Aus der Wörtersammlung: etwas

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olkiluoto

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romeo : 0.01 — Im Doku­men­tar­film Into Eter­ni­ty aus dem Jahr 2010 eine äußerst span­nen­de Fra­ge ent­deckt: Ob viel­leicht das End­la­ger für Atom­müll Onka­lo, auf der fin­ni­schen Halb­in­sel Olki­luotoi gele­gen, wel­ches um das Jahr 2100 her­um für alle Zeit ver­sie­gelt wer­den wird, an Ort und Stel­le vor­sich­tig mar­kiert oder aber in einen Zustand ver­setzt wer­den soll­te, dass es von Men­schen ver­ges­sen wer­den könn­te? Ein viel­stim­mi­ger Text geht die­ser Fra­ge nach: Ja, es exis­tiert einer­seits der phi­lo­so­phi­sche Ansatz, dass es sinn­voll wäre, das Atom­müll­la­ger Onka­lo zu ver­ges­sen, eine Ent­de­ckung wäre dem­zu­fol­ge nur durch Zufall denk­bar. Wie aber ist es mög­lich, Ver­ges­sen zu orga­ni­sie­ren? Ander­seits könn­te man das End­la­ger mar­kie­ren. Ein nahe lie­gen­des Modell wäre ein Stein mit einem Text dar­auf in geläu­fi­gen Spra­chen der UN, je mit Hin­wei­sen auf wei­te­re Mar­ker mit je wei­ter­füh­ren­den Infor­ma­tio­nen bis hin zu einer stei­ner­nen Biblio­thek, die in unter­ir­di­schen Räu­men ange­legt wer­den könn­te. Haupt­bot­schaf­ten sind: Dies ist ein gefähr­li­cher Ort, bit­te stört die Ruhe die­ser Anla­ge nicht! Bild­spra­che käme nun ins Spiel, dras­ti­sche Sym­bo­le oder abwei­send gestal­te­te Land­schaf­ten, wel­che aller­dings nicht zwin­gend wir­kungs­voll sein wer­den. In Nor­we­gen exis­tiert ein uralter Stein, des­sen Unter­sei­te mit einer Runen­in­schrift ver­se­hen war: Do not move. Die­se War­nung wur­de von neu­zeit­li­chen Archäo­lo­gen kom­plett igno­riert. Wenn wir die Zeit spie­geln und 100000 Jah­re in die Ver­gan­gen­heit bli­cken, müs­sen wir ein­se­hen, wir haben mit unse­ren Vor­fah­ren, den „Nean­der­ta­lern“, sehr wenig gemein. Es könn­te sein, dass Men­schen der Zukunft, die auf das Lager sto­ßen, über eine ganz ande­re Erschei­nung ver­fü­gen, über ande­re Sin­ne und Bedürf­nis­se als mensch­li­che Wesen unse­rer Zeit. Die Fra­ge ist voll­kom­men offen, ob ein ver­nunft­be­gab­tes Wesen in Zukunft irgend­et­was sinn­voll inter­pre­tie­ren könn­te oder woll­te. In aller Kür­ze: Nie­mand weiß irgend­et­was! Es ist exis­tiert die Not­wen­dig­keit einer Ent­schei­dung trotz Unwäg­bar­keit. Man muss zu die­sem Zeit­punkt sagen, was man weiß, und man muss sagen, wovon man weiß, dass man es nicht weiß, und auch wovon man nicht weiß, dass man es nicht weiß. — stop

ping

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who is fred wesley?

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tan­go : 2.30 — Hei­te­rer Stim­mung war ich ges­tern Abend der Geschwin­dig­keit, mit wel­cher Waren, die ich kauf­te, an der Kas­se eines Super­mark­tes behan­delt wur­den, nicht gewach­sen, viel­leicht des­halb, weil ich über­haupt lang­sa­mer gewor­den bin, oder weil ich in dem Augen­blick, da mei­ne Ware über einen Scan­ner bewegt wur­de, dar­über nach­dach­te, ob es sich bei E‑Mails, die ich manch­mal schrei­be, noch um Wesen han­delt, die man als Schrift­stü­cke bezeich­nen könn­te. Ohne­hin droh­te ein Fias­ko, da sich die Waren, die gera­de in mei­nen Besitz über­ge­gan­gen waren, hin­ter dem Fließ­band inein­an­der scho­ben wie Pack­eis­schol­len auf dem Atlan­tik vor Grön­land. Eine jun­ge kolum­bia­ni­sche Assis­ten­tin kam glück­li­cher­wei­se bald zu Hil­fe, ich führ­te meh­re­re gefal­te­te Papier­tü­ten mit mir, die sehr sorg­fäl­tig bepackt wer­den muss­ten. Sie sprach nur weni­ge Wör­ter mei­ner Spra­che, und sie schwitz­te indes­sen und ver­such­te mir zu erklä­ren, dass es in ihrem Land noch viel wär­mer sei als bei uns in Euro­pa, aber dass sie dort, auch im Regen­wald nicht, nie­mals so hef­tig schwit­zen wür­de wie hier, die Kli­ma­an­la­ge sei aus­ge­fal­len, dass ich etwas lang­sa­mer sei als üblich, wäre gera­de­zu ver­nünf­tig. Ja, ver­mut­lich bin ich lang­sa­mer gewor­den, und ich dach­te, man könn­te ein­mal Schnell­kas­sen in dem Sin­ne beden­ken, dass dort rasen­de Men­schen mit rasen­den Hän­den rasen­de Geld­bör­sen bedie­nen, alles gin­ge dort so schnell, dass man als ein lang­sa­mer Mensch, auf der ande­ren Sei­te der Zeit befind­lich, nur noch Unschär­fen in der Luft wahr­neh­men wür­de, nicht aber ein­kau­fen­de Per­so­nen, wäh­rend einer wie ich als eine Foto­gra­fie erschei­nen wür­de, als Etwas, das sich nie­mals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wun­der­bar küh­le Luft. Who is Fred Wes­ley? — stop
guggenheim

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von zeppelinkäfern

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marim­ba : 2.28 — Für einen Moment dach­te ich heu­te Nacht an eine Geschich­te, die ich vor lan­ger Zeit ein­mal erzähl­te. Das war gegen 2 Uhr gewe­sen. Ich beob­ach­te­te aus meh­re­ren Metern Ent­fer­nung, wie ein Käfer, der einem Zep­pel­in­kä­fer ähn­lich war, sehr lang­sam durch mein Zim­mer schweb­te, um auf einer Tisch­lam­pe zu lan­den. Dort blieb er für eini­ge Minu­ten sit­zen. Sofort such­te ich nach jener Geschich­te, die von einem Zep­pel­in­kä­fer han­delt. Sobald ich sie gefun­den hat­te, segel­te der Käfer, der mich an mei­ne Notiz erin­nert hat­te, in die Dun­kel­heit davon, sodass ich ihn bei­na­he für die per­so­ni­fi­zier­te Erin­ne­rung die­ser einen Geschich­te hal­ten möch­te. Sie geht so: Ein selt­sa­mes Wesen schweb­te kurz nach 1 Uhr in der Nacht schnur­ge­ra­de eine unsicht­ba­re Linie über den höl­zer­nen Fuß­bo­den mei­nes Arbeits­zim­mers ent­lang, wur­de in der Mit­te des Zim­mers von einer Luft­strö­mung erfasst, etwas ange­ho­ben, dann wie­der zurück­ge­wor­fen, ohne aller­dings mit dem Boden in Berüh­rung zu kom­men. — Ein merk­wür­di­ger Auf­tritt. – Und die­ser groß­ar­ti­ge Bal­lon von opa­k­em Weiß! Ein Licht, das kaum noch merk­lich fla­cker­te, als ob eine offe­ne Flam­me in ihm bren­nen wür­de. Ich habe mich zunächst gefürch­tet, dann aber vor­sich­tig auf Knien genä­hert, um den Käfer von allen Sei­ten her auf das Genau­es­te zu betrach­ten. — Fol­gen­des ist nun zu sagen. Sobald man einen Zep­pel­in­kä­fer von unten her besich­tigt, wird man sofort erken­nen, dass es sich bei einem Wesen die­ser Gat­tung eigent­lich um eine fili­gra­ne, flü­gel­lo­se Käfer­ge­stalt han­delt, um eine zer­brech­li­che Per­sön­lich­keit gera­de­zu, nicht grö­ßer als ein Streich­holz­kopf, aber schlan­ker, mit acht recht lan­gen Ruder­bei­nen, gestreift, schwarz und weiß gestreift in der Art der Zebra­pfer­de. Fünf Augen in grau­blau­er Far­be, davon drei auf dem Bauch, also gegen den Erd­bo­den gerich­tet. Als ich bis auf eine Nasen­län­ge Ent­fer­nung an den Käfer her­an­ge­kom­men war, habe ich einen leich­ten Duft von Schwe­fel wahr­ge­nom­men, auch, dass der Käfer flüch­tet, sobald man ihn mit einem Fin­ger berüh­ren möch­te. Ein Wesen ohne Laut. – Guten Mor­gen! Heu­te ist Sonn­tag bei gro­ßer Hit­ze. — stop

drohne7

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alexandros panagoulis

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alpha : 2.58 — Ich beob­ach­te­te einen jun­gen Mann, der lan­ge Zeit neben einer Ampel vor einer Kreu­zung stand, eine vor­neh­me und zugleich merk­wür­di­ge Erschei­nung. Der Mann trug einen ele­gan­ten, grau­en Anzug, hell­brau­ne, fei­ne Schu­he, ein wei­ßes Hemd und eine Kra­wat­te, feu­er­rot. Er mach­te etwas Selt­sa­mes, er setz­te näm­lich sei­nen rech­ten Fuß auf die Stra­ße, um ihn sogleich wie­der zurück­zu­zie­hen, als ob der Belag der Stra­ße zu heiß wäre, um sie tat­säch­lich betre­ten zu kön­nen. Das ging eine Vier­tel­stun­de so ent­lang, ein frü­her Nach­mit­tag, es reg­ne­te leicht. Der Mann schien nicht zu bemer­ken, dass ich ihn beob­ach­te­te. Um uns her­um waren sehr vie­le Men­schen unter­wegs gewe­sen, die die Kreu­zung Broad­way Ecke 30. Stra­ße schnell­fü­ßig unter sich dre­hen­den Regen­schir­men über­quer­ten. Für einen Augen­blick hat­te ich den Ein­druck, der Mann wür­de sich ver­hal­ten wie eine Figur in einem sehr kur­zen Film, der sich unab­läs­sig wie­der­hol­te. Ein­mal bleibt eine älte­re Frau neben ihm ste­hen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch ent­schlos­sen auf die Stra­ße, um kurz dar­auf zurück­zu­keh­ren und dem jun­gen Mann eine Tüte Nüs­se zu über­rei­chen. In genau die­sem Augen­blick ließ ich los und spa­zier­te wei­ter in Rich­tung South Fer­ry, ohne mich noch ein­mal nach dem jun­gen Mann umzu­dre­hen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stil­le drau­ßen vor den Fens­tern, küh­le Nacht. Erin­ner­te mich vor weni­gen Stun­den an Alex­an­dros Pana­gou­lis, an das vor­ge­stell­te Bild des Dich­ters, wie er im grie­chi­schen Mili­tär­ge­fäng­nis Bogia­ti in einer Zel­le sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedich­te, die er auf­hebt in sei­nem Kopf. Lan­ge muss­te ich nach sei­nem Namen suchen, er war ver­schwun­den gewe­sen, als hät­te ich nie von ihm gele­sen. — stop
drohne4

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aleppo

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char­lie : 0.32 — Er wer­de lang­sam alt, erzähl­te der Jour­na­list L., alt und müde. Manch­mal füh­le er sich morsch, wie ein Kno­chen, der lan­ge Zeit in feuch­ter Luft unter frei­em Him­mel her­um­ge­le­gen hat­te, da wird man bald stau­big, und dann kommt ein Wind und schon ist man so leicht gewor­den, dass man ganz und gar für immer auf­hö­ren möch­te. Des­halb habe er ein Haus an der Küs­te gekauft, mit einem Reet­dach, das links und rechts des Hau­ses nahe­zu bis auf den Boden rei­che. Er benö­ti­ge einen Ort, an den er sich zurück­zie­hen, einen Ort, an dem er leich­ter wer­den kön­ne, wan­dern am Meer stun­den­lang und spre­chen mit sich selbst. Wenn er Selbst­ge­sprä­che füh­re, wür­de er in sich hin­ein­se­hen, Wör­ter und Sät­ze bewir­ken, dass er für eini­ge Zeit nicht mehr auf­hö­ren kön­ne zu spre­chen, weil er doch in den ver­gan­ge­nen Jah­ren eigent­lich so schweig­sam gewor­den war, weil er doch immer, als er noch dis­ku­tier­te und erzähl­te, ver­ges­sen habe, was er sag­te, wes­halb er tage­lang dar­über nach­den­ken muss­te, ob er nicht etwas gesagt haben könn­te, das unmög­lich gesagt sein durf­te, die­se Wör­ter, die­se Sät­ze, die man so lie­bend gern zurück­ho­len woll­te, weil sie nicht pas­send oder ganz ein­fach zu vie­le Wör­ter gewe­sen waren. Des­halb nun ein Haus an der Küs­te, mit einem Reet­dach, das links und rechts des Hau­ses nahe­zu bis auf den Boden rei­che, wo er mit sich selbst spre­chen kön­ne so lan­ge er wol­le, wo ihm nie­mand zuhö­ren wür­de, nur das Haus und er selbst und manch­mal der Sand und ein paar Vögel, wenn er von Alep­po erzäh­le, wo er vor weni­gen Wochen, ein Him­mel­fahrts­kom­man­do, noch gewe­sen sei. — stop
flieger

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von der sekundenzeit

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del­ta : 0.02 — Wie jetzt der Som­mer näher­kommt, ändert sich alles. Im Win­ter erfrie­ren Men­schen, im Som­mer fal­len sie ver­se­hent­lich aus Fens­tern, die sie zum Ver­gnü­gen geöff­net haben. Bern­hardt L., der mich besuch­te, erzähl­te von sei­nen Erfah­run­gen, die er mit Todes­ur­sa­chen betrun­ke­ner Men­schen sam­mel­te. Es war ein ange­neh­mer Abend. Eigent­lich woll­ten wir nicht von trau­ri­gen Geschich­ten spre­chen, aber dann wur­de es doch wie­der ein­mal ernst. Wir saßen auf Gar­ten­stüh­len vor dem Fens­ter zu den Bäu­men, die in den Him­mel staub­ten, und beob­ach­te­ten mei­ne Schne­cke Esme­ral­da, die sich der fri­schen Abend­luft näher­te. Sie kroch ziel­stre­big über den Boden hin, dann die Wand hin­auf und ließ sich auf dem Fens­ter­brett drau­ßen nie­der. Wenn sich Schne­cken set­zen, bewe­gen sie sich kaum noch, ihr feuch­ter Kör­per scheint indes­sen etwas brei­ter zu wer­den. Mein Bekann­ter Bern­hardt L. war sehr inter­es­siert an der Exis­tenz Esme­ral­das in mei­ner Woh­nung, er hat­te sie noch nie zuvor gese­hen und nie von ihr gehört. Er woll­te wis­sen, woher sie gekom­men war, wie alt sie wohl sei, und war­um sie die­sen schö­nen Namen Esme­ral­da von mir erhal­ten habe. Ich erin­ne­re mich, wie er mit einem Fin­ger zärt­lich über Esme­ral­das Häus­chen strich, wäh­rend er von einem unglück­li­chen Mann erzähl­te, der ein Zeit­wirt­schaft­ler von Beruf gewe­sen sein soll. Die­ser Mann habe Minu­ten gezählt, Sekun­den, in der Beob­ach­tung arbei­ten­der Men­schen in einer Fabrik. Sei­ne Auf­ga­be sei gewe­sen, Zeit­räu­me auf­zu­spü­ren, die durch Ver­än­de­run­gen in den Bewe­gun­gen der beob­ach­te­ten Men­schen ein­ge­spart wer­den könn­ten. In einem Brief, der sehr aus­führ­lich sein Unglück notiert, habe er berich­tet, dass es ihm zuletzt nicht mög­lich gewe­sen sei, eine Tas­se Kaf­fee von der Küche in sein Wohn­zim­mer zu tra­gen, ohne dar­über nach­zu­den­ken, ob es wirt­schaft­lich sei, mit nur einer Tas­se Kaf­fee in der Hand die Räu­me zu wech­seln, wenn es doch mög­lich wäre, zwei Tas­sen Kaf­fee zur glei­chen Zeit zu trans­por­tie­ren. — stop

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winterzeiten

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von nelken

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echo : 6.10 — Ich beob­ach­te­te eine alte Frau, wie sie unter einem Regen­schirm im Gar­ten kniend Nackt­schne­cken von Nel­ken­blu­men pflück­te. Neben sich hat­te die alte Frau einen klei­nen Eimer abge­stellt, der sich all­mäh­lich mit Schne­cken­kör­pern füll­te. Hef­ti­ger Regen. Ich konn­te den Regen hören, wie er auf den Schirm der alten Frau trom­mel­te. Und ich hör­te eine hel­le Stim­me, die mit sich selbst oder zu den Schne­cken sprach. Immer wie­der ein­mal stand die alte Frau vor­sich­tig auf, um in ihr Haus zurück­zu­keh­ren. Sie klopf­te dann ihre Schu­he ab, stand hin­ter dem Fens­ter, schau­te in den Gar­ten und war­te­te, bis wei­te­re Schne­cken ohne Häu­ser in die Nähe ihrer Nel­ken gekom­men waren. Die­se Schne­cken reis­ten nicht von der Sei­te her an, son­dern kamen tat­säch­lich von unten aus dem erdi­gen Boden her­auf. Waren es wie­der vie­le Schne­cken gewor­den, kehr­te die alte Frau zurück in ihren Gar­ten und erneut hör­te ich den Regen und eine hel­le Stim­me. Ich hat­te bald den Ein­druck, die­se Schne­cken, die unab­läs­sig aus dem Boden stie­gen, könn­ten rein aus etwas Haut und kla­rem Was­ser bestehen, es waren der­art vie­le, dass sie ganz ein­fach zunächst win­zi­ge Wesen sein muss­ten, die sich zu ihrer vol­len Ent­fal­tung mit Was­ser füll­ten, sobald es reg­ne­te. Nach drei Stun­den war der Eimer gefüllt und die alte Frau deck­te ihn mit einem Koch­topf­de­ckel zu, hol­te aus dem Haus einen wei­te­ren Eimer, der etwas grö­ßer gewe­sen war, als der ers­te Eimer. Es däm­mer­te, dann war es dun­kel, und als es rich­tig dun­kel gewor­den war, fins­ter, kehr­te die alte Frau mit einer Taschen­lam­pe in den Gar­ten zurück. Sie trug jetzt Gum­mi­stie­fel an den Füßen und ein Nacht­hemd und es reg­ne­te noch immer. — stop

ping

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chicago

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tan­go : 6.05 — Im Pal­men­gar­ten abends bei leich­tem Regen auf einer Bank. Neben mir saß ein Mann, der mich nicht sehen, aber hören konn­te. Ich bemerk­te nicht sofort, dass er blind war, weil ich unter einem Regen­schirm saß, auch der Mann hat­te einen Regen­schirm über sich auf­ge­spannt. Kaum hat­te ich Platz genom­men, notier­te ich zunächst eine Lis­te von Büchern in mein Note­book, die sich mit der Arbeits­welt der Men­schen beschäf­ti­gen. Sie schrei­ben schnell, sag­te der Mann plötz­lich, sie sind wohl geübt. Sie haben viel­leicht etwas im Kopf, das sie los­wer­den wol­len. Als ich mich dem Mann zuwen­de­te, bemerk­te ich, dass er den Regen­schirm in eine lang­sa­me Dre­hung ver­setzt hat­te, sein Gesicht konn­te ich nicht erken­nen. Wenn das mei­ne Schreib­ma­schi­ne wäre, könn­te ich Ihnen genau sagen, was sie gera­de geschrie­ben haben. Ich kann hören, was mei­ne Schreib­ma­schi­ne schreibt. Der Mann mach­te eine kur­ze Pau­se. Was haben sie denn auf­ge­schrie­ben, woll­te er dann wis­sen. Ich ant­wor­te: Eini­ge Namen, Namen, die sie viel­leicht schon ein­mal gele­sen haben. Mel­ville. Bukow­ski. Upt­on Sin­clair. Max von der Grün. – Gele­sen nicht, ant­wor­te­te der Mann, aber gehört habe ich zwei der Namen. Upt­on Sin­clairs Dschun­gel­buch exis­tiert in eng­li­scher Spra­che als Hör­buch für Blin­de oder für Men­schen, die nicht lesen wol­len. Ich wür­de ger­ne lesen, aber das geht ja nicht so leicht, wenn man nichts sieht. Der Mann lach­te. Ich höre dem Regen ger­ne zu, aus mei­ner Sicht der Din­ge ist das so, als wür­de der Regen schrei­ben, hören Sie, wie es reg­net, wie es schreibt. Ist das nicht wun­der­bar! – Ich frag­te den Mann, ob er denn lesen oder hören kön­ne, was der Regen genau notiert in die­sem Augen­blick. – Aber natür­lich, ant­wor­te­te der Mann, es ist mit jedem Regen etwas ande­res, nicht wahr, der Regen, der auf das Meer fällt, erzählt etwas ande­res, als die­ser Regen hier, der über einem klei­nen See nie­der­geht. Für einen Moment stand der Regen­schirm neben mir ganz still. Ich hör­te ein Flüs­tern: Die­ser Regen hier erzählt von Chi­ca­go. — stop

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lilly

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del­ta : 0.05 — Ich woll­te mit einem armen Men­schen spre­chen, woll­te erfah­ren, wie es ist, mit­tel­los gewor­den zu sein. Ich hat­te Glück, eine Bekann­te, die für die Bahn­hofs­mis­si­on arbei­tet, erwähn­te eine selt­sa­me Frau, Lil­ly, die sich seit Mona­ten auf den Bahn­stei­gen 22, 23 oder 24 gewöhn­li­cher­wei­se auf­hal­ten wür­de, sie sei sehr lieb und sehr arm und wür­de ger­ne erzäh­len. Ich ent­deck­te Lil­ly auf einer Bank sit­zend, Bahn­steig 18, sie war zunächst eher scheu gewe­sen, aber dann doch bereit sich mit mir zu unter­hal­ten. Ja, Lil­ly. Sie spricht schnell, wenn sie spricht, und sie schämt sich ein biss­chen, viel­leicht des­halb, weil sie ahnt, dass sie nicht so gut riecht, wie sie ger­ne rie­chen möch­te, und ihr Haar, das hell gewor­den ist an der ein oder ande­ren Stel­le, scheint feucht und kleb­rig gewor­den zu sein vom Talg. Ich fas­se zusam­men, was Lil­ly etwas durch­ein­an­der her­umer­zähl­te. Wenn eine Frau arm gewor­den sei, wenn eine Frau auf der Stra­ße leben müs­se, erklär­te Lil­ly, soll­te sie zunächst ver­su­chen, solan­ge Zeit wie mög­lich ihren Sta­tus der Armut zu ver­ber­gen, sie soll­te so wir­ken, als habe sie noch Geld zur Ver­fü­gung, als sei alles in Ord­nung, dann wür­de man sie aus den War­te­räu­men eines Bahn­ho­fes bei­spiels­wei­se oder eines Flug­ha­fens nicht ver­trei­ben. Sie tra­ge aus genau die­sem Grund noch immer einen Hosen­an­zug, manch­mal, bei gnä­di­gem Licht, wir­ke sie so, als wür­de sie zur Arbeit gehen oder soeben von der Arbeit kom­men. Mei­ne Schu­he sind geputzt, und wenn ich sie scho­nen wer­de, soll­ten sie doch noch lan­ge Zeit als Schu­he einer erfolg­rei­chen Frau erschei­nen. Ich habe gelernt, im Sit­zen zu schla­fen, weiß jeder­zeit, wo ich mich waschen könn­te, auch mei­ne Blu­se, mei­ne Strümp­fe, es ist sehr anstren­gend, mich selbst und mei­ne Klei­dung in all­ge­mein zugäng­li­chen Toi­let­ten­räu­men zu säu­bern, immer­zu bin ich erschöpft, nie­mand kennt mich per­sön­lich, weiß, woher ich kom­me, ahnt, wer ich ein­mal gewe­sen bin. Ich esse spar­sam, ich esse, was ich fin­de, und trin­ke aus öffent­li­chen Brun­nen. Ich darf nicht rau­chen, ich darf kei­nen Alko­hol trin­ken, das ist ja selbst­ver­ständ­lich in mei­ner Lage! Ein­mal im Jahr neh­me ich einen Zug und fah­re im Win­ter nach Süden, ein wei­te­res Mal fah­re ich im Som­mer nach Nor­den, aber das ist nur aus­ge­dacht. Ich lese Zei­tun­gen, die ich da und dort ent­de­cke. Ich spre­che mit den Tau­ben, lei­se, sehr lei­se, damit ich nicht ver­rückt wer­de. In mei­nem Kof­fer befin­det sich eine zwei­te Blu­se, und dies und das und ein Paar Turn­schu­he, ein Hals­tuch in roter Far­be, ein Hals­tuch in gel­ber Far­be, ein Hals­tuch in blau­er Far­be, das grü­ne Tuch tra­ge ich gera­de in die­sem Moment, ich habe einen schö­nen Hals, nicht wahr! Ja, ich darf nicht rau­chen und nicht trin­ken und nicht ver­rückt wer­den, das ist drin­gend, ich muss bei mir sein, ich fürch­te Schlaf­häu­ser, ich fürch­te die­se schreck­li­chen Schlaf­häu­ser, ich bin mir nicht sicher, ob ich noch bin. — stop

ping

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14pt

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echo : 2.15 — Unlängst beob­ach­te­te ich in mei­ner Vor­stel­lung einen älte­ren Herrn wie er eine Text­da­tei öff­ne­te, die er vor 12 Jah­ren notiert und seit­dem nie wie­der geöff­net hat­te. Er wun­der­te sich über win­zi­ge Schrift­zei­chen, die er damals vor lan­ger Zeit ver­wen­de­te. Weil ich in dem Moment, da der alte Herr das Sym­bol der Datei mit einem Zei­ger auf dem Bild­schirm berühr­te, nicht bei ihm gewe­sen sein konn­te, über­leg­te ich, was ich ihm viel­leicht gesagt haben wür­de. Mög­li­cher­wei­se hät­te ich gesagt: In der Tat, lie­ber Lou­is, sehr klein die­se Schrift, lass uns die Schrift schnell etwas grö­ßer machen. Oder aber ich wür­de viel­leicht gesagt haben: Wol­len wir nicht nach Dei­ner Bril­le suchen? — In die­sem Moment, es ist 1 Uhr und 58 Minu­ten am 22. April 2015, ahne ich gnä­di­ger­wei­se, was ich bald ein­mal, wenn alles gut gehen wird, unter­neh­men könn­te. – stop
papiertierchen



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