sierra : 0.52 — Vor wenigen Tagen habe ich eine kleine digitale Maschine gekauft. Diese Maschine vermag die Zeit zu messen, welche ich in der einen oder anderen Aufgabe befindlich verbringe. Sie summiert sozusagen Sekunden, Minuten, Stunden heimlich für mich, damit ich, sobald Abend geworden ist, nachsehen kann, wo ich mich überall während des Tages arbeitend aufgehalten habe. Nun ist etwas Seltsames zu bemerken, dass ich nämlich Aufgaben erfinde, indem ich vertraute Aufgaben in kleinere Aufgabensegmente zerlege, sodass sie wie neue Aufgaben vor meinen Augen oder den Augen der Maschine erscheinen. Die Aufgabe der Korrespondenz beispielsweise, lässt sich in E‑Mail‑, Papierbrief- und telefonische Korrespondenz zergliedern. Ganz neu ist außerdem, dass ich der Maschine Anweisung erteilte, Lesezeiten zu notieren, wie lange Zeit ich in den Erzählungen John Updikes verbrachte. Oder der Vorgang nächtlicher Fledermausbeobachtung. Auch die Betrachtung der Maschine selbst wird von der Maschine wahrgenommen und aufgezeichnet. — Schluss jetzt. Es ist Freitag. Beinahe Schneefall. Guten Morgen. — stop
Aus der Wörtersammlung: genom
lichtschirmkoffer
remington : 6.56 — Beobachtete wieder einmal meinen Fernsehbildschirm, der so flach ist, dass ich meine, das bewegte Bild, welches er empfängt, müsste transparent sein wie ein Schmetterlingsflügel. Ich könnte in dieser Vorstellung durch das Zimmer laufen, um jene Sequenzen, die von einem beginnenden Krieg, von Brandbomben, prügelnden Menschen, maskierten Soldaten erzählen, von der anderen Seite her zu betrachten. Erinnere mich an Bohumil Hrabal, von dem berichtet wird, er würde bevorzugt hinter seinem Fernsehgerät Platz genommen haben. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als Bildschirme in den Rahmen monströser Apparaturen hockten, Röhrenbildschirme genauer, die noch explodieren konnten. Indem Hrabal seinen Bildempfänger von hinten betrachtete, handelte er mit dem Ausdruck äußerster Verweigerung, er saß dort und konnte sich darauf verlassen, keines der empfangenen Bilder sehen zu können, er war genau dort hinter jener Maschine, die die Bilder erzeugte, vor den Bildern sicher. Vielleicht hatte er überdies das Fernsehgerät ausgeschaltet, ich weiß es nicht, gern würde ich ihn fragen, ihm erzählen, wie ich das mache in diesen Tagen, da ich nicht mehr sicher bin, Lüge von Halbwahrheit oder Wahrheit unterscheiden zu können. Ich höre Stimmen der Kommentatoren vom Arbeitszimmer her, die weiter sprechen, obwohl ich nicht da bin. Und ich höre den Regen, es regnet tatsächlich, dann hört es wieder auf. Nachtvögel oder Fledermäuse fliegen vorüber. — stop
safranmantel
~ : oe som
to : louis
subject : SAFRANMANTEL
date : april 24 14 10.55 p.m.
Es war, lieber Louis, vor zwei Tagen gewesen, als Noe die Lektüre der Metamorphosen Ovids von einer Sekunde zur anderen Sekunde unterbrach. Er las noch folgende Sätze des 10. Buches: Durch die unendliche Luft, vom Safranmantel umhüllet, geht Hymenäus einher, zu dem kalten Gebiet der Cikonen, wo ihn umsonst anflehet der Ruf des melodischen Orpheus. Jener erscheint ihm zwar; doch nicht heiljauchzende Worte bringt er, noch fröhlichen Blick, noch Ahnungen glücklicher Zukunft. Selbst die gehaltene Fackel erzischt in betränendem Dampfe immerdar und gewinnt nicht einige Glut von Bewegung. Schrecklicher war der Erfolg, wie die Deutungen. Durch die Gefilde Schweifte die jüngst Vermählte, vom Schwarm der Najaden begleitet, ach, und starb, an der Ferse verletzt von dem Bisse der Natter. Als zu dem Himmel empor der rhodopeische Sänger lange die Gattin beweint, jetzt auch zu versuchen die Schatten. — Plötzlich Stille, auch keine Atemgeräusche, Nacht. Marlen hatte Dienst. Nachdem sie, trotz mehrfacher Versuche, keinen Kontakt zu Noe aufnehmen konnte, weckte sie uns. Wir lauschten gemeinsam in die Tiefe, ungefähr eine Stunde lang. Es war nichts Ungewöhnliches um uns her zu bemerken, auch auf dem Radar kein Hinweis auf Fischschwärme oder Wale, die Noe nahegekommen sein könnten. Am frühen Morgen, Taucher Noe hatte seine Lektüre nicht wieder aufgenommen, aber er atmete gleichmäßig und hatte getrunken, machte sich Bob auf den Weg in die Tiefe. Zwei Stunden dauerte sein Abstieg, dann meldete er mit flüsternder Stimme: Ein U‑Boot in unserer Nähe. Es scheint uns zu umkreisen, ein dunkler Schatten, ein beeindruckend großes Schiff. Ich habe mich Noe genähert. Er lachte mich an. Das U‑Boot trägt keinerlei Hoheitszeichen. Ein feiner Strahl von Licht bewegt sich in unsere Richtung wie ein Finger, ohne uns zu berühren. — stop. — Es ist Donnerstag geworden, später Abend. Bob befindet sich noch immer in 800 Fuß Tiefe bei Noe. Auch das U‑Boot kreist weiterhin unter uns. Vor einer Stunde nahm Noe seine Lektüre wieder auf, unsichere Stimme, aber immerhin eine Stimme, die liest. Wir sind froh darum. Der Himmel über uns, ohne Wolken. Sterne. Prächtig. — Dein OE SOM
gesendet am
24.04.2014
2155 zeichen
MELDUNGEN : OE SOM TO LOUIS / FIN
am telefon
sierra : 6.05 — Mein Freund Louis erzählte eine Geschichte von einem Mann, dem er vor wenigen Jahren in New York begegnet sein will. Ich werde kurz berichten, obwohl es schon spät geworden ist. An dem Tag, an dem Louis’ Geschichte sich ereignete, wanderte er durch die Stadt ohne Ziel. Manchmal stieg er in einen Zug der Subway und fuhr irgendwohin. Einmal, es war Abend geworden, erreichte er Brighton Beach, aber anstatt den Strand zu besuchen, fuhr er sofort wieder zurück. Das war ein großes Glück gewesen, denn hätte er nur einen oder zwei spätere Züge nach Manhattan genommen, wäre er dem Mann, von dem er mir erzählte, vermutlich nie begegnet. Dieser Mann war ein kleiner, schmächtiger Herr, der breitbeinig vor einer Tür stand und zu telefonieren schien. Er sprach, ohne eine Pause zu machen, mit lauter Stimme Wörter, die Louis nicht verstehen konnte. Als der Zug nach einer halben Stunde Fahrt über den Dächern Brooklyns in den Untergrund tauchte, geschah etwas Seltsames, denn der Mann sprach weiter in sein Telefon, obwohl jede Funkverbindung im Tunnelsystem sofort unterbrochen wurde. Kaum jemand unter den Fahrgästen schien den kleinen Mann zu bemerken. Eine Fünf-Mann-Band betrat den Waggon, sie spielte einen Brasstango, der Zug bebte und der schmächtige Mann telefonierte und lachte und spendete einen Dollar. In der Lexington Avenue, Höhe 63. Straße, stieg der Mann aus, fuhr mit der Rolltreppe in das Zwischengeschoss, stieg zur Straßenebene hinauf und lief weiter nordwärts. Er hatte bis dahin, eine Stunde war seit seiner Entdeckung vergangen, nie aufgehört zu sprechen, und auch jetzt, im Gehen, setzte er seine Rede fort. An der Ecke zur 83. Straße besuchte der Mann eine Pizzeria, auch Louis trat in den düsteren Laden ein. Er hörte dem Mann weiter zu, wie er mit vollem Mund seinen Text vollzog, als könnte er unmöglich aufhören, als würde etwas Schreckliches geschehen, wenn er nur einmal für eine Sekunde eine Pause machte. Bald trat der kleine, sprechende Mann wieder auf die Straße und setzte seinen Weg in Richtung Harlem fort. Es war inzwischen später Abend geworden, die Luft kühler, Menschen saßen entlang der Häuserwände auf Klappstühlen. Um kurz nach Mitternacht plötzlich hielt der Mann an und verstummte. Er stand einige Minuten ganz still. Er schien zu überlegen. Dann legte er das Telefon auf dem Boden ab, drehte sich um und machte sich auf den Weg zurück. Er ging zunächst südwärts über die Lexington Avenue, Höhe der 60. Straße bog er nach links ab, schlenderte langsam zur Tramway – Station, gegen drei Uhr löste er ein Ticket. — stop
terminal nachts
tango : 2.28 — Gestern beobachtete ich einen Mann, wie er in einem Buch las. Er saß nahe einem Café im Flughafenterminal 1 auf seinem Koffer, lehnte mit dem Rücken an einer Wand, beide Füße fest auf dem Boden. Außerdem trug er einen breitkrempigen Hut von brauner Farbe auf dem Kopf und ein blaues Hemd, welches derart leuchtete, dass meine Augen bald schmerzten. Aber im Grunde war ich auf den Mann nicht wegen seiner äußeren Erscheinung aufmerksam geworden, es war die Methode, wie er die Erzählung The Price of Salt von Patricia Highsmith studierte. Ehe er nämlich eine neue Seite des Buches zu lesen begann, riss er diese nächste zu lesende Seite aus dem Körper des Buches heraus, führte sie nahe an seine Augen heran, las, drehte die Seite herum, las weiter, um kurz darauf die gelesene Seite in die Tasche seines Jacketts zu stopfen. Das Jackett beulte bereits auf beiden Seiten deutlich, weil das Buch bis zur Hälfte gelesen worden war. Genau genommen zerlegte der Mann das Buch, das er las, in seine papierenen Einzelteile, das Buch verschwand sozusagen unter seinen Händen, das waren übrigens winzige Hände, die Hände eines Kindes. Natürlich kann ich an dieser Stelle keine Aussage darüber machen, ob der Mann mit jedem der Bücher seines Lebens so gehandelt hatte. Wann war es gewesen, als er die erste Seite aus einem Buch entnahm? Und warum? Ich wollte den Mann fragen, aber irgendetwas hinderte mich daran, zu ihm zu gehen. Um kurz nach zwei Uhr stand ich auf und ging nach Hause. — stop
lichtbild : krim
kilimandscharo : 1.55 — Die Nachrichtenagentur Associated Press veröffentlichte gestern eine bemerkenswerte Fotografie. Menschen sind zu sehen, die an der Kasse eines Ladens darauf warten, bedient zu werden, oder Waren, die sie in Plastikbeuteln mit sich führen, bezahlen zu dürfen. Es handelt sich bei diesem Laden offensichtlich um ein Lebensmittelgeschäft, das von künstlichem Licht hell ausgeleuchtet wird. Im Hintergrund, rechter Hand, sind Regale zu erkennen, in welchen sich Sekt– und Weinflaschen aneinanderreihen, gleich darunter eine Tiefkühltruhe, in der sich Speiseeis befinden könnte, und linker Hand, an der Wand hinter der Kasse, weitere Regale, Zeitschriften, Spirituosen, Schokolade, Bonbontüten. Es ist alles sehr schön bunt, der Laden könnte sich, wenn man bereit ist, das ein oder andere erkennbare kyrillische Schriftzeichen zu übersehen, in einem Vorort der Stadt Paris befinden oder irgendwo in einem Städtchen im Norden Schwedens, nahe der Stadt Rom oder im Zentrum Lissabons. Es ist Abend, vermutlich oder Nacht, eine kühle Nacht, weil die Frau, die vor der Kasse wartet, einen Anorak trägt von hellblauer Farbe und feine dunkle Hosen. Ihre Schuhe sind nicht zu erkennen, aber die Schuhe der Männer, die gleich hinter ihr in der Reihe der Wartenden vor der Kasse stehen, es sind vier Personen vermutlich mittleren Alters. Sie tragen schwarze, geschmeidig wirkende Militärstiefel, außerdem Uniformen von dunkelgrüner Farbe, runde Schutzhelme, über welchen sich ebenso dunkelgrüne Tarnstoffe spannen, weiterhin Westen mit allerlei Kampfwerkzeugen, der ein oder andere der Männer je eine Sturmwindbrille, Knieschützer, Handschuhe. Die Gesichter der Männer sind derart vermummt, dass nur ihre Augen wahrzunehmen sind, nicht ihre Nasen, nicht ihre Wangen, nicht ihre Münder, sie wirken kampfbereit. Einer der Männer schaut misstrauisch zur Kamera hin, die ihn ins Visier genommen hat, ein Blick kurz vor Gewalttätigkeit. — Jeder Blick hinter einer Maske hervor ist ein seltsamer Blick. — Ein anderer der Männer hält seinen geöffneten Geldbeutel in der Hand. Die Männer wirken alle so, als hätten sie sich gerade von einem Kriegsgeschehen entfernt oder nur eine Pause eingelegt, ehe es weiter gehen kann jenseits dieses Bildes, welches Erstaunen oder kühle Furcht auszulösen vermag. Ich stelle mir vor, ihre Sturmgewehre lehnten vor dem Laden an einer Wand. Und wenn wir gleich heraustreten an die frische Luft, wenn wir den Blick zum Himmel heben, würden wir die Sterne über Simferopol erkennen, oder über Jalta, über Sudak, über einer Landstraße, die im April 1986 gut informierte Menschen der sowjetischen Nomenklatura in Bussen aus dem Norden südwärts führte, während zur gleichen Zeit Fahrzeuge der Landstreitkräfte Tausende Ahnungsloser nordwärts in die entsetzlichen Strahlungsfelder Tschernobyls transportierten. – stop
gedankengang
echo : 3.18 — Ich gehe ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht, während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen, während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb, nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — Kurz nach vier Uhr auf dem Maidan-Platz, Kyjiw. — stop
bambus
marimba : 3.58 — In einem Moment der Stille beobachtete ich vor wenigen Stunden ein Bücherregal, das in meinem Arbeitszimmer steht. Ich meinte, ein Geräusch wahrgenommen zu haben, in etwa hörte sich das so an, als würde man ein Ohr an ein Bambusrohr legen, durch welches Kieselsteine fallen. Zunächst meldete sich das Geräusch links oben unter der Decke, wo sich Bücher befinden, die ich nicht gelesen habe, wartende Bücher, sagen wir, Mahnende. Kurz darauf wanderte das Geräusch in die Mitte des Regals, Christoph Ransmayr klimperte, John Berger, Janet Frame, Antonio Tabucchi. Ich hatte für einige Minuten den Eindruck, das Geräusch oder seine Ursache könnte sich vervielfältigt haben. Wenn nun folgendes geschehen wäre, dass sich die Bücher meines Regals in Funkbücher verwandelten, in Bücher, die nur vorgeben, Bücher von Papier zu sein, in Bücher also, die über Seiten verfügen, die eigentlich Bildschirme sind, die man umblättern kann. Dann wäre denkbar, dass ich jenes typische Geräusch vernommen habe, das in genau dem Moment entsteht, da der Autor eines Buches mittels Funkwellen eine erneuerte Fassung seines Werkes in die Zimmer der Welt entsendet. Ich muss darüber nachdenken, was die Möglichkeit oder die Existenz der Funkbücher bedeuten würde für das Schreiben, für das Aufhören können, für Anfang und Ende einer Geschichte. Und wenn nun Jean Pauls Komet in meinem Zimmer rascheln würde, oder Dantons Tod, Georg Büchner? – Noch zu tun: Regenwörter erfinden. — stop
nüsse. 20 gramm
olimambo : 0.15 — Als ich unlängst von einer Reise zurückkehrte, entdeckte ich Esmeralda auf dem Rahmen der Tür zum Arbeitszimmer. Die kleine Schnecke hockte genau dort, wo ich sie vor meiner Abreise zuletzt gesehen hatte. Vielleicht konnte sie das Gewicht meiner Schritte auf der Treppe spüren, ihre Fühleraugen jedenfalls waren bereits ausgefahren, als ich die Tür zur Wohnung öffnete. Esmeralda schien den heimkehrenden Mann in aller Ruhe zu betrachten. Ich überlegte, kaum hatte ich die Wohnung betreten, ob es möglich sein könnte, dass sich das Schneckenwesen in der Zeit meiner Abwesenheit nicht von der Stelle bewegt haben könnte. Geschälte Pekannüsse, die ich im Dezember noch in Küche und Diele auf den Boden legte, waren unberührt. Nun aber, da ich meinen Koffer auspackte, rührte sich Esmeralda. Sie schien an Gewicht verloren zu haben, war in ihrer Wanderung jedoch so schnell wie üblich, weshalb ich behaupten möchte, dass Esmeralda keinen Schaden genommen haben dürfte. Nach einer Weile erreichte sie das Arbeitszimmer und kletterte unverzüglich zur Decke empor, um direkt über meinem geöffneten Koffer Platz zu nehmen. Dort verweilte sie für mehrere Stunden, auch als ich meinen Koffer längst entleert und das Licht im Zimmer ausgeschaltet hatte, rührte sie sich nicht. Direkt unter ihr, auf dem Sofa, lagen ein Paar Handschuhe und ein Notizbuch. Gegen Mitternacht meldete sich L. Er berichtete, er habe einen Auftrag angenommen, nämlich in die Gegend von Narvik zu reisen, um zweihundert tiefgefrorene Seen, die noch ohne Namen sein sollen, zu bezeichnen. Als ich kurz darauf in mein Arbeitszimmer zurückkehrte, genau in dem Moment, da ich das Licht anschaltete, ließ Esmeralda sich von der Decke fallen. Sie landete weich auf meinen Handschuhen. Ein unglaublicher Anblick, es schien, als würde die Schnecke in drastischer Weise mit mir kommunizieren. Indem ich sie in die Luft hob, versuchte sie vergeblich, sich in ihr Haus zurückzuziehen. Jetzt wieder Ruhe. Nebelnacht. — stop
im zimmer. mitternacht
olimambo : 0.15 — Auf der Suche nach Daniil Charms Textsammlung Fälle balanciere ich vor dem Bücherregal auf einem Stuhl. Noch ist Samstag. Ich erhoffe mir in dem gesuchten Buch einen Ort zu finden, dessen Existenz ich fortan beweisen könnte. Ich stehe mitten im Zimmer. Woran denke ich? Ein bemerkenswerter Satz. Wie ich von meinem Stuhl steige und wieder auf dem Boden stehe, halte ich den Kriminalfall Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro in Händen. Das Buch wurde im Jahre 2000 gekauft und neun Jahre später mit einer Widmung versehen. Der Lieben P. und dem lieben J. zur Erinnerung an ihre Lissabonreise, anlässlich eines Blitzbesuches. Von ihrer G. Nun fällt mir auf, dass G. und J. gestorben sind, während P. und ich, der ich das Buch ausgeliehen habe, noch leben. Auch Daniil Charms ist tot und sein Übersetzer Peter Urban seit wenigen Wochen. Ein trauriger Moment. In meinem Kühlschrank herrschen 7 °C. Ich werde mich gleich auf die Suche nach meinen fünf Marienkäfern machen, die im Kühlschrank in einer Schachtel überwintern sollen. Zwei habe ich bereits entdeckt, das war vor drei Stunden gewesen, vermutlich ist das so, dass ich in dieser Minute alle Käfer aus den Augen verloren habe. Aber ich kann immerhin sagen, dass ich die Käfer gesehen, sie mir also gestern nicht eingebildet hatte. Käfer No 1 saß in der Diele nahe der Tür, als würde er warten. Käfer No 2 bewegte sich im Arbeitszimmer über das Fenster, hinter dem es stockdunkel gewesen war. Bevor ich mich auf die Suche mache, sollte ich vielleicht doch noch einmal einen Versuch unternehmen, meinen Daniil Charms zu finden. Gleich vorsichtig, nur nicht stürzen, den Stuhl besteigen. Bisweilen träumte ich, von einem Berg zu fallen. Langsam, ich gehe durchs Zimmer. Und während ich so gehe, erinnere ich mich lebhaft an G., an unseren letzten gemeinsamen Spaziergang über den Münchener Südfriedhof, wie ich mich wunderte, dass sie genau diesen Weg genommen hatte, um mich zur U‑Bahn zu bringen, da sie ahnte oder wusste, dass sie bald sterben würde. Es war ein warmer Sommerabend. Sie ging von Schmerzen gebeugt. In der windlosen Luft tanzten Fliegentürme. Ich kann mich nicht erinnern, worüber wir gesprochen haben. Aber an ihre Stimme, an ihren Blick, ihren letzten Blick, der ein Abschied war. — stop