alpha : 2.58 — Ich beobachtete einen jungen Mann, der lange Zeit neben einer Ampel vor einer Kreuzung stand, eine vornehme und zugleich merkwürdige Erscheinung. Der Mann trug einen eleganten, grauen Anzug, hellbraune, feine Schuhe, ein weißes Hemd und eine Krawatte, feuerrot. Er machte etwas Seltsames, er setzte nämlich seinen rechten Fuß auf die Straße, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, als ob der Belag der Straße zu heiß wäre, um sie tatsächlich betreten zu können. Das ging eine Viertelstunde so entlang, ein früher Nachmittag, es regnete leicht. Der Mann schien nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachtete. Um uns herum waren sehr viele Menschen unterwegs gewesen, die die Kreuzung Broadway Ecke 30. Straße schnellfüßig unter sich drehenden Regenschirmen überquerten. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, der Mann würde sich verhalten wie eine Figur in einem sehr kurzen Film, der sich unablässig wiederholte. Einmal bleibt eine ältere Frau neben ihm stehen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch entschlossen auf die Straße, um kurz darauf zurückzukehren und dem jungen Mann eine Tüte Nüsse zu überreichen. In genau diesem Augenblick ließ ich los und spazierte weiter in Richtung South Ferry, ohne mich noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stille draußen vor den Fenstern, kühle Nacht. Erinnerte mich vor wenigen Stunden an Alexandros Panagoulis, an das vorgestellte Bild des Dichters, wie er im griechischen Militärgefängnis Bogiati in einer Zelle sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedichte, die er aufhebt in seinem Kopf. Lange musste ich nach seinem Namen suchen, er war verschwunden gewesen, als hätte ich nie von ihm gelesen. — stop
Aus der Wörtersammlung: geste
ai : SUDAN
MENSCHEN IN GEFAHR: „Zwei Mitglieder der presbyterianischen Kirche im Südsudan, Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen, sind am 1. März auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs in acht Punkten unter Anklage gestellt worden. Zwei der ihnen zur Last gelegten Straftaten können die Todesstrafe nach sich ziehen. Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen waren am 21. Dezember 2014 bzw. am 11. Januar 2015 vom sudanesischen Geheimdienst (NISS) festgenommen worden und wurden bis zum 2. März 2015 ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten. Sie wurden am 1. März auf der Grundlage des Strafgesetzbuchs von 1991 unter Anklage gestellt. Die ihnen zur Last gelegten Straftaten sind “gemeinsame Handlungen zur Planung einer kriminellen Handlung”, “Unterwanderung der verfassungsmäßigen Ordnung”, “Krieg gegen den Staat”, “Spionage gegen das Land”, “Enthüllung und Erhalt von Informationen und offiziellen Dokumenten”, “Schüren von Hass zwischen religiösen Gruppen”, “Störung des öffentlichen Friedens” und “Beleidigung von religiösen Überzeugungen”. Auf der Grundlage des sudanesischen Strafgesetzbuchs können die Straftatbestände “Krieg gegen den Staat” und “Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung” mit der Todesstrafe geahndet werden, während die übrigen sechs Straftatbestände eine Prügelstrafe nach sich ziehen. Es ist davon auszugehen, dass die beiden Geistlichen wegen ihrer religiösen Überzeugungen festgenommen und angeklagt wurden. Der NISS hielt die Gefangenen bis zum 2. März ohne Kontakt zur Außenwelt fest. An diesem Tag wurden sie ins Gefängnis Kober in Khartum verlegt, und man gestattete ihnen erste Familienbesuche.Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen traten am 28. und 29. März zwei Tage in den Hungerstreik, um gegen ihre fortgesetzte Inhaftierung und die Verweigerung des Zugangs zu Rechtsbeiständen zu protestieren. Sie werden derzeit von einem pro bono tätigen Anwaltsteam vertreten. Am 19. und am 31. Mai haben bereits Anhörungen im Fall der beiden Geistlichen stattgefunden. Am 15. Juni soll ihre Verfahren fortgesetzt werden. Amnesty International betrachtet Reverend Yat Michael und Reverend Peter Yen als gewaltlose politische Gefangene, die allein wegen der friedlichen Wahrnehmung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung festgenommen, inhaftiert und angeklagt wurden.” — Hintergrundinformationen sowie empfohlene schriftliche Aktionen, möglichst unverzüglich und nicht über den 21. Juli hinaus, unter »> ai : urgent action
2 + 5 = 8
alpha : 7.12 — Seit einigen Tagen werde ich von meiner Particles-Wordpressmaschine, sobald ich die Seite der Anmeldung öffne, aufgefordert, unverzüglich nachzuweisen, dass ich ein Mensch bin: Prove your humanity. Dieser prägnanten Aufforderung ist je eine Rechenaufgabe nachgestellt, Zahlen sind zu addieren, etwa die Zahl 4 zur Zahl 6, weswegen ich mir zu diesem Zeitpunkt noch keine Sorgen mache. Eigentümlicherweise jedoch empfinde ich die Aufforderung, meine menschliche Eigenart darzustellen, als eine Zumutung. Einmal unterläuft mir ein Rechenfehler, und tatsächlich werde ich nicht weiter vorgelassen, obwohl ich meinen korrekten Benutzernamen und mein korrektes Passwort, mehrfach geprüft, in die Maske des Log-ins notierte. Es ist seltsam, seit ich mich beweisen muss, habe ich den Eindruck, meine Particles-Wordpressmaschine sei selbst mächtiger oder menschlicher geworden, eine Persönlichkeit, die mir vielleicht in wenigen Tagen zum Beweis meines menschlichen Ursprungs die Lösung eines Dreisatzes abverlangen wird. — stop
von der wirbelkastenschnecke
tango : 3.52 — Gestern war ein heißer Tag gewesen, es war heiß in der Küche, heiß in den Zimmern zum Schlafen, zum Spazieren, heiß im Bad, im Treppenhaus, sogar im Keller, auf der Straße und in der Trambahn war es so heiß, dass ich mich gern sofort in einen Kühlschrank gesetzt haben würde. Als ich das Wort Kühlschrank dachte, erinnerte ich mich an einen hölzernen Kühlschrank, den ich mir einmal ausgemalt hatte, da war ich gerade auf dem Postamt, auch da war es heiß, und die Männer und Frauen hinter dem Tresen schwitzten. Ausgerechnet an einem Tag heißer Luft erreichte mich ein Päckchen, auf das ich seit beinahe zwei Wochen in außerordentlicher Kälte wartete. Ich hatte bei Hvalfjördur Corporation eine Scheibe aus dem Brustbein eines Pottwales bestellt, aber die isländische Post war acht Tage lang in einen Streik getreten, und so war das gekommen, dass das Päckchen einen erbärmlichen Gestank verströmte, was mich nicht im Mindesten wunderte, da man vergessen hatte, das Brustbein des Wales, der bereits im Mai gefangen und zerlegt worden war, ganz und gar von Blut zu befreien. Nun aber ist alles wieder in Ordnung. Ich habe den Knochen, der erstaunlich leicht in der Hand liegt, gründlich gereinigt, nur noch ein leiser Verdacht von Verwesung liegt in der Luft, ist vermutlich nicht tatsächlich, ist vielmehr ein Faden von Erinnerung. Sobald der Knochen getrocknet sein wird, werde ich einen ersten Versuch unternehmen, eine Schnecke aus ihm zu schnitzen, die der Wirbelkastenschnecke einer Geige ähnlich sein wird. – Samstag, kurz vor Dämmerung. Es ist noch immer heiß. Vor den Fenstern jagen Fledermäuse. – stop
radioteilchen
tango : 6.06 — Das Radio erzählt heute Morgen wieder gefährliche Geschichten. Man habe nämlich gestern in der Luft und am Boden nahe Fukushima Plutoniumteilchen entdeckt. Gefährlich für Menschen, so berichtet das Radio, seien diese Particles nicht, weil sie bereits seit den 50er- und 60er-Jahren gleichmäßig über die Erde verteilt existieren, da man testweise Inseln mittels Wasserstoffbomben sprengte. Jetzt ist das aber so, dass zwei von fünf vorgefundenen Teilchen jüngerer Zeit entstammen, vermutlich aus einem Reaktor in nächster Nähe selbst, demzufolge einer oder mehrere der Reaktoren undicht geworden sein könnten. — stop
das auge der ezmer
himalaya : 0.01 — Ich habe Palmira zunächst nicht wirklich ernst genommen. Sie erzählte vor einigen Wochen, das linke Auge ihrer Tochter Ezmer würde sich seltsam verhalten, ich hörte kaum hin. Gestern dann habe ich Mutter und Tochter zufällig in einer Straßenbahn getroffen. Tatsächlich schien sich das linke Auge der kleinen Ezmer in Richtung des nahegelegenen Ohres in Bewegung gesetzt zu haben. Die Frage, ob sie Schmerzen empfinde, verneinte Ezmer, auch könne sie mit ihrem wandernden Auge weiterhin bestens sehen. Sie fragte mich: Wo will es denn hin? Woraufhin Ezmer’s Mutter Palmira bemerkte: Mach Dir keine Gedanken, Kleines, Dein Auge geht nur einen Augenblick lang spazieren. — stop
am radio
zoulou : 0.08 — Als ich das Radio einschaltete, hörte ich, bei Ryanair, einer Fluggesellschaft, sollen die Stückkosten, demzufolge die Kosten je transportierten Passagiers, erneut dramatisch gesunken sein. Weiterhin würden in einem Land des Fernen Ostens bald Züge über das Land rasen, die stets sehr pünktlich sein werden, da sie auch von sich selbst mordenden Menschen niemals aufzuhalten sind, sie fahren immer weiter und weiter zu. Auf der ersten Seite einer spanischen Provinzzeitung sei ein leichtgewichtiger Hund zu sehen, der im Moment seiner Aufnahme von einer Elektrodrohne über ein Hausdach befördert wurde. Die Zahl der hungernden Menschen auf dieser Welt würde im kommenden Jahr erfreulicherweise um 10 Millionen auf unter 800 Millionen Menschen sinken. Das war gestern. — stop
freitag
india : 4.10 — Gestern Abend im Gespräch entdeckte ich die Existenz der Ohrmuschelforscher. Es existieren außerdem Herzforscher, Knochenforscher, Lungenforscher, Kehlkopfforscher. An dieser Stelle höre ich auf zu erzählen. Heute ist Freitag. Guten Morgen. — stop
von nelken
echo : 6.10 — Ich beobachtete eine alte Frau, wie sie unter einem Regenschirm im Garten kniend Nacktschnecken von Nelkenblumen pflückte. Neben sich hatte die alte Frau einen kleinen Eimer abgestellt, der sich allmählich mit Schneckenkörpern füllte. Heftiger Regen. Ich konnte den Regen hören, wie er auf den Schirm der alten Frau trommelte. Und ich hörte eine helle Stimme, die mit sich selbst oder zu den Schnecken sprach. Immer wieder einmal stand die alte Frau vorsichtig auf, um in ihr Haus zurückzukehren. Sie klopfte dann ihre Schuhe ab, stand hinter dem Fenster, schaute in den Garten und wartete, bis weitere Schnecken ohne Häuser in die Nähe ihrer Nelken gekommen waren. Diese Schnecken reisten nicht von der Seite her an, sondern kamen tatsächlich von unten aus dem erdigen Boden herauf. Waren es wieder viele Schnecken geworden, kehrte die alte Frau zurück in ihren Garten und erneut hörte ich den Regen und eine helle Stimme. Ich hatte bald den Eindruck, diese Schnecken, die unablässig aus dem Boden stiegen, könnten rein aus etwas Haut und klarem Wasser bestehen, es waren derart viele, dass sie ganz einfach zunächst winzige Wesen sein mussten, die sich zu ihrer vollen Entfaltung mit Wasser füllten, sobald es regnete. Nach drei Stunden war der Eimer gefüllt und die alte Frau deckte ihn mit einem Kochtopfdeckel zu, holte aus dem Haus einen weiteren Eimer, der etwas größer gewesen war, als der erste Eimer. Es dämmerte, dann war es dunkel, und als es richtig dunkel geworden war, finster, kehrte die alte Frau mit einer Taschenlampe in den Garten zurück. Sie trug jetzt Gummistiefel an den Füßen und ein Nachthemd und es regnete noch immer. — stop
radare
whiskey : 0.02 — Für die Position particles in der digitalen Sphäre waren gestern, Freitag, 3. Mai, 12.718 Besuche, Aufrufe, Berührungen zu verzeichnen. 324 Besuche scheinen von menschlicher Natur gewesen zu sein, 12394 Besuche sind vermutlich Maschinen, Computerprogrammen, Routinen wie Radaren zuzuordnen. — Past midnight. Never knew such silence. — stop