whiskey : 2.12 — Ein äußerst geduldig dahinfahrender Zug : 2,5 mm / Stunde. Indem der Zug eine Stadt verlässt, um in eine 5 Kilometer entfernte Stadt weiterzufahren, wird er für 228 Jahre ohne Bahnhof sein. Wer könnte in dieser Zeit die Geleise behüten, wer garantieren, dass der Zug jemals einen von Menschen bewohnten Ort erreichen wird? Wie schnell würden sich reisende Personen im Zug in den Augen eines Beobachters bewegen? Wären ihre Bewegungen überhaupt sichtbar? Fünf Herzschläge von Winter zu Winter. — stop
Aus der Wörtersammlung: eisen
safranmantel
~ : oe som
to : louis
subject : SAFRANMANTEL
date : april 24 14 10.55 p.m.
Es war, lieber Louis, vor zwei Tagen gewesen, als Noe die Lektüre der Metamorphosen Ovids von einer Sekunde zur anderen Sekunde unterbrach. Er las noch folgende Sätze des 10. Buches: Durch die unendliche Luft, vom Safranmantel umhüllet, geht Hymenäus einher, zu dem kalten Gebiet der Cikonen, wo ihn umsonst anflehet der Ruf des melodischen Orpheus. Jener erscheint ihm zwar; doch nicht heiljauchzende Worte bringt er, noch fröhlichen Blick, noch Ahnungen glücklicher Zukunft. Selbst die gehaltene Fackel erzischt in betränendem Dampfe immerdar und gewinnt nicht einige Glut von Bewegung. Schrecklicher war der Erfolg, wie die Deutungen. Durch die Gefilde Schweifte die jüngst Vermählte, vom Schwarm der Najaden begleitet, ach, und starb, an der Ferse verletzt von dem Bisse der Natter. Als zu dem Himmel empor der rhodopeische Sänger lange die Gattin beweint, jetzt auch zu versuchen die Schatten. — Plötzlich Stille, auch keine Atemgeräusche, Nacht. Marlen hatte Dienst. Nachdem sie, trotz mehrfacher Versuche, keinen Kontakt zu Noe aufnehmen konnte, weckte sie uns. Wir lauschten gemeinsam in die Tiefe, ungefähr eine Stunde lang. Es war nichts Ungewöhnliches um uns her zu bemerken, auch auf dem Radar kein Hinweis auf Fischschwärme oder Wale, die Noe nahegekommen sein könnten. Am frühen Morgen, Taucher Noe hatte seine Lektüre nicht wieder aufgenommen, aber er atmete gleichmäßig und hatte getrunken, machte sich Bob auf den Weg in die Tiefe. Zwei Stunden dauerte sein Abstieg, dann meldete er mit flüsternder Stimme: Ein U‑Boot in unserer Nähe. Es scheint uns zu umkreisen, ein dunkler Schatten, ein beeindruckend großes Schiff. Ich habe mich Noe genähert. Er lachte mich an. Das U‑Boot trägt keinerlei Hoheitszeichen. Ein feiner Strahl von Licht bewegt sich in unsere Richtung wie ein Finger, ohne uns zu berühren. — stop. — Es ist Donnerstag geworden, später Abend. Bob befindet sich noch immer in 800 Fuß Tiefe bei Noe. Auch das U‑Boot kreist weiterhin unter uns. Vor einer Stunde nahm Noe seine Lektüre wieder auf, unsichere Stimme, aber immerhin eine Stimme, die liest. Wir sind froh darum. Der Himmel über uns, ohne Wolken. Sterne. Prächtig. — Dein OE SOM
gesendet am
24.04.2014
2155 zeichen
MELDUNGEN : OE SOM TO LOUIS / FIN
habitat
ulysses : 5.08 — Ich kam ins Gespräch mit einem Mann, der vom Projekt einer Menschengestaltung erzählte. Das war inmitten der Nacht im Café gewesen. Ich erinnere mich, dass ich ihn fragte, ob er Forscher oder Designer sei, weil er anatomische Zeichnungen mittels eines iPads studierte. Eine der Zeichnungen stellte einen Unterarm dar, wie er in der Wirklichkeit von oben herzusehen sein würde. Auf diesem gezeichneten Arm waren Erhebungen zu erkennen, wabenförmige Formationen von einem Zentimeter Höhe, die mich an pockenartige Gebilde erinnerten, aber doch regelmäßig und eben künstlichen Ursprungs waren, mit Vorsatz erstellt. Ich hörte, dass es sich bei diesen Gebilden um kleine Häuser handeln soll, in welchen Tiere angesiedelt werden könnten, Zwergbienen, jedoch bevorzugt Ameisen oder sehr kleine Fliegen. Stellen Sie sich vor, sagte der Mann, was sie hier sehen an dieser Stelle, sind von Haut bewachsene Habitate, dort existierten tausende Tiere, die nur darauf warten, bei bester Gelegenheit auszuschwärmen, sagen wir so. Unverzüglich flatterte ein Nachtfalter von dunkelblauer Farbe um den Kopf des Mannes herum. Weitere kamen hinzu, bald waren es so viele, dass ich sie nicht zählen konnte. Sie kletterten unter dem Hemd des Mannes hervor, an den Armen und am Kragen. Ein leises Rauschen war zu vernehmen und die Luft schmeckte bitter. Ich hörte noch, wie sich der Mann erkundigte, ob ich nicht doch beeindruckt sei. Ich berichtete ihm ausführlich von meiner Begeisterung, von meinem Wunsch, selbst über Habitate dieser Art verfügen zu dürfen, es war eine nachdrückliche Art und Weise zu sprechen, und doch weiß ich nicht, ob der Mann mich zu diesem Zeitpunkt noch sehen konnte oder hören, so dicht war die Wolke flatternder Tiere geworden. Nach wenigen Minuten stand ich auf und ging davon und erwachte. Und weil noch Nacht war, schlief ich gleich wieder ein. — stop
sahara
sierra : 3.28 — Jane Goodall erzählt eine faszinierende Geschichte von Wahrnehmung und Wirklichkeit in den ersten Minuten eines Dokumentarfilms, der ihr Leben schildert. Sie sagt Folgendes: Ich hatte es ziemlich satt, dass mich die Leute für Diane Fossey hielten und sagten: Ihr Film Gorillas im Nebel war wundervoll. Ich sagte dann immer: Sie haben den Film gesehen? — Ja! — Dann wissen die doch, dass die Dame getötet wurde, oder? — Ja! ‑Aber ich bin doch da! — stop. Frühe Nacht. In diesem Jahr zum ersten Mal die Fenster nach Mitternacht geöffnet. Esmeralda sitzt auf dem Brett neben Kakteen, sie scheint Sterne zu betrachten. Gedämpftes Licht vom nordostwärts reisenden Staub der Sahara. Gestern noch träumte ich von einem Telefongespräch mit Jules Verne, der mit heller Stimme Züge eines Schachspiels meldete. Merkwürdig insbesondere das Vorkommen einer Kentaurenfigur im Spiel, welche sich durch Bewegung auf unsichtbare Spielfelder in der Luft vor jedem Zugriff in Sicherheit bringen konnte. — stop
ameisengeschellschaft LH — 505
MELDUNG. Ameisengesellschaft LN — 1232 [ linepithema humile ] Position 43°79’N 5°18’O nahe Mendirol / Folgende Objekte wurden von 18.00 — 18.55 Uhr MESZ über das südliche Wendelportal ins Warenhaus eingeführt : dreiunddreissig trockene Fliegentorsi mittlerer Größe [ je ohne Kopf ], siebenundsechzig Baumstämme [ à 18 Gramm ], fünf Raupen in Grün, einhundertundelf Raupen in Orange, zweiundzwanzig Insektenflügel [ vermutlich die dreier Segelfalter ], sechs Streichholzköpfe [ à ca. 1.8 Gramm ], zwölf Taubenschwänzchen der Gattung Macroglossum [ auch Karpfenschwänzchen ] in vollem Saft, sonnengetrocknete Rosenblätter [ ca. 328 Gramm aus vergangenem Jahr ], vierundzwanzig Schneckenhäuser [ je ohne Schnecke ], acht gelähmte Schnecken [ je ohne Haus ], 276 Ameisen anliegender Staaten [ betäubt oder tranchiert ], zwei Flohkäfer [ vergoldet ], fünf Aaskugeln eines Pillendrehers, wenig später der Pillendreher selbst, siebenundsiebzig Wildbienen, ein Feuerwehrhelm [ Lego city 60003 — in rot ] 2.357 Gramm. — stop
batumi
lichthals
romeo : 1.28 — Noch ein Kind gewesen, beobachtete ich Fliegen und Mücken mit argwöhnischen Augen. Sie waren so wendig, willensstark und ausdauernd in ihrer Jagd nach Zucker oder Blut, dass ich sie fürchtete und bewunderte zur selben Zeit. Sirrende Geräusche. Sturzschraubenflüge. Moskitos, die man niemals lebendig mit einer Hand fangen, aber töten konnte. Das Mikroskop, mit dessen Hilfe ich vor langer Zeit Fliegenleichen untersuchte, habe ich unlängst wiedergefunden. Ein schweres Objekt, schwarz lackiertes Gusseisen, daran befestigt, bewegliche Messingteile, Rädchen insbesondere, ein Spiegel, und ein runder, beweglicher Tisch. Das Gerät war im zurückliegenden Jahrhundert von Ernst Leitz in Wetzlar gefertigt worden. An seinem zentralen Lichthals trägt es die Signatur No. 158461. Robert Koch soll aus dieser Serie der Mikroskope das Mikroskop mit der Ziffer 100000 erhalten haben, Paul Ehrlich das Mikroskop mit der Nummer 150000. Damals, als ich noch klein gewesen war, konnte ich das Mikroskop kaum auf den Tisch heben, an den ich mich zur Untersuchung gefangener Fliegen setzte, sobald früher Abend geworden war. Um eine Fliege sezieren zu können, benötigt man sehr feines Besteck, meine Hände zitterten. Die erste Fliege, der ich mich mit einem Skalpell näherte, wachte auf, sie bewegte ihre Beinchen, ich flüchtete aus dem Zimmer. Die zweite Fliege, die ich untersuchen wollte, war so gründlich tot, dass sie über keinen eigentlichen Körper mehr verfügte, der untersucht werden konnte. Die dritte Fliege öffnete sich, sie war unerwartet feucht gewesen. In einer metallenen Schachtel verwahrte ich meine Opfer. Der Schachtel entkam ein bitterer Geruch. Ich habe nun überlegt, ob ich die Untersuchung der Fliegen oder kleinerer Spinnentiere nicht dringend wieder aufnehmen sollte. — stop
westbengalen luftpostbrief
nordpol : 0.55 — Vor über einem Jahr im Sommer habe ich von einem Freund einen Brief erhalten, der per Luftpost zu mir gekommen war. Dieser Brief wurde an dieser Stelle bereits gesendet. Leider konnte ich meinem Freund damals nicht antworten, weil er keine postalische Adresse hinterlassen hatte. Nun glücklicherweise ein Lebenszeichen aus Tibet. Er schreibt, er habe seinen Brief unter meinen particles entdeckt, er freue sich. Diese Nachricht nun erreichte mich per E‑Mail. Ich dachte, sie könnte natürlich von überall her gekommen sein. Eigentümlich ist, dass mein Freund, wenn er an diesem Abend über einen Anschluss an das Internet verfügen sollte, meine Antwort, die ich in der kommenden Stunde notieren werde, unverzüglich erhalten wird, während sein Brief aus Darjeeling damals zwei Wochen unterwegs gewesen war. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete, fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni 2012 mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorn auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. — stop
luftmeduse
echo : 0.28 — Eine Pflanze ist denkbar, welche zeitlebens als fliegendes Wesen existiert. Sie wird in der Luft geboren und dort stirbt sie am Ende auch, ohne je den Erdboden berührt zu haben. Irgendwie scheint sie trotzdem den Laubmoosen verwandt, sie schätzt den Wind und den Regen, vor längerer Zeit einmal muss sie dann abgehoben sein, hält sie sich nun bevorzugt in einer Höhe von 1000 bis 2000 Metern frei schwebend auf. Es darf dort nicht zu kalt und nicht zu trocken sein, sie ist demzufolge ein Geschöpf eher feuchter, warmer, äquatorialer Gebiete. Man könnte sagen, dass sie mittels einer Lupe betrachtet Medusentieren ähnlich ist, Zwergmedusen, weil von kleiner Gestalt, ihre Blüten, dort wo der Wind sie bestäubt, sind transparente Gewebe, nicht größer als Marienkäfergehäuse, welche derart angeordnet sind, dass der Wind die fliegende Pflanze in eine vorbestimmte Himmelsrichtung treibt. Man ernährt sich vom Licht der Sonne, vom Wasser, das sich in der Luft, das heißt, in den Wolken befindet, und von mineralischen Stäuben, die die Welt umkreisen. Ihre Wurzeln sind feinen Fühlern ähnlich, allerdings abwärts gerichtet, dem Erdboden zu, sie sind in der Lage, mit klebrigem Film, der sie bedeckt, alles das festzuhalten oder einzufangen, was in der Größe zu ihnen passt. Manchmal, in den Zeiten größter Not, fressen sie einander auf, was im Prinzip eine leichte Sache ist, weil man nicht selten, zu Kolonien verwachsen, in nächster Nähe zueinander lebt, weshalb man voreinander nicht flüchten kann. Die schnellere unter zwei Nachbarpflanzen gewinnt, ist allerdings sehr häufig bereits selbst schon von anderer Seite her behutsam angetastet. Das sind Tragödien der Luft, die sich unaufhörlich und vollkommen geräuschlos vollziehen, ein Kommen und Gehen, wo sie sich über den Himmel bewegen, herrscht Dämmerung, sterben die Wälder des Bodens, Wiesen, Steppen, Gärten. Fliegende Pflanzen sind nicht ohne Grund strengstens verbotene Erfindungen. – stop