alpha : 6.45 — Im Warenhaus entdecke ich Preise, unter anderem den Preis von 1.99 für ein Paar Handschuhe, gestrickt. Das fünfte Jahr in Folge ist es gekommen, dass die Preise für Handschuhe fallen. Sie scheinen inzwischen auf Bäumen zu wachsen wie Bananen. Auch Bananen werden immer billiger. An den Handschuhspitzen, dort wo man einen Zeigefinger hineinstecken kann, entkommen dem Gewebe Fäden. An dieser Stelle, so nehme ich an, waren sie mit ihrem Baum verbunden, hier wurden sie getrennt vom Wind, der Schwerkraft oder von Menschen, die kaum etwas verdienen, nur gerade so viel, dass sie nicht verhungern oder verdursten, weil man sie noch gebrauchen könnte in den nächsten Jahren, geübte, geduldige Frauen und Männer. Vermutlich sind Handschuhbäume ganzjährig blühende Wesen, irgendwo ist immer Winter. Außerdem lassen sich Handschuhe gut aufbewahren, sie verderben nicht so schnell, man muss sie nicht einmal kühlen, nur gefräßige Tiere vertreiben. Das alles, dass Handschuhe von den Bäumen kommen, scheint noch sehr geheim zu sein. Ich habe vor wenigen Minuten versucht mittels der Suchmaschine Google herauszufinden, wo Bäume, wie ich sie mir vorstellte, wachsen und wo man sie ihrer Früchte beraubt. –stop
Aus der Wörtersammlung: gerade
im reservat der trinkerlemure
himalaya : 6.46 — Ich hörte, irgendwo auf dieser Welt soll eine Stadt existieren, die über einen besonderen Park verfügt, eine Naturlandschaft, in welcher Trinkerlemure existieren, Abertausende beinahe unsichtbare Personen. Man kann sich das vielleicht nicht vorstellen, ohne längere Zeit darüber nachgedacht zu haben. Wälder und Wiesen, ein Fluss, da und dort ein Berg, nicht sehr hoch, Höhlen, Hütten, Schlafsacktrauben, die von mächtigen Bäumen baumeln. Man könnte sagen, dass es sich bei diesem Park vermutlich um ein Hotel oder ein Reservat handeln wird von enormen Ausmaßen, 15 Kilometer in der Breite, 20 Kilometer in der Länge. Das Areal ist umzäunt. Tore bieten Zugang im Westen, im Norden, im Osten, im Süden. Dort fahren Ambulanzen vor oder Krankenwagenbusse, um schreckliche Gestalten auszuladen, die in den großen Städten der Welt aufgesammelt wurden, zerlumpte, eitrige, zitternde Wesen, sie sprechen oder fluchen in Sprachen, die wir nur ahnen, wenn wir uns Mühe geben, ihnen zuzuhören, Englisch ist darunter, Russisch, Chinesisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und viele weitere Sprachen mehr. Sie haben meist eine weite Reise hinter sich, aber jetzt sind sie angekommen, Endstation Sehnsucht, Krankenschwestern helfen, den letzten Weg zurückzulegen durch eines der Tore. Dann sind sie frei. Wir erkennen am Horizont eine Straßenbahnhaltestelle. Sie liegt am Rande eines Waldes. Tatsächlich fahren dort ausrangierte Züge der Stadt Lissabon im Kreis herum, es geht um nichts anderes, als dass man in diesen Zügen sitzen und trinken darf so viel man will. Aus polierten Hähnen strömt Whiskey. An jedem zweiten Baum ist ein Fässchen mit Likören oder Gin oder Wodka zu entdecken. Es riecht sehr fest in dieser Landschaft, gerade dann, wenn es warm ist, Bienen und Fliegen und Libellen torkeln über wundervoll blühende Wiesen. Da und dort sitzen heitere Gruppen volltrunkener Männer und Frauen in der Idylle, sie erzählen von der Heimat oder von den Delirien, die man bereits überlebt haben will. Manch einer weiß nicht mehr genau, wie sein Name gewesen sein könnte. Andere lehnen an Bäumen, klapperige Tote, die ungut riechen, arme Hunde. Aber wer noch lebt, ist rasend vor Angst oder zufrieden, man kann sich überallhin zur Ruhe legen. In dem Flüsschen, das ich bereits erwähnte, lagert flaschenweise kühles Bier, es scheint sogar der Himmel nicht Wasser, sondern Wodka zu regnen, auch die Vögel alle sind betrunken. Aus einem Waldgebiet tritt eine zierliche Frau, sie taumelt. Die Frau trägt einen Hut und ein langes weißes Kleid, so schreitet sie durch das hohe Gras, bückt sich nach den Blüten, es ist in der Zeit der Kornblumen, dieses zauberhafte Blau. Manchmal fällt die Frau um, sie ist dann eine Weile nicht zu sehen, aber dann erscheint ihr Hut zunächst und kurz darauf sie selbst. Jetzt steht sie ganz still, schaukelt ein wenig hin und her, seit Stunden frage ich mich, um wen genau es sich handeln könnte. — stop
funkstille
~ : malcolm
to : louis
subject : FUNKSTILLE
date : oct 17 12 8.15 p.m.
Ja, warum antworten Sie denn nicht, verdammt, wenn wir ihnen schreiben? Rom. Das ist doch kein Grund, sich nicht zu melden. Kaum auszudenken, wenn wir das so machen würden wie Sie. Frankie haben wir jedenfalls wiedergefunden. Fünf Tage war er nicht zu finden gewesen, kein Signal, kein Frankie im Central Park, wie vom Erdboden verschluckt. Man stelle sich das einmal vor, wir würden Frankie’s Spur verloren haben, wenn es einmal wirklich ernst geworden ist. Wir dachten, die Brennstoffzellen seines Senders könnten ausgefallen sein. Es war an einem Samstag, da war Frankie plötzlich fort, Höhe 76. Straße. Gerade noch kauerte er neben einer Eiche. Wir waren müde, glaube ich, es war Abend, wir saßen in Sichtweite auf einer Bank, vielleicht sind wir kurz eingeschlafen. Natürlich haben wir sofort die Suche nach Frankie aufgenommen. Haben jede Unterführung geprüft und jedes der Abflussrohre, die Frankie zum Verhängnis geworden sein könnten. Grauenvolle Tage, wir irrten ziellos herum. Jedes Eichhörnchen, dem wir uns näherten, konnte Frankie gewesen sein. Das war ein Albtraum, eine ungeheure Sache, wie ähnlich sie sich doch sind. Matt wurde mehrfach in die Hand gebissen, wir tragen jetzt Lederhandschuhe. Und dann kam Frankie zurück. Es war wieder Abend geworden und Frankie tauchte genau dort, wo wir ihn verloren hatten, wieder auf. Langsam kam er auf uns zu, sein Schwanz zitterte, sein fester Körper bebte, er machte den Eindruck, als wollte er uns begrüßen. So nah kam er heran, dass wir ihn berühren konnten. Ich habe mir gedacht, dass Frankie verdammt genau den Eindruck machte, als hätte er nach uns gesucht wie wir nach ihm, und dass er froh gewesen war, uns endlich gefunden zu haben. Das ist schon eine seltsame Geschichte. Gerade sitzt Frankie auf einer Bank neben uns. Er knackt Erdnüsse, die wir im schenkten. Eine Art Bestechung vielleicht. Der Sender piepst. Alles scheint wieder in Ordnung zu sein. Ihr Malcolm – stop / codewort : lilienthal
empfangen am
18.10.2012
1512 zeichen
rom : umberto ecco
alpha : 22.57 — Der Mann hinter dem Tresen ist ein freundlicher Mann, unrasiert, akkurat gebügeltes weißes Hemd, ein hübsches, junges Gesicht, das an den Wänden auf zahlreichen Fotografien wiederzufinden ist, vermutlich deshalb, weil man sich mit ihm zeigen wollte, abgelichtet sein, sagen wir, berühmte Menschen und einfache Menschen, die ich nicht auseinanderhalten kann, weil ich die berühmten Menschen der Stadt Rom nicht kenne. Sie lächeln an der Seite des jungen Mannes stehend, manche scheinen vielleicht betrunken zu sein. Aber einen der fotografierten Männer habe ich schon einmal gesehen, es handelt sich bei diesem Herrn um Umberto Eco. Der Schriftsteller zeigt seine Zähne, er lacht in die Kamera. Umberto Eco scheint an diesem Abend, der einem Stempelaufdruck zufolge drei Jahre zurückliegt, hervorragend gelaunt gewesen zu sein. Vielleicht hatte er gerade einen dieser herrlichen Espressos getrunken, wie ich an diesem Morgen. Es war vermutlich Winter gewesen, Umberto Ecco trägt einen Hut und einen Mantel mit einem Pelzkragen. Oder es war Sommer und Umberto Ecco hatte sich in der Jahreszeit vertan. Wieder ist es sehr warm heute. Eine Ambulanz rast an der weit geöffneten Tür des Cafés vorbei, man kann das Geräusch der Sirenen der Not den ganzen Tag über vernehmen. Aber nachts ist es still in dieser Stadt, Rom ist eine Stadt, die schläft wie die Menschen, die sie bewohnen. Es riecht nach warmem Schinken in diesem Moment. Auf dem Bildschirm meines Fotoapparates sind Säulen zu sehen und Durchleuchtungsmaschinen und Hunderte leere Plastikflaschen, Substanzen, die man nicht mit in die große, kalte Kirche am Petersplatz nehmen darf, sie könnten explodieren. Ich hebe den Fotoapparat leicht an und fotografiere Umberto Eco, sodass er jetzt zweifach im Pelzkragen existiert. Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, das Pantheon zu besuchen, ich würde gern warten, Tage, Wochen, um nachzusehen, ob Umberto Eco zurückkommen wird. Ich habe bemerkt, dass meine Ohren knistern, wenn ich Kaffee trinke in Rom. — stop
gebete
delta : 6.46 — Das war so gewesen. Kurz nach dem Abendessen treffe ich im Zug auf einen Freund. Er kam gerade vom Gebet. Ich weiß nicht, wie er das macht, er betet an allen denkbar unmöglichen Orten, aber immer zur rechten Zeit. Wir müssen nicht mehr darüber sprechen, er ist Moslem, überzeugt, tiefgläubig, ich bin Christ, einer, der eher zweifelt, aber nicht NEIN sagen will, nicht, dass das alles Unfug ist mit den Jenseitsgeschichten. Mein Freund und ich lieben Jazz. Er ist ein Schlagzeuger von hoher Begabung, ich habe ein feines Gehör, das ist die andere Seite, mein bebendes Zwerchfell, wenn er spielt. Was das doch für ein Irrsinn wieder ist, dieser Film, diese Provokation, dass das nie aufhört, sagte er dann doch in meine Richtung. Und dass ihm das vor allem so unangenehm sei, weil wir doch wie Puppen sind, die man aufziehen kann, irgendwo eine böse satirische Zeichnung, und schon tanzen wir los. — Ja, das ist äußerst seltsam, diese Art der Kommunikation über große Entfernungen hinweg, die Menschenleben fordert. Überhaupt ist das merkwürdig, die Schöpfung, der Tod, das Erzählen von der Zeit danach, die Gesetze, die Bewertung nach Gut und Böse. Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren einmal mit meinem Vater vor einem Fernsehgerät saß. Das war an einem Ostersonntag kurz vor 12 Uhr mittags gewesen. Auf einem Balkon in Rom stand ein alter Mann, er trug einen merkwürdigen Hut auf dem Kopf und sprach in singender Weise Verse, von welchen ich ahnte, dass es sich nur um ein Gebet handeln könnte. Das Gebet war in meinen Ohren nicht verständlich gewesen, weil es in italienischer Sprache gesungen wurde, aber dann äußerte sich der geistliche Mann plötzlich in einer mir bekannten Sprache. Meine Mutter war indessen hinzugetreten. In genau dem Moment, da der alte Mann seinen Segen erteilte, kniete sie nieder und bekreuzigte sich. Ich erinnere, mich über ihre Geste gewundert zu haben, das Knien vor einem Fernsehgerät. Genaugenommen wundere ich mich bis heute, wie der Segen wandert. — stop
mr. munki
marimba : 6.22 — Das Vergessen ist nicht gerade eine meiner Stärken. Ich kann mich noch nach Jahren an jedes schwierige Gespräch erinnern, wo es sich ereignete, mit wem ich mich unterhalten hatte und worüber. Dafür vergesse ich auf dem Weg von meinem Arbeitszimmer in die Küche, weshalb ich mich eigentlich in Bewegung setzte. Auch die Uhrzeit vergesse ich gerne, Telefonnummern, Passwörter, Namen, ganze Bücher, dass sie existieren, Buchstaben, meinen Regenschirm. Einmal wäre ich beinahe im Herbst ohne Schuhe auf die Straße getreten. Genau genommen bin ich im Vergessen leichtfüßiger, als ich dachte. Ich vergesse aber leider in vielen Fällen nicht, was ich gerne vergessen würde. Heute habe ich bemerkt, dass ich versäumte, also vergessen habe, in einem Buch weiterzulesen, das ich im Mai zuletzt in Händen gehalten habe. Vielleicht erinnern Sie sich, es handelte sich um Pete L. Munki’s Roman Nautilus. Der Erzähler der Geschichte, ein junger Mann namens Zezito Lopes, ruhte zuletzt im 10. Stock eines Hauses in der Lexington Avenue auf einer Treppenstufe. Früher Nachmittag. Ein schwerer Behälter von gepanzertem Glas, in dem sich zwei Fische der Gattung Nautilus befanden, stand neben dem wartenden Mann auf dem Boden. Ich erinnerte mich damals, dass der junge Mann, er war ein gut trainierter Träger, sich kurz darauf erhoben hatte, um an einer der Wohnungstüren, die auf den Flur führten, zu klingeln und nach einem Glas Wasser zu fragen. Unverzüglich wurde geöffnet, ein Gespräch entwickelte sich, in dessen Folge Zezito Lopes sich bückte, seinen gepanzerten Behälter in die Hände nahm und mit ihm in der Wohnung verschwand. So weit, so gut. Als ich das Buch im Mai im Zug geöffnet hatte, konnte ich die markierte Textstelle nicht finden. Sofort der Gedanke, ich hätte möglicherweise fantasiert, eine beunruhigende Vorstellung. Nicht minder beunruhigend schien mir der Gedanke gewesen zu sein, das Buch selbst könnte sich verändert haben, weiter- oder umgeschrieben worden sein, obwohl sich das Buch, auch nachts, immer in meiner Nähe aufgehalten hatte. Zu Hause angekommen legte ich das Buch unter andere Bücher auf meinem Schreibtisch ab, wo ich es heute wieder entdeckte. Als ich das Buch öffnete, war das Buch leer. Kein Zeichen zu finden, nur der Titel der Geschichte: Nautilus. Darunter ein weiterer Satz: Bitte warten. Pete L. Munki. — stop
PRÄPARIERSAAL : xiangs momentaufnahme
nordpol : 8.27 — Xiang, 24, notiert in einer E‑Mail über Musik und Anatomie – zwei Begriffe, die auf den ersten Blick unvereinbar scheinen. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto deutlicher erkenne ich eine mögliche Verbindung. Sicher ist es das Thema des Todes, dass die Musik dort dominieren würde, sodass mir spontan Besetzungen wie Orgel (allmächtiger Charakter), Xylofon (Kälte, Leblosigkeit) oder Chor (Totenklage) einfallen. Ich kann mir entweder sehr alte Musikstile, wie Gregorianik und Frühbarock, oder Musik des 20./21. Jahrhunderts vorstellen, z. B. John Cage oder George Crumb, deren Intention immerhin gerade in einer gewissen Absurdität, Grenzüberschreitung, bzw. in gewollter Entfernung von der Ästhetik der Wirklichkeit zu finden ist. Gerade dieses Moment prägt die Atmosphäre des Präpariersaales: eine zwar artifizielle, jedoch nicht primär ästhetische Arbeit an menschlichen Körpern, die durch den Tod und den Vorgang des Haltbar-Machens von einem Individuum zu einem Präparat verwandelt wurden, sodass Zeitlosigkeit an die Stelle dynamischen Lebens getreten ist. Es ist nicht leicht an Musik in diesem Zusammenhang zu denken, da sich Musik gerade durch ihren ewigen Fluss, ihre im Inneren geborgene Lebendigkeit auszeichnet, ihre Seele, die niemals sterben kann, selbst dann nicht, wenn noch so viele Versuche unternommen werden, sie in Momentaufnahmen zu konservieren. — stop
gedankengang
alpha : 6.38 — Ich gehe ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. Ich habe schon viel nachgedacht, während ich ging. Und ich habe schon viel vergessen, während ich ging. Wenn ich gehe, kommen die Gedanken aus der Luft und verschwinden wieder in die Luft. Wenn ich sitze, kommen die Gedanken aus meinen Händen. Sobald ich einmal nicht schreibe, ruhen meine Hände auf den Tasten der Schreibmaschine und warten. Sie warten darauf, dass eine Stimme in meinem Kopf diktiert, was zu schreiben ist. Ich könnte vielleicht sagen, dass meine Hände darauf warten, mein Gedächtnis zu entlasten. Was ich mit meinen Händen in die Tastatur der Maschine schreibe, habe ich gedacht, aber ich habe, was ich schrieb, nicht gelernt, nicht gespeichert, weil ich weiß, dass ich wiederkommen und lesen könnte, was ich notierte. Seltsame Dinge. Ich denke manchmal seltsame Dinge zum zweiten oder dritten Mal. Gerade eben habe ich wahrgenommen, dass es nicht möglich ist, zwei Zeichen zur selben Zeit auf meiner Schreibmaschine zu schreiben, immer ist ein Zeichen um Bruchteile von Sekunden schneller als das andere Zeichen. Wenn ich seltsame Dinge gedacht habe, freue ich mich. Wenn ich mich freue, kann ich nicht bleiben, wo ich bin. Die Freude ist ein Gefühl, das mich in Bewegung versetzt. Ich springe auf, wenn ich saß, oder ich springe in die Luft, wenn ich bereits auf meinen Beinen stand. Dann gehe ich ein paar Schritte nach links, dann gehe ich ein paar Schritte nach rechts. Sobald ich gehe, denke ich in einer anderen Art und Weise, als würde ich noch sitzen. — stop
PRÄPARIERSAAL : schlafgänger
charlie : 6.54 — Otto Lilienthal soll als junger Mann ein Schlafgänger gewesen sein wie mein Vater. Ich erinnere mich, dass er einmal erzählte, er habe während früher Forschungszeit sein Bett mit einem „leichten Mädchen“ geteilt. Nachts schlief er auf ihrem Lager, tags sie auf dem Lager meines Vaters. Eine merkwürdige Vorstellung. Sie sind sich, wenn ich mich nicht irre, persönlich nie begegnet sein, aber ihren Gerüchen, Wärme, einem Körperabdruck, Haar. — Kurz vor Sonnenaufgang. Gerade eben lese ich einen E‑Mailbrief June’s, 22. Sie schildert in lakonischer Weise ihre Erfahrung eines Präpariersaales: > Der Tag des ersten Testates: Nervosität, Übelkeit, bestanden! Glücksgefühle, ab nach Hause, schlafen! Jetzt alles tun, außer lernen. Oh, es ist schon spät, verdammt, was muss ich morgen eigentlich machen? Das werde ich in der S‑Bahn schon noch herausfinden. Dann der erste Tag des neuen Abschnitts: Arm oder doch der Kopf? Was muss ich eigentlich tun? Ich hätte mir das gestern doch noch ansehen sollen, meine Assistentin wird mir schon helfen, erst mal das Fett abtragen, da kann ich nicht viel falsch machen. Was muss ich eigentlich finden? Ach, das finde ich morgen auch noch! Endlich nach Hause! – Der 2. Tag: Was habe ich heute zu unternehmen? Verdammt, warum meint mein Assistent, dass es nicht gut ist, dass ich diesen kleinen Hautnerv noch nicht gefunden habe. Feierabend! — Der 3. Tag: Nachtarbeit, müde! — Der 4. Tag. Ich bin schon wieder nicht vorbereitet, ich hatte so viel nachzuholen, bald ist erneut Testat und ich kann noch nicht einmal mein eigenes anatomisches Gebiet erklären. – 5. Tag, zwei Tage vor dem zweiten Testat: Panik! Ich habe überhaupt keine Ahnung. Ich muss noch so viel lernen, dass das alles niemals in meinen Kopf gehen wird. Ich habe zwar schon sehr viel gelernt, aber ich habe alles, was ich lernte, wieder vergessen. — 6. Tag, letzter Tag vor dem Testat: Ich glaube, mein Präpariergebiet kann ich jetzt inwendig und auswendig, aber ich weiß nichts vom Bein! Wenn ich über das Bein gefragt werde, dann falle ich durch! Ich muss noch dringend das Bein lernen! Nein, das lern ich jetzt nicht mehr. Mut zur Lücke. Nacht! — stop
summenlicht
himalaya : 3.15 — Über meinem Schreibtisch brennt seit einer Stunde ein warmes Licht, elektrisches Feuer, welches einem Glaskolben entkommt, in dem sich weitere kleinere Glaskolben befinden. Diese kleineren, unsichtbaren Glaskolben erzeugen das eigentliche Licht, das als Summenlicht durch das milchige Glas zu mir in den Raum entkommt. Ich dachte gerade eben noch, als ich eine Konstruktionszeichnung meiner neuesten Leuchtbirne betrachtete, dass sie Lichtbeeren enthält, Lichtkirschen genauer. Auf einem weiteren Zettel war das schöne Wort Lumen verzeichnet, außerdem der Hinweis, ich könnte meine Lampe 12000 Male ein und wieder ausschalten, ohne dass mein neues Licht daran zugrunde gehen würde. Noch viel erstaunlicher war mir vorgekommen, dass der Lichtkörper, den ich erworben hatte, 25 Jahre leuchten wird. Eine erstaunliche Aussage. Sie ist in einer Weise verzeichnet, als wäre ihre Grundlage Erfahrung. Ich habe mir gedacht, dass man vielleicht eine Möglichkeit gefunden haben könnte, die Zeit für Untersuchungen des Lichts derart zu beschleunigen, dass aus 25 Menschenjahren 2 Lampenmonate werden. Ich bekomme das bisher nicht vollständig in meinen Kopf, insbesondere den Gedanken nicht, dass ich nach meiner ersten schönen Lampenbirne zu meiner Lebzeit höchstwahrscheinlich nur noch eine weitere Frucht dieser Art für gute Sicht über meinem Schreibtisch erwerben werde. — stop