohren ein, hört Maceo Parker, Kim Macelle, Fred Wesley, Pee Wee Ellis, nickt im Rhythmus der Musik mit dem Kopf. Ein Wispern. — stop
Aus der Wörtersammlung: abend
australien
olimambo : 3.26 — Im anatomischen Institut, unter dem Präpariersaal, befinden sich Arbeitsräume für Präparatoren, das sind kleinere Zimmer, in welchen metallene Tische stehen, helles Licht, sehr helles Licht, Lupenleuchten, Pinzetten, Skalpelle, Gefäße aller Art. Ich besuchte dort mehrere Male einen älteren Herrn, durfte ihm gegenüber Platz nehmen, beobachtete ihn bei der Arbeit an einem Herz, das vor uns auf dem Tisch ruhte. Ich erinnere mich noch gut an seine hellen, feingliedrigen Hände, wie sie rasend schnell Gewebe vom Herzkörper zupften. Der alte Mann war sehr erfahren in der Präparation, und er war schweigsam, also sprachen wir wenig. Gestern Abend habe ich an ihn gedacht, weil ich nach einem Telefongespräch eine Frage entdeckte, die ich nun gerne sofort an ihn richten würde, wenn ich nur wüsste, ob er noch existiert. Ich würde nämlich gerne erfahren, wie es möglich sein kann, das Skelett eines Menschen, der gerade erst gestorben ist, seinem Körper zu entnehmen und auf dem Luftpostweg von Australien nach Europa zu senden. Genau das ist nämlich vor nicht einmal einem halben Jahrhundert geschehen. Eine Freundin, die in Griechenland aufgewachsen war, eine Griechin also, erzählte mir gestern, sie habe in ihrer Schulzeit ein menschliches Skelett vor Augen gehabt, von dem sie wusste, dass es echt gewesen war, dass es zu einem Bürger der Stadt, in der sie lebte, gehörte. Dieser Mann war nach Australien ausgewandert, um vor der Armut und Hoffnungslosigkeit, in der er lebte, zu flüchten. Kaum in Australien angekommen, starb der Mann. Und weil er nichts weiter zu verschenken hatte, vermachte er sein Skelett der Schule seiner Stadt. Der Mann hieß mit Vornamen Teofanis, weshalb auch das Skelett diesen Namen trug. Teofanis kehrte also an den Ort zurück, an dem er geboren worden war, genauer sogar in das Klassenzimmer, in dem er seine Matura abgelegt hatte, um dort dauerhaft zu verweilen in einer feinen Geschichte, deren eigentliches Ende in der Zeit bisher nicht abzusehen ist. — stop
von den eisbriefen
kilimandscharo : 6.28 — Für ein oder zwei Minuten war ich wild entschlossen gewesen, ein Gründer zu werden, und zwar gestern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Briefkasten gelaufen, der nicht weit entfernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befestigt ist. Ein Eichhörnchen, natürlich, begleitete mich. Es war sehr kalt, und plötzlich habe ich wahrgenommen, dass ich, wenn es mir möglich wäre, gern Briefe von Eis verschicken würde, hauchdünne Blätter gefrorenen Wassers, die man in kühlende Kuverts stecken und in alle Welt verschicken könnte. Eine wunderbare Vorstellung nachgerade, wie ein Mensch, dem ich einen Eisbrief gesendet habe, in der Küche vor seinem Eisschrank sitzt und meinen Brief für Sekunden studiert, um ihn dann rasch wieder in die Kälte zurückzulegen, damit er nicht verschwindet in der warmen Luft. Ich sollte also bald einmal jene besonderen Eispapiere, ihre Fabriken und Läden erfinden, und Kuverts, und Briefkästen, die wie Kühlschränke funktionieren. Wo man die Briefe sortiert, in einem Postamt, würde man in tiefgekühlten Räumen arbeiten, und alle diese Automobile, nicht wahr, die vereiste Briefware über das Land befördern. Ein Unternehmen dieser Art, wäre eine wirkliche Herausforderung, eine gute und sehr verrückte Sache, so dachte ich am gestrigen Abend. Kaum war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, war aus der Gründerzeit bereits eine Erfinderzeit geworden. Und wie ich in diesem Augenblick voller Freude im polaren Zimmer vor meinem Schreibtisch sitze, dampfender Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hörbaren Pfeifen Zeichen in schimmernde Eispapierbögen fräst. Ich schreibe: Mein lieber Theodor, ich wollte Dir schon lange einmal einen Eisbrief notieren. Hier nun, wie versprochen, ist er endlich bei Dir angekommen. Ich hoffe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir aufgeschrieben habe, dass ich nämlich den Wunsch habe, bald einmal zwei oder drei Tage zu schweigen, um den Kopfstimmen stummer Menschen nachzuspüren. Ich könnte mich kurz vor Beginn meiner Stille verabschieden von Freunden: Bin telefonisch nicht erreichbar! Oder einen Notizblock besorgen, um Fragen für den Alltag zu verzeichnen, sagen wir so: Führen sie in ihrem Sortiment Hörgeräte für Engelwesen fingergroß? Eine Kärtchensammlung zu erwartender Wiederholungssätze weiterhin: Habe vorübergehend mein Tonvermögen verloren! – Es ist eine angenehme Nacht, lieber Theodor. Ich erinnerte einen Satz René Chars, den er in seiner Gedichtsammlung »Lob einer Verdächtigen” notierte. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangsarten mit dem Leben: entweder man träume es oder man erfülle es. In beiden Fällen sei man richtungslos unter dem Sturz des Tages, und grob behandelt, Seidenherz mit Herz ohne Sturmglocke. Dein Louis, ganz herzlich! — stop
PRÄPARIERSAAL : nachthörnchen
nordpol : 5.15 — Seit zwei Stunden sitzt ein Eichhörnchen auf meinem Fensterbrett. Es ist mitten in der Nacht und so kalt, dass ich den Atem des kleinen Tieres, das um diese Uhrzeit eigentlich tief schlafen sollte, in der Dunkelheit zu erkennen vermag. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht vielleicht täusche. Es ist denkbar, dass ich mir das Eichhörnchen nur vorstelle. Und wie ich über die Möglichkeit der Täuschung nachdenke, bemerke ich, dass die Vorstellung eines Eichhörnchens mittels weit geöffneter Augen tatsächlich gelingen kann, und zwar je für ein oder zwei Sekunden in einem Bild, das pulsiert, das in der dritten Sekunde schon wieder verloren ist und zunächst dann wieder erscheint, wenn ich das Wort Eichhörnchen denke oder Eichhörnchenschweif. Ich muss das weiter beobachten. Wenn ich nun die Notizen Michaels aus dem Präpariersaal, die vor mir auf dem Tisch liegen, betrachte, weiß ich, dass sie keine Täuschung sind, weil ich das Papier, auf dem sie sich befinden, berühren, vom Tisch heben, falten und wieder entfalten kann, und damit gleichwohl Michaels Zeichen, die keinerlei pulsierender Bewegung unterworfen sind. Er schreibt: Ich beobachte, dass ich meinen lebendigen Körper mit dem toten Gewebe vor mir auf dem Tisch vergleiche. Ich lege Nerven, Muskeln und Gefäße einer Hand frei, bestaune die Feinheit der Gestaltung, überlege, wie exakt das Zusammenspiel dieser anatomischen Strukturen doch funktionieren muss, damit ein Mensch Klavier spielen, greifen, einen anderen Menschen streicheln kann, wie umfassend die Innervation der Haut, um Wärme, Kälte, verschiedene Oberflächen erfühlen, ertasten zu können. Immer wieder pendelt mein Blick zwischen meiner lebendigen und der toten Hand hin und her. Ich bewege meine Finger, einmal schnell, dann wieder langsam, ich schreibe, ich notiere, was ich zu lernen habe, bis zur nächsten Prüfung am Tisch, und beobachte mich in diesen Momenten des Schreibens. Abends treffen wir uns in der Bibliothek hier gleich um die Ecke und lernen gemeinsam. Vor allem vor den Testaten werden die Nächte lang. Ich kann zum Glück gut schlafen. Unsere Assistentin ist eine junge Ärztin, die noch nicht vergessen hat, wie es für sie selbst gewesen war, im Saal. Sie ist immer sehr warm und freundlich zu uns. Aber natürlich achtet sie streng auf die Einhaltung der Regeln, kein Handy, kein Kaugummi im Mund, angemessene Kleidung. Manchmal versammelt sie uns und wir proben am Tisch stehend das nahende Testat, es gibt eigentlich kaum einen Tag, da wir nicht von ihr befragt werden, das erhöht natürlich unsere Aufmerksamkeit und Konzentration enorm. Einmal erzählte sie uns eine Geschichte, die mich sehr berührte. Sie sagte, ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie eine Ärztin geworden ist. Sie habe ihr eingeschärft: Was Du gelernt hast, kann Dir niemand mehr nehmen. Aber natürlich, als wir die feinen Blutgefäße betrachteten, die unser Gehirn mit Sauerstoff versorgen, wurde mir bewusst, dass wir doch auch zerbrechlich sind, dass unser Leben sehr plötzlich zu Ende gehen kann. Gegenwärtig will ich daran aber nicht denken. Ich bin froh hier sein zu dürfen, ich habe lange darauf gewartet. Manchmal gehe ich durch den Saal spazieren. Wenn ich Lungenflügel betrachte, oder Herzen, oder Kehlköpfe, Lage und Verlauf einzelner Strukturen, dann erkenne ich, dass im Allgemeinen alles das, was in dem einen Körper anzutreffen ist, auch in dem anderen entdeckt werden wird, kein Körper jedoch ist genau wie der andere, damit werde ich in Zukunft zu jeder Zeit rechnen. — stop
von den regenschirmtieren
india : 2.05 – Gestern ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich hatte einem Bekannten, den ich lange Zeit nicht gesehen habe, eine E‑Mail gesendet. Kaum war die kleine elektrische Botschaft auf den Weg gebracht, kam eine Antwort zurück. Ich war sehr erstaunt gewesen, ich hatte angenommen, dass sich mein Bekannter viel Zeit nehmen würde, mir zu antworten, immerhin war ich etwas nachlässig, zögerlich darin, ihm zu schreiben. Ich hatte sogar einmal das Gefühl, er könnte vielleicht längst nicht mehr am Leben sein, weiß der Teufel, warum. Die Antwort, die ich erhielt, war folgende gewesen: Guten Tag! Ich habe Deine Nachricht erhalten, bin gerade in Tasmanien, ich werde so bald wie möglich antworten. Um Dir die Zeit bis dahin zu vertreiben, schicke ich Dir eine Geschichte, die Dir vielleicht Freude bereiten wird. Es handelt sich um eine Traumgeschichte, die davon erzählt, dass ich wieder einmal von Regenschirmtieren träumte. Die Luft im Traum war hell vom Wasser, und ich wunderte mich, wie ich in dieser Weise, beide Hände frei, durch die Stadt gehen konnte, obwohl ich doch allein unter einem Schirm spazierte. Als ich an einer Ampel warten musste, betrachtete ich meinen Regenschirm genauer und staunte, weil ich nie zuvor eine Erfindung dieser Art zu Gesicht bekommen hatte. Ich konnte dunkle Haut erkennen, die zwischen bleich schimmernden Knochen aufgespannt war, Haut von der Art der Flughaut eines Abendseglers. Sie war durchblutet und so dünn, dass die Rinnsale des abfließenden Regens deutlich zu sehen waren. In jener Minute, da ich meinen Schirm betrachtete, hatte ich den Eindruck, er würde sich mit einem weiteren Schirm unterhalten, der sich in nächster Nähe befand. Er vollzog leicht schaukelnde Bewegungen in einem Rhythmus, der dem Rhythmus des Nachbarschirms ähnelte. Dann wachte ich auf. Es war kurz nach Mitternacht. Es regnet noch immer. — stop
dublin, chamber street
josephine auf dem bildschirm
echo : 15.07 — Gestern Abend habe ich zum ersten Mal mit Josephine, einer alten Dame, die in Brooklyn wohnt, ein Gespräch über Skype geführt. Ich weiß nicht genau, wie lange Zeit ich benötigte, sie davon zu überzeugen, dass das Telefonieren mittels eines Computers nicht gefährlich sei, vielmehr angenehm, weil man einander sehen könne, wenngleich etwas in der Zeit verzögert. Ich glaube, es waren Monate gewesen. Ich musste ihr zuletzt hoch und heilig versprechen, keine Fotografien von ihrem Abbild zu machen, oder nur dann, wenn sie mir das Fotografieren ausdrücklich gestatten würde. — Früher Nachmittag in Brooklyn, die Sonne schien noch, genau die Sonne, die bei mir längst untergegangen war. Josephine hatte eine Lesebrille aufgesetzt, ihr rotes Haar schimmerte im hellen Licht, das von den Fenstern her auf sie fiel. Aber das Zimmer, in dem sie saß, lag im Schatten. Ich konnte eine Lampe erkennen, die neben jenem Schreibtisch stand, vor dem Josephine Platz genommen hatte, um genau in diesem Moment mein Gesicht auf einem Bildschirm zu betrachten. Wir waren uns schon einmal persönlich begegnet, aber nicht in dieser Weise, ich konnte sehen, dass sie sich geschminkt hatte und ein wenig nervös war, vermutlich deshalb, weil sie nicht wie üblich im Gespräch mit ihrem Telefon auf und ab laufen konnte. Wie geht es Ihnen, erkundigte sie sich. Ich antwortete, dass es mir gut gehen würde, eine leichte Erkältung vielleicht, nichts Ernstes. Es soll kalt werden in den kommenden Tagen, sagte Josephine. Sie sprach langsam, überlegt, wie immer, wenn sie in deutscher Sprache formulierte, und sie lachte und stand kurz darauf vor dem Computer auf, sodass sie für mich unsichtbar wurde. Sie fragte, ob ich sie noch hören könne, das Bild, das ich auf dem Schirm meines Computers sehen konnte, wackelte jetzt, weil sich der Computer der alten Dame selbst zu bewegen schien. Tatsächlich hatte sie ihr Netbook vom Tisch gehoben und war mit ihm zum Fenster gelaufen, hatte die kleine Maschine auf das Fenstersims gestellt, sodass ich einen Ausblick hatte auf die Brooklyn Heights Promenade, auf das dunstige Meer, es war ein wunderbarer Moment gewesen. Ich konnte Menschen erkennen, die unter Regenschirmen spazierten, es schien windig zu sein, Kinder spielten im Garten des Hauses, unter dessen Dach Josephine seit Jahrzehnten lebt, Laub wirbelte herum, ein paar Läufer kreuzten durch das Bild, am Pier 5 ankerten zwei Schlepper. Es war ein beinahe vertrauter Ausblick gewesen. Und wieder wackelte das Bild und das Meer verschwand und Josephine wurde erneut sichtbar. Können Sie mich sehen, wollte sie wissen, können Sie mich wirklich sehen? — stop
teegedanken
~ : oe som
to : louis
subject : TEEGEDANKEN
date : dec 21 12 11.05 p.m.
Einige Tage und Nächte haben wir alle gemeinsam in der Werkstatt zugebracht. Noe konnte uns hören in der Tiefe, wir hatten unsere Mikrofone nicht ausgeschaltet, um ihn teilhaben zu lassen, an unserem Leben. Jetzt, lieber Louis, jetzt, da der Heilige Abend näher kommt, wird Noe melancholisch. Er fragte wieder nach seinen Eltern, ob seine Mutter und sein Vater noch lebten. Was sollen wir antworten? Was nur, verdammt, sollen wir antworten? Nichts als die Wahrheit? Wir wissen es nicht! Und so tun wir unser Bestes, Noe aufzuheitern. Benny Goodman spielt von der Konserve: Live at Carnegiehall. Noe liebt Benny Goodman seit Kindheitstagen. Weiterhin haben wir Noe in eine leichte, beruhigende Schwingung versetzt, er pendelt jetzt unter dem Schiff mit einer Amplitude von 20 Metern nach links und nach rechts. Indessen ahnt Noe nicht, was hier oben bei uns vor sich geht. Es ist nämlich so, dass wir unserem Taucher eine Überraschung bereiten werden. Eric, unser Maschinist, hatte die Idee, einen Weihnachtsbaum für Noe zu konstruieren, die Anmutung eines Weihnachtsbaumes genauer, der geeignet ist, in die Tiefe gelassen zu werden. Wir haben uns Mühe gegeben, der Baum ist hübsch geworden, drei Meter hoch, ein Gebilde aus Metall, das über einen Stamm und Äste verfügt. Da und dort haben wir Unterwasserfackeln befestigt, die wir von der Ferne zünden werden. Ein besonderer Abend, lieber Louis, steht bevor! Ob wir das Licht erkennen werden an der Oberfläche des Meeres? Was wird Noe sagen? Und wie werden die Fische, die großen und die kleinen Raubfische reagieren? — Es ist jetzt Freitag und spät. Ein Duft von Zimt, Gewürznelken und Kaffee strömt durch das Schiff. Am Montag werden wir uns ein paar junge Süßwasserwelse braten. Es geht alles also einen guten Weg. Vor Stunden noch zitierte Taucher Noe aus dem Gedächtnis einen weisen Satz, den der Philosoph Guido Ceronetti in seinen Teegedanken notierte. Noe sagte: Wenn ich wie ein Verlierer leben könnte, wäre ich es etwas weniger. — In diesem Sinne, lieber Louis: Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
22.12.2012
2065 zeichen
eine alte frau
delta : 7.28 — Eine alte Frau in den Schuhen eines Mannes. Sie ist klein, sie geht gebückt. Der Mann, zu dem früher einmal die Schuhe der alten, gebückt gehenden Frau gehörten, muss ein Mann von stattlicher Größe gewesen sein. Sie kann ihre Füße nicht vom Boden heben, ohne den schützenden Raum der riesigen Schuhe zu verlassen. Deshalb geht sie in einer Weise, als sie würde auf Skiern laufen. Links in der Hand trägt sie einen Stock, auf den sie sich stützt, sobald sie einmal stehen bleibt. Sie trägt einen grauen Wintermantel, graue Hosen, einen grauen Schal. Auch ihr Haar ist von grauer Farbe. Eigentlich fällt sie kaum auf in der Menschenmenge, weil sie zierlich ist und ohne Laut. Sie wandert in ihren Schneeschuhen über den Zentralbahnhof von Mülleimer zu Mülleimer, um jeweils in die Tiefe der Behälterschlünde zu spähen. Ich frage mich, was sie suchen könnte, vielleicht Flaschen oder ein Brot oder den Rest eines Apfels. Ich kenne die Erscheinung dieser Frau, ich kenne sie seit Jahren. Sie ist ein Leichtgewicht, wenn ich sie mit den schweren, den vollständig vermummten Gestalten der New Yorker Straßen in Beziehung setze. Als ich sie zum ersten Mal wahrgenommen habe, dachte ich: Diese Frau könnte meine Mutter sein, was ist geschehen? Damals sah die alte Frau krank aus und schmutzig und sie roch sehr streng. Ihre Augen waren gelblich verfärbt, daran erinnere ich mich genau, ich überlegte, ob sie vielleicht bald sterben wird. Das war vor zwei oder drei Jahren gewesen. Wie ich sie heute wieder sehe, die alte Frau in den Schuhen eines Mannes, denke ich, sie ist wie eine Figur, die immer irgendwo in Bahnhöfen anwesend ist, die immer wieder über eine dieser Reisebühnen schreitet, ohne je weiterzufahren, diese Wege von Mülleimer zu Mülleimer und wieder zurück auf der Suche nach etwas Nahrung oder Pfand. An diesem Abend überhole ich sie, wende und bücke mich, sodass ich ihr nahekomme. Sie hält an, schaut mir in die Augen. Ihre Haut ist weich und weiß und ihre Pupillen sind klar. Ich sage: Entschuldigen Sie bitte. Darf ich ihnen etwas geben? In dem Moment, da sie mir eine Hand entgegenstreckt, sagt sie mit der Stimme eines Mädchens so hell: Danke, warum? — stop
nachtbäume
nordpol : 6.55 — Ein müdes Kind mit gerötetem Gesicht gestern Abend im Zug. Das Kind beobachtet, wie ich auf meiner Schreibmaschine notiere. Sehr aufmerksam schaut es zu, große Augen, die selbst nicht müde zu sein scheinen. Meine Finger sind zunächst schnell, bald werden sie langsamer unter diesem Blick, vielleicht weil ich an meine Hände zu denken beginne. Plötzlich erkundigt sich das Kind: Was schreibst Du? Ich antworte, ohne zu zögern: Ich schreibe von den Nachtbäumen. Was ist das, fragt das Kind. Nachtbäume sind Bäume, die in der Nacht wach sind und am Tag schlafen. Kann man sie sehen, will das Kind wissen. In diesem Moment begegnen sich unsere Blicke in der gleichen Frage. Ich habe keine Antwort und das Kind schließt seine Augen und schläft von einer Sekunde zu anderen Sekunde ein. — stop