Aus der Wörtersammlung: graben

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rom : winde

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sier­ra : 8.52 — Leich­ter Luft­zug von Süden, schwe­re Hit­ze. Spa­zier­te im Colos­se­um, präch­ti­ge Rui­ne, Thea­ter der Grau­sam­keit. Da muss über­all noch uralter Kno­chen­staub im Boden ver­bor­gen sein, Mate­ria­len vom Tiger, vom Fluss­pferd, von Giraf­fen, von Men­schen. Ges­tern hat­te der öffent­li­che Dienst der Stadt gestreikt, auch die Funk­tio­nä­re der Are­na, wes­we­gen an die­sem Tag tau­sen­de Besu­cher zusätz­lich Zutritt wün­schen. Eine lan­ge Rei­he War­ten­der, hun­der­te Meter weit in der Son­ne tief unten auf der Stra­ße. Robo­ter­ma­schi­nen der Stra­ßen­rei­ni­gung dösen im Schat­ten der Pini­en. Gla­dia­to­ren­imi­ta­to­ren ste­hen zur Foto­gra­fie bereit. Pfer­de­hu­fe klap­pern die Via di San Gre­go­rio auf und ab. Über das Forum Roma­n­um gleich gegen­über fegt ein Wind, der sich genau auf die­sen his­to­risch bedeu­ten­den Bezirk zu beschrän­ken scheint, es ist ein gra­ben­der, wir­beln­der Wind, Sand­tür­me krei­sen zwi­schen Mau­er­res­ten, Stäu­be, die über das Meer geflo­gen kom­men, von Afri­ka her, schmir­geln am alten Euro­pa, ver­fan­gen sich in den Sei­den­tü­chern der Händ­ler, die tat­säch­lich flie­gen­de Händ­ler sein könn­ten, weil sie vie­le und sich der­art ähn­lich sind, dass sie phy­si­ka­li­schen Geset­zen wider­ste­hend über­all zur glei­chen Zeit erschei­nen. Abends sitzt dann ein Mann wie aus hei­te­rem Him­mel mit einem Pro­test­tuch auf der Kup­pel des Peters­doms. Unter­halb der Later­ne, in über ein­hun­dert Meter Höhe, scheint er sich fest­ge­zurrt zu haben. Auf dem Platz bleibt er indes­sen von den Fla­neu­ren unbe­merkt. Er scheint viel zu klein zu sein, zu weit ent­fernt er selbst und auch das Tuch, auf das er irgend­et­was notier­te. Ein zit­tern­des Licht ist immer wie­der zu sehen, eine Art Fin­ger. Kei­ne Mor­se­zei­chen. — stop

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winterfliegen

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char­lie : 6.37 — Regen fällt. Soviel Regen fällt, dass die Nacht­luft hell wird vom Was­ser. Viel­leicht war es die­se Hel­le, die mich an die Fra­ge nach der Exis­tenz der Win­ter­flie­gen erin­ner­te. Vor eini­gen Tagen hat­te ich mich auf die Suche nach die­ser Spe­zi­es bege­ben. Nicht in der wirk­li­chen, aber in der Welt der Zah­len, wel­che Zei­chen, Bil­der, Fil­me in Licht­ge­schwin­dig­keit durch den Raum trans­por­tie­ren. Ich such­te nach Win­ter­flie­gen vor­nehm­lich in den Maga­zi­nen digi­ta­ler Biblio­the­ken, aber ich habe kei­ne Flie­gen­sor­te gefun­den, die mei­nen Vor­stel­lun­gen einer pola­ren Flie­gen­gat­tung ent­spro­chen haben wür­de, denn die Art der Win­ter­flie­gen soll­te in eisi­ger Umge­bung exis­tie­ren, in Höh­len, stel­le ich mir vor, die sie mit ihren Flie­gen­fü­ßen höchst­per­sön­lich in den Schnee gegra­ben haben. Viel­leicht sind sie von Natur aus eher küh­le Wesen, oder aber sie tra­gen einen Pelz, ein Fell, wie das der Eis­bä­ren, wei­che, wei­ße Män­tel von Haut und Haar, die ihre äußerst lang­sam schla­gen­den Her­zen schüt­zen. Die­se Flie­gen wer­den ein­hun­dert Jah­re oder älter, sie könn­ten sich von feins­ten Stäu­ben ernäh­ren, vom Plank­ton der Luft, das aus wind­ge­bück­ten Wäl­dern ange­flo­gen kommt, Moo­se, Bir­ken­pol­len, Kot­sand von nor­di­schen Füch­sen. Ich stel­le mir vor, dass die­se Flie­gen so weiß sind, dass man sie nicht sehen wird, wenn sie über den Schnee spa­zie­ren. Man wird mei­nen, der Schnee bewe­ge sich selbst oder es wäre der Wind, der den Schnee bewegt, aber statt­des­sen sind es die Flie­gen, die nicht grö­ßer sind als jene Flie­gen, die nacht­wärts in mei­ner Küche im Som­mer aus einem Apfel stei­gen. — stop
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schimpansen

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ulys­ses : 2.18 — Im Traum an Vaters Grab. Hat­te von der Ankunft des 200 Jah­re alte Kreu­zes erfah­ren, das wir Schmie­den zur Restau­ra­ti­on über­ge­ben haben. Als ich mich der Grab­stel­le nähe­re ent­de­cke ich Mut­ter, die mit zwei wil­den Män­nern dis­ku­tiert, sie knien in der Nähe des Gra­bes auf dem Boden. Bei­de tra­gen schwe­re Schür­zen von Leder und sind behaart und ihre Ohren glü­hen und damp­fen in der feuch­ten Luft. Mut­ter will wis­sen, war­um die Schmie­de das Kreuz, das sie anlie­fer­ten, der­art tief in den Boden ver­senk­ten, dass nur noch sei­ne ver­gol­de­te Spit­ze zu sehen ist. Die Män­ner lachen fröh­lich. Das sei in Afri­ka so üblich, ant­wor­ten sie, weil wil­de Tie­re bevor­zugt an Kreu­zen die­ser his­to­ri­schen Sor­te ihr Fell rei­ben wür­den, und zwar so lan­ge, bis von dem Kreuz Vaters bald nichts mehr übrig sei. Immer wie­der deu­ten sie in den Baum, der den Grab­hü­gel über­schat­tet. Die Eiche blüht wie ein Kirsch­baum. Schim­pan­sen sit­zen in der Kro­ne und flet­schen ihre Zäh­ne. Mut­ter indes­sen beginnt das Kreuz mit blo­ßen Hän­den wie­der aus­zu­gra­ben. — stop

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eisfischer

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echo : 3.28 — Auf einen Film gesto­ßen, der von einer Rei­se nach Nord­ko­rea erzähl­te. Dort für Stun­den hän­gen­ge­blie­ben, in kurio­sen Geschich­ten wei­te­rer Fil­me, Geschich­ten, die von schnee­kal­ten Biblio­the­ken erzähl­ten, von hung­ri­gen Eis­fi­schern, von Men­schen, die ihre Rei­sen durchs Land zu Fuß unter­neh­men, nachts sol­len die Städ­te Nord­ko­re­as stock­dun­kel sein. Da waren, kurz nach Mit­ter­nacht mei­ner euro­päi­schen Zeit, drei Arbei­ter, die an einem Fluss­ufer sich mit Schau­feln in die Erde gru­ben. Gleich neben ihnen war­te­te eine Frau, die sich kaum beweg­te, sie bewach­te die gra­ben­den Män­ner mit ihren Augen, wie ande­re Augen­paa­re Schnee räu­men­de Men­schen­ko­lon­nen beauf­sich­tig­ten, die eine Auto­bahn, auf der kei­ne Autos fuh­ren, vom Tages­eis befrei­ten. In einer Woh­nung saß eine älte­re Frau von äußerst freund­li­cher Erschei­nung, die vom Gas­krieg erzähl­te, den die Ame­ri­ka­ner ins Land tra­gen könn­ten, und dass sie selbst dafür zustän­dig sei, sobald sie das Gas ent­de­cken wür­de, Mas­ken an ihre Nach­barn im Haus aus­zu­tei­len. Der gro­ße Füh­rer. Das Land der Mor­gen­stil­le. Dampf­lo­ko­mo­ti­ven wer­den mit Rei­fen­res­ten beheizt. Unter der Haupt­stadt Pjöng­jang fah­ren Züge der Ber­li­ner Ver­kehrs­be­trie­be. In einer Vitri­ne im Muse­um im Inne­ren eines Ber­ges, der Kopf eines Bären, den noch Ceau­ses­cu geschos­sen haben soll.
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kairobildschirm

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echo : 5.38 — Ich erin­ne­re mich, dass ich im Schlaf zu mir sag­te: Das will ich nicht wei­ter träu­men. Unver­züg­lich wur­de ich wach. – Schnee ist gefal­len, ein wei­ßes Tuch liegt auf den Bür­ger­stei­gen. Das klei­ne Kai­ro­fens­ter flim­mert seit bald vier­zehn Stun­den auf dem Bild­schirm mei­ner Schreib­ma­schi­ne. Kamel­rei­ter prü­geln auf Demons­trie­ren­de ein, Stei­ne flie­gen durch die Luft, Kühl­schrän­ke von Haus­dä­chern, um Men­schen zu töten. Mit der Däm­me­rung kom­men Bar­ri­ka­den, Ölfeu­er­fla­schen tau­meln hin und her, bren­nen­de Autos, der hell­graue Rauch der Pan­zer­mo­to­ren, die Stim­men der Kom­men­ta­to­ren, die Zah­len ver­letz­ter und getö­te­ter Men­schen mel­den. Auf dem Platz der Befrei­ung wird nach Stei­nen gegra­ben. Mil­li­me­ter hohe Men­schen­fi­gu­ren schlei­fen lie­gen­de Mil­li­me­ter hohe Men­schen­fi­gu­ren über den Boden. Rei­ne Mord­lust scheint aus­ge­bro­chen zu sein. – Es ist jetzt 5 Uhr und 30 Minu­ten. Seit drei Stun­den wird scharf geschos­sen. Nie­mand weiß woher die Schüs­se kom­men. Eine jun­ge Frau, 24, die sich auf dem Platz befin­det, erzählt wei­nend von Men­schen, die gera­de eben getö­tet wur­den. Wie das mög­lich sein kön­ne, dass die Welt nicht ein­grei­fe, dass kei­ne Hil­fe kom­me. We will not lea­ving this place. Sie nennt ihren Namen.

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srebrenica

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marim­ba : 14.05 – Zur Zeit unse­rer ers­ten Begeg­nung war Anisha zwan­zig Jah­re alt gewe­sen, hat­te gera­de ihr Medi­zin­stu­di­um auf­ge­nom­men und ging gern spa­zie­ren, wäh­rend ich Fra­gen stell­te, zum Bei­spiel, ob es für sie, eine Mus­li­ma, nicht schwie­rig sei, mensch­li­che Kör­per zu zer­glie­dern. Ich erin­ne­re mich, auch im Prä­pa­rier­saal lief sie gern her­um, immer­zu muss­te ich nach ihr suchen und ich such­te ger­ne, weil sie oft fein­sin­ni­ge Gedan­ken in mein klei­nes Ton­band­ge­rät dik­tier­te. Ein­mal stan­den wir in einem Waren­haus vor Fern­seh­ge­rä­ten. Ein Doku­men­tar­film wur­de gezeigt, Sre­bre­ni­ca, wie die Bür­ger der Stadt an ser­bi­sche Trup­pen aus­ge­lie­fert wur­den. Eine Wei­le schau­te Anisha schwei­gend zu. Dann erzähl­te sie in kur­zen Sät­zen eine schwer­wie­gen­de Geschich­te. Das digi­ta­le Auf­nah­me­ge­rät lief wei­ter, wäh­rend ich ihr zuhör­te, wes­we­gen ich ihre Stim­me bald dar­auf mit mir neh­men konn­te, und ich notier­te ihre Bemer­kun­gen so genau wie mög­lich. Ges­tern Abend nun las ich Anisha per­sön­lich vor, was ich damals ein­ge­fan­gen hat­te. Ein selt­sa­mer Moment. Der Ein­druck, dass erst jetzt, sehr viel spä­ter, mit jedem gele­se­nen Wort mein Text authen­tisch wur­de. Die Geschich­te geht so: Stell Dir Män­ner vor, die Apri­ko­sen­bäu­me rau­chen. Wenn Abend wird zün­den wir Ker­zen an, die wir aus dem Öl der Fisch­kon­ser­ven fabri­zie­ren. Und dann ist Nacht. Mut­ter steht am Fens­ter. Und dann ist Mor­gen und die schwe­ren Män­tel, die wir als Nacht­hem­den tra­gen, sind kalt gewor­den. Anstatt der Häh­ne unse­res Dor­fes, die wir längst gefres­sen haben, krä­hen uns Schüs­se an. Ich sehe die dür­ren Fin­ger mei­nes Vaters, die in sei­nem Gesicht nach Aus­we­gen gra­ben. Sie kom­men über eine graue Woll­de­cke spa­ziert und put­zen mir den Ruß von der Nase. Mut­ter steht immer noch am Fens­ter. Sie summt vor sich hin. Und dann gehen wir fort. Ich tra­ge einen Kof­fer, der groß ist wie ich. Auf einer Wie­se bren­nen Kühe.
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von der poesie der insekten

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echo

~ : louis
to : mon­sieur jean-hen­ri fabre
sub­ject : VON DER POESIE DER INSEKTEN

Mein lie­ber Mon­sieur Fab­re, an die­sem wun­der­schö­nen, eis­kal­ten Dezem­ber­tag gegen Zehn, habe ich ent­lang Ihrer fei­nen Zei­chen­ket­te die Bestei­gung des Mont Ven­toux in Angriff genom­men. Nun bin ich wie­der ein­mal begeis­tert von hin­rei­ßen­der Land­schaft, von der dün­ner wer­den­den Luft, von ihren gelieb­ten Wes­pen, die ich noch nie in mei­nem Leben mit eige­nen Augen wahr­ge­nom­men habe. Heu­te Mor­gen sehr früh, als ich vor dem Fens­ter saß und mei­ne Polar­spin­ne beob­ach­te­te, wie sie sich freu­te, nach einer sehr lan­gen Zeit im Eis­fach end­lich unter der frei­en, kal­ten Luft die Ster­ne betrach­ten zu kön­nen, hat­te ich die Genau­ig­keit Ihres Sehens erin­nert, die Geduld Ihrer Augen, und sofort in Ihr klei­nes, bedeu­ten­des Buch von der Poe­sie der Insek­ten geschaut. Man kann das Atmen ver­ges­sen. Wie lan­ge Zeit wer­den Sie wohl eine gra­ben­de Sand­wes­pe betrach­tet haben, ehe Sie einen ers­ten Satz for­mu­lier­ten? Und was, zum Teu­fel, haben Sie da unter der Lupe, als Nadar Sie foto­gra­fier­te? — Ihr Lou­is, mit bes­ten Grüßen.

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