nordpol : 0.12 — Wie gut, dass digitale Suchmaschinen existieren, die in der Lage sind, diesen Ort : particles : zu durchsuchen, sobald ich eine Frage an ihn richte, zum Beispiel, wie oft ich das Wort Blau verwendet habe in den vergangenen Jahren ( : 53 Mal ), oder das Wort Rot ( : 35 Mal ), das Wort Orange ( : 10 Mal, eher selten ), auch mit dem Wort Gelb war ich sparsam gewesen ( : 18 Mal ). Als ich das Wort Gelb, die Häufigkeit seines Vorkommens prüfte, erinnerte ich mich an einen wunderbaren Text, Uwe Johnsons Brief aus New York, in dem das Wort Gelb eine hervorragende Rolle spielt. Der Text beginnt so: Über was hier anders ist / in New York im Staat New York / weißt du es ist eine von jenen Städten in die die westberliner Zeitungsverleger kleine Klingeln aus Porzellan schicken an Familien denen ein Angehöriger umgebracht wurde bei dem Versuch Angehörige anderer Familien umzubringen / in Vietnam das ist noch hinter der Türkei / ein Brief über was hier anders ist über einen Unterschied / Ende der Überschrift // Gelb, zum Beispiel / Gelb ist hier anderswo / ich meine die ganze Farbenfamilie / was noch gelb ist oder so nahe an Gelb wie Ocker oder Kanarienvogel oder überhaupt alles im Bereich zwischen Rot und Grün / nicht nur any of the colors normally seen when the portion of the physical spectrum of wave lengths 571,5 to 578,5 millimicrons employed as a stimulus wie Webster sagt / sondern auch was mal gelb war / Gelb ist hier anderswo / nicht nur im Ei in den Mongolen in der Gelbsucht in Schwämmen Schmetterlingen Butterblumen / nie so viel Gelb gesehen wie hier … / — stop. Ich habe diesen Text in dem Buch Eine Literarische Landkarte entdeckt, das von Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1999 herausgegeben wurde. Gleich werd ich mich an meinen Schreibtisch setzen und mit Bleistift ausgerüstet, das Wort Gelb zu zählen beginnen. — stop
Aus der Wörtersammlung: buch
auf stelzen
delta : 5.15 — Ein merkwürdiger Tag, die halbe Stadt steht im Wasser wie auf Stelzen. Man hört das Wasser nicht, aber es ist anwesend, in den Kellern, in den Stimmen in den Telefonen, den Unterführungen, den tiefer gelegenen Straßen. Spät, hoch auf einem Stelzhaus, sagte Marguerite Duras in einem Gespräch mit dem französischen Regisseur Benoît Jacquot gestern auf einem Fernsehbildschirm berührende Sätze über das wilde Schreiben, über die Verbindung von Zweifel und Einsamkeit. Ein Schriftsteller sei stumm. Unmöglich, über ein Buch zu sprechen, das gerade im Entstehen begriffen ist. Ein Buch sei Nacht. — stop
brighton beach ave
~ : louis
to : mrs. valentina zeiler
brooklyn translation services
23 brighton beach ave,
Brooklyn
subject : BRYANT PARK
Sehr geehrte Frau Zeiler, ich danke Ihnen herzlich für Ihre rasche Antwort. Ich will nun abschließend den Auftrag erteilen, mein unten folgendes Schreiben in die englische Sprache zu übersetzen. Ich bitte um sorgfältigste Arbeit, Sie werden erkennen, in diesem Text ist von einem Reisetunnel nach Amerika die Rede, der in meiner Vorstellung von äußerster Bedeutung ist, ein poetischer Entwurf, jedes Wort scheint mir für seine Verwirklichung von hoher Bedeutung zu sein. Mit vereinbarter Vergütung bin ich einverstanden, der Betrag von 82 Dollar wurde bereits angewiesen. Weitere Aufträge werde ich mit Ihnen in Kürze bei einem Besuch in ihrem Büro persönlich besprechen. Darf ich an dieser Stelle meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, dass die Übersetzung desselben Textes in die chinesische Sprache 122 Dollar kosten würde? Ich frage mich, worin die erhebliche Differenz von 40 Dollar begründet sein könnte. Mit allerbesten Grüßen – Ihr Louis
BRYANT PARK — 570 WÖRTER > GO /// Es hatte Stunden lang geregnet, jetzt dampfte der Boden im südwärts vorrückenden Nordlicht, und das Laub, das alles bedeckte, die steinernen Bänke, Brunnen und Skulpturen, die Büsche und Sommerstühle der Cafés, bewegte sich trocknend wie eine abgeworfene Haut, die nicht zur Ruhe kommen konnte. Boulespieler waren vom Himmel gefallen, fegten ihr Spielfeld, schon war das Klicken der Kugeln zu hören, Schritte, Rufe. Wie ich so zu den Spielern schlenderte, kreuzte eine junge Frau meinen Weg. Sie tastete sich langsam vorwärts an einem weißen, sehr langen Stock, den ich eingehend beobachtete, rasche, den Boden abklopfende Bewegungen. Als sie in meine Nähe gekommen war, vielleicht hatte sie das Geräusch meiner Schritte gehört, sprach sie mich an, fragte, ob es bald wieder regnen würde. Ich erinnere mich noch gut, zunächst sehr unsicher gewesen zu sein, aber dann ging ich ein Stück an ihrer Seite und berichtete vom Oktoberlicht, das ich so liebte, von den Farben der Blätter, die unter unseren Füßen raschelten. Bald saßen wir auf einer nassen Bank, und die junge Frau erzählte, dass sie ein kleines Problem haben würde, dass sie einen Brief erhalten habe, einen lang erwarteten, einen ersehnten Brief, und dass sie diesen Brief nicht lesen könne, ein Mann mit Augenlicht hätte ihn geschrieben, ob ich ihr den Brief bitte vorlesen würde, sie sei so sehr glücklich, diesen Brief endlich in Händen zu halten. Ich öffnete also den Brief, einen Luftpostbrief, aber da standen nur wenige, sehr harte Worte, ein Ende in sechs Zeilen, Druckbuchstaben, eine schlampige Arbeit, rasch hingeworfen, und obwohl ich wusste, dass ich etwas tat, das ich nicht tun durfte, erzählte meine Stimme, die vorgab zu lesen, eine ganz andere Geschichte. Liebste Marlen, hörte ich mich sagen, liebste Marlen, wie sehr ich Dich doch vermisse. Konnte so lange Zeit nicht schreiben, weil ich Deine Adresse verloren hatte, aber nun schreibe ich Dir, schreibe Dir aus unserem Café am Bryant Park. Es ist gerade Abend geworden in New York und sicher wirst Du schon schlafen. Erinnerst Du Dich an die Nacht, als wir hier in unserem Café Deinen Geburtstag feierten? Ich erzählte Dir von einer kleinen, dunklen Stelle hinter der Tapete, die so rot ist, dass ich Dir nicht erklären konnte, was das bedeutet, dieses Rot für sehende Menschen? Erinnerst Du Dich, wie Du mit Deinen Händen nach jener Stelle suchtest, wie ich Deine Finger führte, wie ich Dir erzählte, dass dort hinter der Tapete, ein Tunnel endet, der Europa mit Amerika verbindet? Und wie Du ein Ohr an die Wand legtest, wie Du lauschtest, erinnerst Du Dich? Lange Zeit hast Du gelauscht. Ich höre etwas, sagtest Du, und wolltest wissen, wie lange Zeit die Stimmen wohl unter dem atlantischen Boden reisten, bis sie Dich erreichen konnten. – An dieser Stelle meiner kleinen Erzählung unterbrach mich die junge Frau. Sie hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, lächelte mich an und flüsterte, dass das eine schöne Geschichte gewesen sei, eine tröstliche Geschichte, ich sollte den Brief ruhig behalten und mit ihm machen, was immer ich wollte. Und da war nun das aus dem Boden kommende Nordlicht, das Knistern der Blätter, die Stimmen der spielenden Menschen. Wir gingen noch eine kleine Strecke nebeneinander her, ohne zu sprechen. Ich sehe gerade ihren über das Laub tastenden Stock und ein Eichhörnchen mit einer Nuss im Maul, das an einem Baumstamm kauerte. Beinahe kommt es mir in dieser Sekunde so vor, als hätte ich dieses Eichhörnchen und seine Nuss nur erfunden. /// END
von hölzernen büchern
echo : 5.08 — Ein Freund, der viele Jahre lang Notizzettel sammelte, berichtete, er wolle eine Bibliothek gründen, in der sich ausschließlich Bücher befinden werden, die nie geschrieben oder nie zu Ende geschrieben worden sind, Bücher, die nur in den Gehirnen der Schriftstellerinnen und Schriftsteller existierten, Bücher, die vielleicht bedeutende Bücher gewesen wären, aber nicht geschrieben wurden, weil ihre Autoren zu früh verstarben, oder weil sie zu arm waren und andauernd arbeiten mussten, weswegen ihre Bücher nur ausgedacht wurden, gewünscht, erhofft. Er habe einmal einen Büchertisch gesehen, auf dem wirkliche Bücher lagen, in welchen man blättern konnte, und in nächster Nähe ruhten Buchkörper von Holz, das waren jene ausgedachten Bücher, wie Platzhalter im Raum, Mahnung, Erinnerung. Von dieser Art hölzerner Bücher sollte seine Bibliothek gebildet sein, er habe zahlreiche Briefe in dieser Sache verschickt, nach Island zum Beispiel, nach Österreich, nach Nordamerika, Venezuela, Kolumbien, den Senegal, Südafrika, nach Tasmanien. — stop
von marienkäfern und wodka
tango : 2.00 — Vor drei Wochen entdeckte ich in einem Münchener Antiquariat ein schweres Notizbuch DIN A3, in welches ein Mann, der für einige Monate in einem Bergwald lebte, mit winzigen Schriftzeichen Beobachtungen, Erlebnisse, Gedanken verzeichnete. Es muss zur Sommerzeit gewesen sein, das Jahr der Aufzeichnungen wurde nicht vermerkt, auch nicht der volle Name des Mannes, nur sein Vorname, der war Ludwig. Das Dokument umfasst beinahe siebenhundert Seiten, es scheint mehrfach feucht geworden zu sein, da und dort sind zwischen den Blättern getrocknete Wiesenblumen zu finden, die mittels des Buchgewichtes präpariert worden waren, auch habe ich mehrere Ameisen vollkommen leblos aufgefunden, sowie Marienkäfer, die den Anschein erweckten, als würden sie gerade noch versucht haben, auf und davonzufliegen, als sie von einer Buchseite, die umgeblättert wurde, gefangen genommen wurden. Was war es gewesen, das den Mann in den Wald lockte? Vielleicht die Stille und das wunderbare Licht der Höhe? An einem Julitag, es war der 5., folgender Eintrag: Höhe 1258 m. Kein Wind, keine Wolke am Himmel. Ich sitze und beobachte Schafe, wie sie unter mir über eine Wiese spazieren. Wunderbare Geräusche der kleinen Halsglocken. Zum Wodka ist mir heute Morgen eingefallen, dass Menschen existieren, die Wodka bevorzugt in Mineralwasserflaschen füllen. Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Verkleidung oder des Verheimlichens. Der Wodka ist versteckt, obwohl er sichtbar ist. Das eigentliche Versteck ist die Methode der Behauptung, etwas anderes zu sein. Ähnlich verhält es sich mit Mixturen, die üblicherweise an Arbeitsplätzen zur Anwendung kommen. Eine Thermoskanne ist Aufenthaltsort einer guten Begründung, diese Begründung besteht aus der Flüssigkeit des Kaffees. In diese Begründung ist das Eigentliche, der Cognac, eingewickelt. — stop
von muffins
tango : 1.10 — In der vergangenen Nacht hatte ich einen lustigen Traum. Ich beobachtete, wie ich mit einem gespitzten Stück blauer Kreide in mein Papiernotizbuch notierte. Ich schrieb ungefähr ein Wort auf eine Seite. Sobald das Wort, das ich schreiben wollte, über zu viele Zeichen für den Umfang einer Seite meines Notizbuches verfügte, überlegte ich, ob vielleicht ein kürzeres Wort existieren könnte, um das längere Wort zu ersetzen. Plötzlich näherte sich eine Hand von der Seite her, nahm mir das Stück Kreide behutsam aus den Fingern, reichte mir stattdessen einen Bleistift, und ich schrieb in großen Buchstaben weiter, die von Seite zu Seite immer kleiner wurden, kleiner und kleiner, bis ich meine Schrift nicht mehr lesen konnte. Immer noch Traum. Ich gehe spazieren. Frischer Nachtschnee knistert unter meinen Füßen. Es ist ein sonniger Tag in Brooklyn, am Ende einer Straße schimmert das Meer. Ein paar glänzende Flugzeuge schweben dort über den Himmel, sie fliegen auf dem Kopf. Kurz darauf betrete ich ein Café, es ist, glaube ich, das Buon Gusto in der Montague Street. Vor einer Vitrine in der Tiefe des schmalen Raumes wartet ein Polizist. Er ist groß und von kräftiger Statur und seine Haut sehr schwarz, und ich denke, er weiß, dass ich denke, dass er sehr schwarz ist, und er lacht und deutet ins Innere der Vitrine, wo ein gutes Dutzend Muffins auf aprikosenfarbenen Deckchen ruhen. Einer der kleinen Kuchen bewegt sich, ein Blaubeermuffin, seitwärts ragt ein gefiedertes Flügelchen heraus, das wild um sich schlägt, weshalb der kleine Kuchen sich immer schneller auf der Stelle dreht. Seite an Seite stehen der riesige Mann und ich, ein kleiner Mann, leicht vorgebeugt und staunen über das Geschehen in der Vitrine. Plötzlich wird es still, der Flügel ist im Muffin verschwunden, und der Polizist flüstert mir zu: Er gehört zu Ihnen, nicht wahr! Ich antworte: Ich glaube, er ist eingeschlafen. — stop
pocket george
tango : 2.58 — George schrieb vor wenigen Tagen einen handschriftlichen Brief. Er wende sich mit einer dringenden Bitte an mich, er benötige etwas Geld, weil er im Moment zu wenig davon habe. Seine Telefonrechnung sei ihm über den Kopf gewachsen, außerdem habe er sich bei einem Auftrag für den Druck eines Buches vertippt, er habe anstatt 200 Exemplaren 20000 Exemplare seiner Geschichte vom Walfischorchester bestellt. Diese wunderbare Auflage sei prompt und ohne jede Nachfrage geliefert worden. Während er sich noch wunderte, wie ein Paket nach dem anderen Paket von drei oder vier Männern in seine Wohnung verfrachtet wurde, war bereits ein erheblicher Betrag von seinem Konto abgebucht, sodass er jetzt kaum noch die Möglichkeit habe, sich Brot, Käse oder Wasser zu besorgen, er sei verschuldet bis über beide Ohren hinaus bereits seit drei Monaten. Natürlich habe er gehofft, aber sein Hoffen habe nicht gewirkt, nun seien nicht nur er selbst, sondern auch seine Archive bedroht, die er in digitaler Sphäre auf Position POCKET gesammelt habe. Ihm sei damit gedroht, bei weiterem Zahlungsverzug, sein professionelles Konto unverzüglich in ein nicht professionelles Konto zu verwandeln, seine Daten würden verloren gehen, weswegen er nun sehr verzweifelt sei, nicht nur verzweifelt, sondern müde, er zögere, seinen Computer überhaupt noch mit dem Internet zu verbinden, weil das Internet dann seine Daten sogleich aus seinen Speichern zurückholen würde, er habe nicht geahnt, dass er einmal in eine derart verzweifelte Lage kommen, dass sich das Internet als ein derart gefräßiges Tier darstellen würde, welches seinen Computer, seine Sammlung aus dem Web verschwundener Seiten an sich reißen würde, man kann mit diesen Raubtieren nicht einmal telefonieren, schrieb George vor wenigen Tagen.- stop
zerzaust
victor : 0.55 — L. erzählt, sie habe einmal eine Frau gekannt, die weder in Büchern las noch in Zeitungen. Trotzdem sei diese Frau, deren Namen sie nicht in Erinnerung habe, Wörtern sehr eng verbunden gewesen, da sie pausenlos Wörter notierte. Sie schrieb mit der Hand, sie schrieb in Cafés, U‑Bahnen, auf Bänken sitzend in Parks einer Stadt, die sie ein Leben lang nie verlassen haben soll. Sie schrieb an einem einzigen Buch, an einem Buch, das sie stets in einer weiteren Variante mit sich führte, im Grunde an einem Buch einerseits, das sie bereits aufgeschrieben hatte, und einem Buch andererseits, in dem sie das Buch, das zu Ende geschrieben worden war, wiederholte, aber natürlich nicht, ohne das Buch im Prozess des Abschreibens zu ergänzen. Jede Ergänzung wurde sorgfältig überlegt, manchmal wurden Wörter ersetzt, ganze Sätze oder ein Gedanke hinzugefügt, selten eine Passage gestrichen. In dieser Weise veränderte sich das Buch, das Buch nahm an Umfang zu, wurde langsam schwerer. Immer dann, wenn ein Buch abgeschrieben worden war, verschwand das abgeschriebene Buch. Und wiederum begann die Frau eine weitere Kopie anzufertigen, die sich im Prozess der Verdopplung scheinbar nur unwesentlich von ihrem Original unterscheiden würde. Der Rücken der Frau war leicht gekrümmt, sie ging viel spazieren und war stets sorgfältig gekleidet. Sie soll schon ein wenig wild ausgesehen haben, zersaust, aber glücklich, sagen wir, zerzaust und immer beschäftigt und irgendwie fröhlich. Sie notierte zierliche, äußerst exakte Zeichen. — stop
south ferry
delta : 5.15 — Heute Nacht vor dem Fenster wieder eine Stille, dass ich für einen Moment fürchtete, mein Gehör verloren zu haben. Dann leichter Regen. Man sieht es den Bäumen nicht an, aber sie schlafen. Gegen fünf Uhr erinnere ich mich an Uwe Johnsons Jahrestage. Es ist ein schweres Buch, das ich aus dem Regal hebe, 1702 Seiten feines Papier, seine Buchstaben sind von Jahr zu Jahr kleiner geworden, höchste Zeit, den Roman in eine Lesemaschine zu laden. Ich stellte mir vor, wie Louis einmal Uwe Johnsons Werk, indem er liest, in großformatige Notizbücher übertragen könnte. Oder eine Brille: Sonnabend ist der Tag der South Ferry. Der Tag der South Ferry gilt als wahrgenommen, wenn Marie mittags die Abfahrt zur Battery ankündigt. Die Fähren zwischen der Südspitze von Manhattan und Staten Island sah sie zum ersten Mal vom Touristendeck der ›France‹ aus, da musste sie noch über die Reling gehoben werden. Sie starrte feindselig auf den Hochhauskaktus Manhattans, der zu Riesenmaßen wuchs, statt zu menschlichen abzunehmen; mit Neugier betrachtete sie die Fährboote, die neben dem Überseeschiff das New Yorker Hafenbecken ausmaßen, mehrstöckige Häuser von blau abgesetztem Orange, rasch laufend wie die Feuerwehr. Sie nickte benommen, als Gesine ihr die Fahrzeuge nicht erklären konnte; bei einem Ausflug erkannte sie den Typ auf den zweiten Blick, obwohl die Fährportale ihr das Äußere mit Scheuklappen zugehängt hatten. Die South Ferry war ihr erster Wunsch an New York. — stop
es ist abend
marimba : 6.02 – Wie Schnee, ein gutes Dutzend Menschenfotografien. Von L., die über einem Buch eingeschlafen ist, wie sie an einem Küchentisch sitzt, den Kopf auf ihre Hände gebettet, sie muss bemerkt haben, dass sie gleich das Bewusstsein verlieren wird. Von M., der im Wald über eine Wiese voller Schneeglöckchen spaziert, ein Manuskript in der linken Hand, dessen Sätze er auswendig lernen muss, um sie auf einer Bühne zu sprechen. Er geht schnell, weil kaum noch Zeit ist, aber das ist auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht zu erkennen. Von P., die vor einer Erdmulde unter einer Birke steht. Das Grab der Eltern ist verschwunden, der Hügel voller Blumen, ein Gedenkstein, aber die Birke ist noch da, sie war schon da, als sie geboren wurde, und sie weiß, dass tief da unten auch die Knochen der Eltern noch immer anwesend sind. Von I., der sich, wie ein Jahr zuvor, Tag für Tag darüber freut, dass er das Wort Kühlschrank zu erinnern vermag. Von J., die einen Fotoapparat auf sich selbst richtet an einem Abend, da sie bemerkt, dass das Sausen in ihren Ohren plötzlich verschwunden ist, wie sie der Stille lauscht. Von K., die über eine Straße stürmt auf dem Weg zum Tanz, barfuß, ihre roten, flachen Lederschuhe in der rechten Hand, und obwohl es regnet, wirbeln nasse Blätter hinter ihr durch die Luft. Von N., deren Schwester in Kobanê kämpfte, wie sie schläft. Die Schwester soll N. ähnlich gewesen sein, aber niemand weiß das so genau, weil die Schwester vor 15 Jahren in den Untergrund verschwand, weil sie in den Bergen kämpfte, weil der Krieg mit Menschengesichtern macht was er will, weil sie nie wieder zurückkehren wird. Von M., die im Dezember noch in den Bergen wanderte auf einer Alm, wo der Schnee Muster auf eine Wiese zeichnete, wie sie auf der Haut der Sommerkühe anzutreffen sind. Von dem kleinen H. aus Aleppo, der sich wundert, dass er noch immer lebt. Er zeigt gerade Siegeszeichen mit beiden Händen, als der Fotograf seinerseits seine letzte Aufnahme macht. Von K., der mit geschlossenen Augen auf einer Violine spielt, die aus Stirnknochen eines gestrandeten Wales geschnitzt wurde. Von Y., die in einem feinen dunkelblauen Kostüm nahe Columbus Circle im Central Park neben einem Rollkoffer steht und mit einem Eichhörnchen spricht, das mit gespitzten Ohren vor ihr sitzt. Es ist Abend. — stop