whiskey : 2.45 — Das Fernsehen erzählte heute eine Geschichte von einem Jungen, der nahe der Stadt Fukushima im Strahlenmesszentrum Nihonmatsu in das Gehäuse einer Maschine gestellt wurde, um die Strahlenbelastung seines Körpers innen wie außen und von oben bis unten zu messen oder zu zählen, demzufolge von Kopf bis Fuß. Der Junge, auf dem Bildschirm mehrfach zu sehen, war noch nicht einmal zehn Jahre alt, er und seine Mutter wohnen in verseuchtem Gebiet. Ein Radiologe erzählte der Mutter, was sie zu ihrem Schutz im Wohnhaus unternehmen könnte. Sie sollte mit Wasser gefüllte Plastikflaschen auf die Fensterbretter der Zimmer stellen, gut geeignet seien die viereckigen Zweiliterflaschen. Ihr Sohn sollte, wenn möglich, im Erdgeschoss schlafen, nicht im ersten Stock. Am niedrigsten sei die Strahlenbelastung in der Mitte des Zimmers. Draußen sei die Strahlenbelastung umso höher, je tiefer man sich befindet. Aber im Haus sei das genau andersherum. Weiter unten sei die Dosis geringer. Das komme daher, dass das Cäsium, das sich auf dem Dach ansammelte, die Dosisrate in den Zimmern darunter erhöhe, eine plausible Begründung. Ich sah und hörte zu und dachte an Georges Perec, der notierte: Es ist ein Tag wie dieser hier, ein wenig später, ein wenig früher, an dem alles neu beginnt, an dem alles beginnt, an dem alles weitergeht. — stop
Aus der Wörtersammlung: ast
olkiluoto
romeo : 0.01 — Im Dokumentarfilm Into Eternity aus dem Jahr 2010 eine äußerst spannende Frage entdeckt: Ob vielleicht das Endlager für Atommüll Onkalo, auf der finnischen Halbinsel Olkiluotoi gelegen, welches um das Jahr 2100 herum für alle Zeit versiegelt werden wird, an Ort und Stelle vorsichtig markiert oder aber in einen Zustand versetzt werden sollte, dass es von Menschen vergessen werden könnte? Ein vielstimmiger Text geht dieser Frage nach: Ja, es existiert einerseits der philosophische Ansatz, dass es sinnvoll wäre, das Atommülllager Onkalo zu vergessen, eine Entdeckung wäre demzufolge nur durch Zufall denkbar. Wie aber ist es möglich, Vergessen zu organisieren? Anderseits könnte man das Endlager markieren. Ein nahe liegendes Modell wäre ein Stein mit einem Text darauf in geläufigen Sprachen der UN, je mit Hinweisen auf weitere Marker mit je weiterführenden Informationen bis hin zu einer steinernen Bibliothek, die in unterirdischen Räumen angelegt werden könnte. Hauptbotschaften sind: Dies ist ein gefährlicher Ort, bitte stört die Ruhe dieser Anlage nicht! Bildsprache käme nun ins Spiel, drastische Symbole oder abweisend gestaltete Landschaften, welche allerdings nicht zwingend wirkungsvoll sein werden. In Norwegen existiert ein uralter Stein, dessen Unterseite mit einer Runeninschrift versehen war: Do not move. Diese Warnung wurde von neuzeitlichen Archäologen komplett ignoriert. Wenn wir die Zeit spiegeln und 100000 Jahre in die Vergangenheit blicken, müssen wir einsehen, wir haben mit unseren Vorfahren, den „Neandertalern“, sehr wenig gemein. Es könnte sein, dass Menschen der Zukunft, die auf das Lager stoßen, über eine ganz andere Erscheinung verfügen, über andere Sinne und Bedürfnisse als menschliche Wesen unserer Zeit. Die Frage ist vollkommen offen, ob ein vernunftbegabtes Wesen in Zukunft irgendetwas sinnvoll interpretieren könnte oder wollte. In aller Kürze: Niemand weiß irgendetwas! Es ist existiert die Notwendigkeit einer Entscheidung trotz Unwägbarkeit. Man muss zu diesem Zeitpunkt sagen, was man weiß, und man muss sagen, wovon man weiß, dass man es nicht weiß, und auch wovon man nicht weiß, dass man es nicht weiß. — stop
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hongkong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuß auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge, mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen, wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herumgekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop
malcolm lowry
echo : 2.28 — Am 15. Januar des Jahres 2008, es war gegen 3 Uhr in der Nacht, erinnerte ich mich an eine Geschichte, die von Malcolm Lowry erzählt, genau genommen von seiner Art und Weise zu schreiben, nachdrücklicher noch von der Methode zu verlieren, was gerade eben noch notiert worden war. Malcolm, so der Erzähler der Geschichte, soll Gedanken auf jedes Stück Papier geschrieben haben, das in seine Reichweite gekommen war, auf Rechnungen, Speisekarten, Billetts beispielsweise, sofern er in einem Café oder in einer Bar Platz genommen hatte, um so lange notierend zu arbeiten, bis er ausreichend betrunken war, damit aufzuhören. Wie viele Wörter und Sätze sind wohl vom Wind in Wüsten oder auf Meere hinaus getragen worden, wie viele Bücher haben sich in Luft aufgelöst? Ich stelle mir immer wieder leidenschaftlich gerne vor, wie Malcolm Lowry in unserer Zeit seine Zeichenketten für die Welt abgelegt haben könnte. Sagen wir so: Lowry arbeitet nie wieder mit einem Bleistift. Er notiert seine Gedanken in eine federleichte, elektrische Maschine, die am Gürtel seiner Hose fest verankert wird. Sorgfältig von seiner Ehefrau Margerie Bonner programmiert, verbindet Malcolms persönliches Notiergerät unverzüglich Tastatur mit digitaler Sphäre, sobald sich der Autor, gleich welcher geistigen Verfassung, mit der einen oder der anderen Hand nähert. Nun schreibt der Autor. Er arbeitet, vielleicht stehend, vielleicht sitzend, vielleicht liegend. Und während er so arbeitet, wird Zeichen für Zeichen unverzüglich an einen geheimen Ort der Speicherung gesendet. Dort, dropzone, könnte man sitzen und warten und betrachten, wie der Text, um den Bruchteil einer Atomsekunde in der Zeit verrückt, vollzogen wird. — Nachtflugkäfer sind in der Luft. — stop
apollo
sierra : 0.58 — Zwei Stunden vor Computermaschine. Ich beobachtete wieder einmal Astronauten einer Apollomission, wie sie sich Fischen gleich durch ihre Kapsel oder durch den Weltraum bewegen. Indem ich verfolge, wie sie vor einer Kamera an Spielobjekten Wirkungen der Schwerelosigkeit demonstrieren, indem ich ihre beschädigten Funkstimmen höre, die Erinnerung an den Gedanken, dieses Scheppern, Pfeifen, Knistern, Krächzen könnte entstanden sein, weil ihren Stimminstrumenten das Gewicht der Welt entzogen wurde. Sie erscheinen nun als Gefangene eines Filmdokumentes. Wie wird sich meine eigene Stimme vielleicht in den sieben Jahren, die vergangen sind, seit ich das Filmdokument zuletzt beobachtete, verändert haben? — stop
ein selbstgespräch
nordpol : 15.12 — Oder ein Chatraum, in dem 200 Jahren lang eine Person mit sich selbst kommuniziert. Plötzlich erscheint das erste Zeichen einer weiteren Person, dann ein ganzes Wort in diesem Raum. — HELLO! — Langes Schweigen. — Jahre andauerndes, schweigendes Warten wie Staunen. Dann, unvermittelt, ein Jahrzehnt ist vergangen, wird das Selbstgespräch in einer Weise fortgesetzt als wäre das Wort HELLO niemals ausgesprochen oder empfangen worden: /// guten abend! wie geht es dir? — gut! und dir? — prächtig. — schön zu hören. lange nicht gesprochen, wo liegt dein problem? — ich habe heute abend kein problem. — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! — darf ich dir eine frage stellen? — sicher! — was bedeutet das wort luftwellensegel? — hast du schmetterlinge im bauch? — bitte! bleiben wir ernst, bleiben wir bei der sache: was bedeutet das wort luftwellensegel? — lass uns das eine weile zurückstellen. — warum? — erzähl weiter! — hast du schon andere gefragt? — aber natürlich! — schön zu hören. wo liegt dann dein problem? — ich habe heute abend kein problem! — wenn du dein problem nicht kennst, bist du hier genau richtig! ich sehe, du bist ein schwieriger fall. /// — stop
im nachtpark
alpha : 4.52 — Gestern, am frühen Morgen, spazierte ich im Adorno Park. Die Vögel schliefen noch, beinahe Lichtlosigkeit. Wie ich so ging und überlegte, entdeckte ich eine Gestalt, die auf einer Bank unter einer Kastanie saß. Sie bewegte sich nicht im mindesten und schien, obwohl doch kaum Licht existierte, in einer Zeitung zu lesen. Auch die Zeitung bewegte sich nicht, vielleicht weil kein Wind. Ein merkwürdiger Anblick. Ich stand ganz still und wartete. Ich warte ein oder zwei Minuten lang, dass sich die Gestalt auf der Bank für einen Moment bewegen möge, ein Lebenszeichen von sich geben, ein Geräusch vielleicht. Ich dachte noch, das könnte ein seltsamer Anblick sein für einen hinzukommenden Beobachter, ein Mann, der reglos auf einer Bank sitzt, während er von einem weiteren reglos stehenden Mann betrachtet wird. Nun wird vielleicht auch dieser Beobachter staunend oder furchtsam innehalten, was für eine seltsame Sache. Zum Glück wird es bald hell werden, die Vögel werden erwachen und das Licht begrüßen, oder sie werden ganz still sein vor Verwunderung, welch unerhörte Dinge sich in ihrem Park ereignen. — Fünf Uhr zweiundfünfzig in Palmyra, Syria. — stop
siatista mittags jahre später
echo : 5.08 — Vor Jahren einmal wurde mir erzählt, ein sehr alter Mann habe sich aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinten, weil er im hohen Alter noch hungern musste, an einem wunderschönen Maitag auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war damals zu erfahren gewesen, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge hin wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später soll das Projektil eine Fliege getötet haben, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. — Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? Ich habe noch immer keine Antwort auf diese Frage. — stop
ai : SUDAN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Zwei Mitglieder der presbyterianischen Kirche im Südsudan, Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen, sind am 1. März auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs in acht Punkten unter Anklage gestellt worden. Zwei der ihnen zur Last gelegten Straftaten können die Todesstrafe nach sich ziehen. Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen waren am 21. Dezember 2014 bzw. am 11. Januar 2015 vom sudanesischen Geheimdienst (NISS) festgenommen worden und wurden bis zum 2. März 2015 ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Sie wurden am 1. März auf der Grundlage des Strafgesetzbuchs von 1991 unter Anklage gestellt. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten sind “gemeinsame Handlungen zur Planung einer kriminellen Handlung”, “Unterwanderung der verfassungsmäßigen Ordnung”, “Krieg gegen den Staat”, “Spionage gegen das Land”, “Enthüllung und Erhalt von Informationen und offiziellen Dokumenten”, “Schüren von Hass zwischen religiösen Gruppen”, “Störung des öffentlichen Friedens” und “Beleidigung von religiösen Überzeugungen”. Auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs können die Straftatbestände “Krieg gegen den Staat” und “Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung” mit der Todesstrafe geahndet werden, während die übrigen sechs Straftatbestände eine Prügelstrafe nach sich ziehen. Es ist davon auszugehen, dass die beiden Geistlichen wegen ihrer religiösen Überzeugungen festgenommen und angeklagt wurden. Der NISS hielt die Gefangenen bis zum 2. März ohne Kontakt zur Außenwelt fest. An diesem Tag wurden sie ins Gefängnis Kober in Khartum verlegt, und man gestattete ihnen erste Familienbesuche.Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen traten am 28. und 29. März zwei Tage in den Hungerstreik, um gegen ihre fortgesetzte Inhaftierung und die Verweigerung des Zugangs zu Rechtsbeiständen zu protestieren. Sie werden derzeit von einem pro bono tätigen Anwaltsteam vertreten. Am 19. und am 31. Mai haben bereits Anhörungen im Fall der beiden Geistlichen stattgefunden. Am 15. Juni soll ihre Verfahren fortgesetzt werden. Amnesty International betrachtet Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen als gewaltlose politische Gefangene, die allein wegen der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung festgenommen, inhaftiert und angeklagt wurden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 21. Juli hinaus, unter »> ai : urgent action
von der wirbelkastenschnecke
tango : 3.52 — Gestern war ein heißer Tag gewesen, es war heiß in der Küche, heiß in den Zimmern zum Schlafen, zum Spazieren, heiß im Bad, im Treppenhaus, sogar im Keller, auf der Straße und in der Trambahn war es so heiß, dass ich mich gern sofort in einen Kühlschrank gesetzt haben würde. Als ich das Wort Kühlschrank dachte, erinnerte ich mich an einen hölzernen Kühlschrank, den ich mir einmal ausgemalt hatte, da war ich gerade auf dem Postamt, auch da war es heiß, und die Männer und Frauen hinter dem Tresen schwitzten. Ausgerechnet an einem Tag heißer Luft erreichte mich ein Päckchen, auf das ich seit beinahe zwei Wochen in außerordentlicher Kälte wartete. Ich hatte bei Hvalfjördur Corporation eine Scheibe aus dem Brustbein eines Pottwales bestellt, aber die isländische Post war acht Tage lang in einen Streik getreten, und so war das gekommen, dass das Päckchen einen erbärmlichen Gestank verströmte, was mich nicht im Mindesten wunderte, da man vergessen hatte, das Brustbein des Wales, der bereits im Mai gefangen und zerlegt worden war, ganz und gar von Blut zu befreien. Nun aber ist alles wieder in Ordnung. Ich habe den Knochen, der erstaunlich leicht in der Hand liegt, gründlich gereinigt, nur noch ein leiser Verdacht von Verwesung liegt in der Luft, ist vermutlich nicht tatsächlich, ist vielmehr ein Faden von Erinnerung. Sobald der Knochen getrocknet sein wird, werde ich einen ersten Versuch unternehmen, eine Schnecke aus ihm zu schnitzen, die der Wirbelkastenschnecke einer Geige ähnlich sein wird. – Samstag, kurz vor Dämmerung. Es ist noch immer heiß. Vor den Fenstern jagen Fledermäuse. – stop