Aus der Wörtersammlung: iss

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ai : SUDAN

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MENSCH IN GEFAHR: „Sand­ara Farouq Kadou­da wur­de am 12. April ver­mut­lich von Ange­hö­ri­gen des suda­ne­si­schen Geheim­diens­tes ent­führt. Der Ver­bleib der Ärz­tin und zwei­fa­chen Mut­ter ist unbe­kannt. Sand­ara Farouq Kadou­da war am 12. April zu einer Ver­an­stal­tung in Omdur­man unter­wegs, die von der poli­ti­schen Oppo­si­ti­on in den Räum­lich­kei­ten der Natio­nal Umma Par­ty orga­ni­siert wor­den war. Kurz nach 17.00 Uhr wur­de ihr Wagen von eini­gen Män­nern in Zivil­klei­dung ange­hal­ten, die allem Anschein nach Ange­hö­ri­ge des Geheim­diens­tes (Natio­nal Intel­li­gence Secu­ri­ty Ser­vice — NISS) waren. Die Män­ner nah­men ihr das Han­dy ab, als sie gera­de mit einer Freun­din tele­fo­nier­te. Die­se hör­te lau­te Stim­men, als Sand­ara Farouq Kadou­da jeman­den nach sei­nem Aus­weis frag­te. Kurz dar­auf wur­de das Han­dy abge­stellt. Der Wagen von Sand­ara Farouq Kadou­da wur­de 30 Minu­ten spä­ter an der Stra­ße gefun­den, er war ver­las­sen und die Schlüs­sel steck­ten noch. Die Fami­lie von Sand­ara Farouq Kadou­da zeig­te den Vor­fall bei der Poli­zei und dem NISS an. Bis­her wei­gern sich die Behör­den jedoch, Infor­ma­tio­nen über ihren Ver­bleib und ihren Gesund­heits­zu­stand preis­zu­ge­ben. Sand­ara Farouq Kadou­da hat kei­nen Zugang zu einem Rechts­bei­stand oder ihrer Fami­lie. Sie lei­det an chro­ni­scher Unter­zu­cke­rung und muss daher einen spe­zi­el­len Ernäh­rungs­plan ein­hal­ten und täg­lich Medi­ka­men­te ein­neh­men. Aller­dings ist unklar, ob sie Zugang zu der benö­tig­ten medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung hat. Sie ist zudem in Gefahr, gefol­tert und ander­wei­tig miss­han­delt zu wer­den.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 25. Mai hin­aus, unter »> ai : urgent action

ping

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landschaft überall

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romeo : 1.02 — Irgend­wann, nach­dem er wach gewor­den am Nach­mit­tag, muss K. einen Brief notiert haben. Bei die­sem Brief nun han­delt es sich um einen beson­de­ren Brief, denn er ist von einem muti­gen Mann aus­ge­dacht, von einem Mann, der lan­ge Zeit über­leg­te, wie er sei­ne Gedan­ken for­mu­lie­ren soll­te, an den Vor­stand, der über sein Leben zu bestim­men wünscht. K. sol­le anstatt vier in Zukunft sechs Näch­te einer Woche zur Arbeit an den Maschi­nen erschei­nen. Es sind fei­ne, ja zar­te Wor­te, die K. für sei­ne Anspra­che wähl­te, ich hät­te sie ihm nie­mals zuge­traut, höf­lich und trau­rig: Nun wer­de ich, schrieb K., sechs wei­te­re Stun­den in einem Zug ver­brin­gen, die nicht bezahlt sein wer­den, Stun­den, da mei­ne Frau mich ver­mis­sen und mög­li­cher­wei­se ein­mal des­halb ver­las­sen wird, es ist eine Tra­gö­die! Ich habe die­sen Brief, in dem von einer Tra­gö­die die Rede ist, vor weni­gen Minu­ten foto­gra­fiert, er wur­de von Hand geschrie­ben, ich erkann­te die Schrift eines betrun­ke­nen Kin­des, die­se Hän­de, sie zit­ter­ten, weil K. sich fürch­te­te, in dem Moment, da er schrieb, oder über­haupt. Ob er mir den Brief auf sei­nem Com­pu­ter auf­schrei­ben kön­ne, frag­te ich K.: Wür­dest Du mir Dei­nen Brief bit­te per E‑Mail sen­den, damit ich ihn wei­ter­ge­ben kann? So etwas habe ich nicht, ant­wor­te­te K., einen Com­pu­ter, E‑Mail, Inter­net. Er habe auch kein Tele­fon, fuhr er fort, kein Tele­fon mit Schnur, und auch kein Tele­fon, das er sich in die Hosen­ta­sche ste­cken könn­te. Du bist der ers­te Mensch, setz­te K. hin­zu, der einen Brief, den ich geschrie­ben habe, foto­gra­fiert, als sei er eine Land­schaft. Manch­mal begeg­ne ich K. im Zug, der zum Flug­ha­fen fährt, ich grü­ße ihn und er freut sich. Er liest dort seit Jah­ren immer in dem­sel­ben Buch. Manch­mal hält er das Buch fest an sei­ne Brust gedrückt, dann ist er ein­ge­schla­fen. — stop

hanoi

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mitternacht im garten von gut und böse

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kili­man­dscha­ro : 1.52 — Es ist heiß und schwül. Ein Ven­ti­la­tor dreht sich lang­sam über dem Tre­sen einer Bar. Zwie­licht. Auf einem Hocker vor einem Glas Whis­key sitzt ein trin­ken­der Mann, der bereits betrun­ken zu sein scheint. Wir befin­den uns in Ame­ri­ka irgend­wo im Süden, ich glau­be in Sav­an­nah. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, auch nicht in wel­chem Film prä­zi­se der trin­ken­de Mann auf einem Stuhl vor einem Glas Whis­key sitzt. Das Selt­sa­me, das Beson­de­re an die­sem Mann ist, dass um sei­nen Kopf her­um Flie­gen schwir­ren, die sich nicht ent­fer­nen, weil sie in irgend­ei­ner Wei­se an dem Kopf selbst oder in sei­ner Nähe befes­tigt wur­den, Flie­gen, die sozu­sa­gen Gefan­ge­ne oder Haus­tie­re des trin­ken­den Man­nes sind. Plötz­lich fällt mir ein, dass sich die­se Sze­ne in dem Film Mit­ter­nacht im Gar­ten von Gut und Böse ereig­net haben könn­te, den ich vor eini­ger Zeit beob­ach­tet und in Besitz genom­men hat­te. Also suche ich nach der Sze­ne im Film und ent­de­cke bald einen hel­len Ort, einen Imbiss, in dem ein Mann namens Lucer vor einem Tre­sen sitzt. Der Mann ist weder betrun­ken noch exis­tiert ein Glas Whis­key, aber eine Tas­se Kaf­fee. Um sei­nen Kopf her­um schwir­ren Bie­nen, deren Kör­per nun tat­säch­lich an Fäden befes­tigt sind, wel­che wie­der­um mit Hemd und Hose des Man­nes unmit­tel­bar in Ver­bin­dung ste­hen. Eini­ge Bie­nen haben auf dem haar­lo­sen Kopf des Man­nes Platz genom­men, er scheint sich dar­über zu wun­dern, dass man ihn beob­ach­tet. In der 46. Minu­te der Film­zeit ver­lässt der Mann den klei­nen Laden, um sofort wie­der rück­wärts ein­zu­tre­ten. Ich neh­me an, ich erin­ner­te mich an die­se Sze­ne, weil ich gegen 22 Uhr eine Nach­richt von Atom­bat­te­rien gele­sen hat­te, die nicht stär­ker als ein mensch­li­ches Haar sein sol­len und in der Lage, hun­der­te Jah­re klei­ne­re Maschi­nen mit Strö­men zu ver­sor­gen. Das war in der Tat eine wun­der­ba­re Nach­richt, weil ich jetzt ernst­haft über die Exis­tenz künst­li­cher Tau­ben­schwänz­chen nach­zu­den­ken ver­mag, Wesen, die ein mensch­li­ches Leben von sei­nem Anfang bis zu sei­nem Ende als flie­gen­de Satel­li­ten beglei­ten und doku­men­tie­ren könn­ten. Wie sie nun in der Nacht lei­se sum­mend dicht über den Schla­fen­den schwe­ben und war­ten. — stop
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ai : KONGO

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Zahl­rei­che Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger wer­den in der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kon­go seit dem 15. März ohne Kon­takt zur Außen­welt fest­ge­hal­ten. Sie hat­ten im Elo­ko-Maka­si-Jugend­zen­trum in der Haupt­stadt Kin­sha­sa eine Pres­se­kon­fe­renz gege­ben, die von Sicher­heits­kräf­ten gewalt­sam auf­ge­löst wur­de. / Am 15. März stürm­ten Sicher­heits­kräf­te eine Pres­se­kon­fe­renz im Elo­ko-Maka­si Jugend­zen­trum in Kin­sha­sa, der Haupt­stadt der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kon­go. Sie nah­men etwa 30 Per­so­nen fest, dar­un­ter Mit­glie­der der kon­go­le­si­schen Jugend­or­ga­ni­sa­ti­on Lut­te pour le Chan­ge­ment (LUCHA), der sene­ga­le­si­schen Bewe­gung Y’en a Mar­re, der bur­k­in­i­schen Grup­pe Balai Citoy­en, sowie einen US-ame­ri­ka­ni­schen Diplo­ma­ten und anwe­sen­de Journalist_innen. Die Pres­se­kon­fe­renz wur­de im Anschluss an einen Work­shop über die Betei­li­gung von Jugend­li­chen an poli­ti­schen Pro­zes­sen im Vor­feld der anste­hen­den Wah­len im Land abge­hal­ten. Ver­an­stal­ter waren die ört­li­chen NGOs la Jeu­nesse pour une Nou­vel­le Socié­té (JNS), le Forum Natio­nal de la Jeu­nesse pour l’Ex­cel­lence (FNJE) und Lut­te pour le Chan­ge­ment (LUCHA). / Amnes­ty Inter­na­tio­nal lie­gen Infor­ma­tio­nen dar­über vor, dass eini­ge Per­so­nen wäh­rend der Fest­nah­me von den Sicher­heits­kräf­ten miss­han­delt wur­den. Ein Augen­zeu­ge berich­te­te, dass Per­so­nen von den Sicher­heits­kräf­ten schi­ka­niert und grob behan­delt wur­den, bevor man sie an unbe­kann­te Orte ver­brach­te. Der US-ame­ri­ka­ni­sche Diplo­mat und die aus­län­di­schen Journalist_innen wur­den noch am sel­ben Tag wie­der frei­ge­las­sen, die sene­ga­le­si­schen und bur­k­in­i­schen Aktivist_innen wur­den aus­ge­wie­sen. Wei­te­re kon­go­le­si­sche Menschenrechtler_innen befin­den sich nach wie vor ohne Kon­takt zur Außen­welt an unbe­kann­ten Orten in Haft. Ihnen dro­hen Fol­ter und ande­re Miss­hand­lun­gen. / Amnes­ty Inter­na­tio­nal sieht die­se Angrif­fe auf die Meinungs‑, Ver­samm­lungs- und Ver­ei­ni­gungs­frei­heit mit gro­ßer Sor­ge.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 4. Mai hin­aus, unter »> ai : urgent action

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unterm maulbeerbaum

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del­ta : 18.12 — Hele­na erzählt, sie habe einen Text notiert, 258 Sei­ten, in dem von einem jun­gen Mann die Rede sein soll, der sich unter einen Maul­beer­baum setz­te, um sei­nen Puls­schlag zu zäh­len. Wie er nun gegen sei­ne Müdig­keit kämpft, gegen das auf­rei­zen­de Gefühl der Amei­sen­bei­ne, wel­che unter sei­nen Hosen­bei­nen spa­zie­ren, auch gegen Durst- und Hun­ger­ge­füh­le, wie lan­ge Zeit kann man so sit­zen und zäh­len, nicht lan­ge. Es war noch nicht ein­mal dun­kel gewor­den, als der jun­ge Mann auf­stand und ver­schwand. Da war nun also ein Maul­beer­baum gewe­sen, irgend­wo im Süden, ein paar Vögel außer­dem, Hasen, Füch­se, Eidech­sen, Spin­nen, Käfer und eine Erzäh­le­rin, die dar­auf war­te­te, dass der jun­ge Mann wie­der kom­men und sei­ne Pul­se wei­ter­zäh­len wür­de. Wie sie in ihrem Kopf Stun­den, Tage, Wochen lang den Baum beob­ach­te­te, wie sie sich indes­sen ein­mal erin­ner­te an einen Freund, der ver­rückt gewor­den sein soll, weil er nicht damit auf­hö­ren konn­te, Zei­tungs­pa­pie­re mit­tels Sche­ren zu zer­le­gen. Er sam­mel­te Bewei­se für dies und das! Ber­ge von Zei­tun­gen soll er in sei­ner Lei­den­schaft für Beweis­si­che­rung zer­legt haben, auch unter­wegs konn­te er nicht damit auf­hö­ren, ein Selt­sa­mer, der nur des­halb in Zug­ab­tei­len sicht­bar wur­de, weil die Papie­re, die Zei­tun­gen selbst damals, als er leb­te, noch sicht­bar gewe­sen waren. Heut­zu­ta­ge darf man, sagt Hele­na, in unsicht­ba­rer Wei­se ver­rückt wer­den, fast alle sind wir schon längst ver­rückt, haben auf Com­pu­tern Tex­te gesam­melt, die wir nie­mals lesen wer­den, weil das Leben nicht reicht, auch nicht für Bewei­se. In ihrer Geschich­te im Übri­gen will sie eine wei­te­re Erzäh­lung ver­steckt haben, jedes ein­zel­ne Wort der Geschich­te, auch gan­ze Sät­ze. Um wel­che Erzäh­lung es sich prä­zi­se han­delt, möch­te sie nicht ver­ra­ten. Die Erzäh­lung soll von einer berühm­ten Schrift­stel­le­rin erfun­den wor­den sein, eine wun­der­ba­re Minia­tur. Sie war­tet noch immer. — stop

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ai : IRAN

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MENSCH IN GEFAHR: „Die gewalt­lo­se poli­ti­sche Gefan­ge­ne Ate­na Fargha­da­ni befin­det sich seit dem 9. Febru­ar im Iran im Hun­ger­streik, um gegen ihre Haft zu pro­tes­tie­ren. Nun schwebt sie in Lebens­ge­fahr. Die Künst­le­rin befin­det sich wegen ihrer fried­li­chen Akti­vi­tä­ten in Haft, unter ande­rem hat­te sie in einer Kari­ka­tur Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­te kri­ti­siert. Die ira­ni­sche Male­rin Ate­na Fargha­da­ni trat am 9. Febru­ar in einen Hun­ger­streik. Sie nahm fort­an nur noch Was­ser, jedoch kei­ne Nah­rung mehr zu sich. Hier­mit will sie gegen die Fort­dau­er ihrer Haft im Ghar­chak-Gefäng­nis in der Stadt Vara­min pro­tes­tie­ren, in dem es kei­nen Trakt für poli­ti­sche Gefan­ge­ne gibt und in dem die Haft­be­din­gun­gen äußerst schlecht sind. Am 25. Febru­ar gab ihr Rechts­bei­stand an, dass Ate­na Fargha­da­ni als Fol­ge ihres Hun­ger­streiks einen Herz­in­farkt erlit­ten und kurz­zei­tig das Bewusst­sein ver­lo­ren habe. Sie gab an, ihren Hun­ger­streik solan­ge nicht zu been­den, bis die Behör­den ihrem Antrag nach­kom­men, sie in das Evin-Gefäng­nis in Tehe­ran zu ver­le­gen. Am 26. Febru­ar wur­de sie in ein Kran­ken­haus außer­halb des Gefäng­nis­ses gebracht. Ate­na Fargha­da­ni wur­de zum ers­ten Mal am 23. August 2014 wegen ihrer fried­li­chen Akti­vi­tä­ten fest­ge­nom­men. Sie hat­te Fami­li­en von poli­ti­schen Gefan­ge­nen besucht und in einer Kari­ka­tur Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­te kri­ti­siert, die einen Gesetz­ent­wurf ein­ge­bracht hat­ten, der frei­wil­lig durch­ge­führ­te Ste­ri­li­sa­tio­nen unter Stra­fe gestellt hät­te und der Teil eines groß ange­leg­ten Plans ist, den Zugang zu Ver­hü­tungs­mit­teln und Dienst­leis­tun­gen bezüg­lich der Fami­li­en­pla­nung zu beschrän­ken. Sie wur­de fast zwei Mona­te lang im Trakt 2A des Evin-Gefäng­nis­ses fest­ge­hal­ten, davon 15 Tage in Ein­zel­haft. Zu ihrer Fami­lie und ihrem Rechts­bei­stand durf­te sie kei­nen Kon­takt auf­neh­men. Am 6. Novem­ber 2014 wur­de sie gegen Zah­lung einer Kau­ti­on frei­ge­las­sen. Ihre neu­er­li­che Fest­nah­me am 10. Janu­ar erfolg­te nach der Vor­la­dung eines Revo­lu­ti­ons­ge­richts, mög­li­cher­wei­se als Ver­gel­tungs­maß­nah­me für ein Video, das sie nach ihrer Haft­ent­las­sung ver­öf­fent­licht und in dem sie erklärt hat­te, wie Gefäng­nis­auf­se­he­rin­nen sie geschla­gen und ernied­ri­gen­den Lei­bes­vi­si­ta­tio­nen unter­zo­gen sowie ande­ren Miss­hand­lun­gen aus­ge­setzt hat­ten. Ihre Eltern gaben in Inter­views an, dass Ate­na Fargha­da­ni vor ihrer Über­füh­rung ins Ghar­chak-Gefäng­nis noch im Gerichts­saal geschla­gen wur­de. Die Ankla­gen gegen sie lau­te­ten auf “Ver­brei­tung von Pro­pa­gan­da gegen das Sys­tem”, “Belei­di­gung von Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten durch Zeich­nun­gen” und “Belei­di­gung des Reli­gi­ons­füh­rers.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und bis spä­tes­tens 10. April, unter »> ai : urgent action

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holly

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reming­ton : 18.05 — Ich träum­te, von einer Sta­ten Island Fäh­re auf das offe­ne Meer hin­aus getra­gen wor­den zu sein. An Bord des Schif­fes waren zahl­rei­che Men­schen gewe­sen, sie foto­gra­fier­ten ein­an­der, man­che lasen in einer Zei­tung, ande­re tran­ken Kaf­fee aus Papp­be­chern oder tele­fo­nier­ten. Nie­mand schien sich zu wun­dern, dass die Fäh­re, hin­sicht­lich einer übli­chen Rei­se­dau­er von 25 Minu­ten, nicht lan­de­te. Stun­den ver­gin­gen. Ein­mal feg­te ein Sturm über das Schiff hin­weg, hun­der­te Möwen flat­ter­ten krei­schend über die Decks. Irgend­wann schlief ich ein, und ich träum­te, als ich erwach­te, eine Frau habe mir gegen­über Platz genom­men. Ich mei­ne, mich an ihren Namen erin­nern zu kön­nen, ich glau­be, sie hieß Hol­ly. In die­sem Augen­blick, als ich die Augen öff­ne­te, trans­fe­rier­te sie einen Text mit­tels eines Pin­sels auf ein qua­dra­ti­sches Blatt Papier, das von min­des­tens 50 cm Durch­mes­ser gewe­sen war. Sie trug eine Son­nen­bril­le sowie einen Som­mer­hut auf dem Kopf, außer­dem ein hel­les Kleid, auf wel­chem ver­ein­zelt Kir­schen auf­ge­druckt wor­den waren, und schwe­re Wan­der­schu­he, deren Schnür­sen­kel sie nicht ver­kno­tet hat­te. Von einer Sekun­de zur ande­ren Sekun­de schlief auch Hol­ly ein, ihr Kopf neig­te sich zur Sei­te, kurz dar­auf glitt das Papier, das sie beschrif­tet hat­te, von ihren Schen­keln und lan­de­te vor mir auf dem Boden, sodass ich lesen konn­te, was Hol­ly notier­te: Lese­ma­schi­ne No. 82 / Dach­gar­ten, 75, Green­wich Ave­nue Man­hat­tan [ Schlüs­sel : Mrs. M. Lin­ne­ker — 8. Stock ] > Die Geschich­te von den Papier­tier­chen. Hand­zeich­nung, ca. 68 pt: Man stel­le sich ein­mal vor, Papier­tier­chen exis­tier­ten in unse­rer Welt. Nicht etwa Tier­chen, die aus Papier gemacht oder ver­gleich­ba­rer Ware, son­dern tat­säch­li­che Lebe­we­sen, die so aus­ge­dacht sind, dass sie sich zu For­men ver­sam­meln, die einer Papier­sei­te ähn­lich sind. Weil die­se Lebe­we­sen, wie ich sie mir gera­de male, sehr klein sein soll­ten, sagen wir in der Flä­che so groß wie die Spit­ze einer Nadel, wür­de ein Maschi­nen­bo­gen von nicht weni­ger als zwei Mil­lio­nen Indi­vi­du­en nach­ge­bil­det sein. Jedes Papier­tier­chen, sicht­bar ganz für sich nur im Licht eines sehr guten Mikro­skops, ist nun von dem Wunsch beseelt, sich mit jeweils vier wei­te­ren Tier­chen, die es schon immer kennt, mit­tels feins­ter Ten­ta­keln zu ver­bin­den oder zu befreun­den, und zwar nur mit die­sen, sodass man von ein­deu­ti­ger Ord­nung spre­chen könn­te, nicht von einer belie­bi­gen Anord­nung. Ja, jedes der klei­nen Wesen für sich spricht von einem urei­ge­nen Ort, den es nie­mals ver­gisst. Sobald alles schön zu einer Sei­te geord­net ist, wer­den mit Licht, mit einem Licht­stift genau­er, Zei­chen gesetzt auf das leben­de Papier, indem man leich­ter Hand wie mit einem Fül­ler schreibt. Wird ein schnee­wei­ßes Tier­chen berührt vom notie­ren­den Licht, nimmt es sogleich die schwar­ze Far­be an und ver­bleibt von die­sem Schwarz, bis es von wei­te­rem Licht berührt wer­den könn­te, einem Licht natür­lich, das sehr stark sein muss, weil doch der Tag oder jede Lam­pe das Zei­chen der Nacht sofort über die Land­schaft der fili­gra­nen Kör­per schrei­ben wür­de. Ich hat­te, wäh­rend ich die­sem Gedan­ken noch auf einer gewöhn­li­chen Com­pu­ter­schreib­ma­schi­ne folg­te, die Idee, dass sie viel­leicht alle sehr schreck­haft sind, also zunächst unvoll­kom­men oder wild, dass sie, zum Bei­spiel, wenn ein Feu­er­wehr­au­to in ihrer Nähe vor­über kom­men soll­te, sofort aus­ein­an­der flie­gen in Panik, sich ver­ste­cken, um jedes für sich oder in grö­ße­ren Grup­pen an den Wän­den mei­ner Zim­mer zu sit­zen. Viel­leicht lun­gern sie auch auf Kaf­fee­tas­sen her­um oder in den Haar­blät­tern eines Ele­fan­ten­fuß­bau­mes, ja, das ist gut denk­bar. Ich wer­de dann war­ten, ruhig und gelas­sen war­ten, bis sie sich wie­der beru­higt haben wer­den und zurück­kom­men, sagen wir nach einer Stun­de oder zwei. Dann wei­ter schrei­ben oder lesen oder den­ken. Und jetzt habe ich einen Kno­ten im Kopf, soll­te bald ein­mal wach wer­den. — stop
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rose

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sier­ra : 18.15 — In einem schat­ti­gen Laden nahe der Roo­se­velt Island Tram­way Basis­sta­ti­on West war­te­te ein alter Mann hin­ter einem Tre­sen. Er war ver­mut­lich ame­ri­ka­ni­scher Staats­bür­ger, aber eher chi­ne­si­schen Ursprungs. Als ich von dem klei­nen Park her, des­sen Lin­den­bäu­me Küh­le spen­de­ten, in den Laden trat, ver­beug­te sich der Mann, grüss­te, er kann­te mich bereits, wuss­te, dass ich mich für Schne­cken inter­es­sie­re, für Was­ser­schne­cken prä­zi­se, auch für wan­dern­de See­ane­mo­nen­bäu­me, und für Pra­li­nen, die unter der Was­ser­ober­flä­che, also im Was­ser, hübsch anzu­se­hen sind, schwe­ben­de Ver­su­chun­gen, ohne sich je von selbst auf­zu­lö­sen. An die­sem hei­ßen Som­mer­abend kamen wir sofort ins Gespräch. Ich erzähl­te dem alten Mann, ich wür­de nach einem beson­de­ren Geschenk suchen für ein Kie­men­mäd­chen namens Rose. Sie sei zehn Jah­re alt und nicht sehr glück­lich, da sie schon lan­ge Zeit den Wunsch ver­spür­te, wie ande­re Kin­der ihres Alters zur Schu­le zu gehen, leib­haf­tig am Unter­richt teil­zu­neh­men, nicht über einen Bild­schirm mit einem fer­nen Klas­sen­raum ver­bun­den. Ich glau­be, ich war genau zu dem rich­ti­gen Zeit­punkt in den Laden gekom­men, denn der alte, chi­ne­sisch wir­ken­de Mann, freu­te sich. Er mach­te einen hel­len, pfei­fen­den Ton, ver­schwand in sei­nen Maga­zi­nen, um kurz dar­auf eine Rei­he von Spiel­do­sen auf den Tre­sen abzu­stel­len. Das waren Wal­zen- und Loch­plat­ten­spiel­do­sen mit Kur­bel­wer­ken, die der Ladung einer Feder­span­nung dien­ten. Vor einer Stun­de gelie­fert, sag­te der alte Mann, sie machen schau­er­lich schö­ne Geräu­sche im Was­ser! Man kön­ne, setz­te er hin­zu, sofern man sich in dem sel­ben Was­ser der Spiel­do­sen befän­de, die fei­nen Stö­ße ihrer mecha­ni­schen Wer­ke über­all auf dem Kör­per spü­ren. Bald leg­te er eine der Dosen in ein Aqua­ri­um ab, in wel­chem Zwerg­see­ro­sen sie­del­ten. Kurz dar­auf fuhr ich mit der Tram nach Roo­se­velt Island rüber. Das Musik­werk, Ben­ny Good­man, das ich für Rose erstan­den hat­te, war in das Gehäu­se einer Jakobs­mu­schel ver­senkt. Die Schne­cke leb­te, wes­we­gen ich tropf­te, weil der Beu­tel, in dem ich Roses Geschenk trans­por­tier­te, über eine undich­te Stel­le ver­füg­te. Gegen Mit­ter­nacht, ich war gera­de ein­ge­schla­fen, öff­ne­te tief in mei­nem rech­ten Ohr knis­ternd eine Zwerg­see­ro­se ihre Blü­te. — stop

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vom anemonentext

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alpha : 6.55 — Neh­men wir ein­mal an, dem ursprüng­li­chen Code einer See­ane­mo­ne wür­de ein wei­te­rer Code hin­zu­ge­fügt, eine sehr kur­ze Stre­cke nur, sagen wir Jack Kerou­acs Roman The Town and The City mit­tels Nukleo­ba­sen­paa­ren notiert. Was wür­de gesche­hen? Inwie­fern wür­de Jack Kerou­acs Text Wesen oder Gestalt einer See­ane­mo­ne berüh­ren? Wür­de der Text von See­ane­mo­ne zu See­ane­mo­ne wei­ter­ge­reicht, wür­de der Jack Kerou­acs Text sich nach und nach ver­än­dern, wür­de er viel­leicht ent­lang der Küs­ten­li­ni­en wan­dern? Seit ges­tern, ich habe geträumt, sind mensch­li­che Per­so­nen denk­bar, die nur zu dem einem Zweck exis­tie­ren, näm­lich Ohren, ein gutes Dut­zend wahl­wei­se auf ihren Armen oder Schul­tern zu tra­gen, um sie gut durch­blu­tet, solan­ge zu kon­ser­vie­ren, bis man sie von ihnen abneh­men wird, um sie auf eine wei­te­re Per­son zu ver­pflan­zen, die eine gewis­se Zeit oder schon immer ohne Ohren gewe­sen ist. Unheim­li­che Sache. — stop

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grammophon

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zou­lou : 3.36 — Wür­den jene Fahr­zeit­räu­me früh­mor­gens in war­men Abtei­len der Züge nicht exis­tie­ren, wür­den wir viel­leicht nie mit­ein­an­der spre­chen. Er ist meis­tens müde von der Nacht­ar­beit. Fünf­zehn Minu­ten Zeit, zu kurz, um schla­fen zu kön­nen, zu lang, um zu schwei­gen. M. wur­de in der marok­ka­ni­schen Hafen­stadt Nador gebo­ren. Er ist Mos­lem, gläu­big, einer der Guten, wie er sagt, einer, vor dem sich nie­mand fürch­ten müs­se. Er geht in die Moschee, er spielt Fuß­ball, er ist ver­hei­ra­tet, nachts beauf­sich­tigt er Maschi­nen, die Brie­fe sor­tie­ren, und er lacht gern. Sein Blick ist warm, er ver­fügt über zwei Hän­de, dar­auf besteht er, und zwei Augen, eine Nase, einen Mund. Vor Kur­zem warn­te er mich, weil ich öffent­lich über den Glau­ben der Mos­lems notier­te. Er sag­te: Da musst Du vor­sich­tig sein, es gibt vie­le Ver­rück­te, schau, dass sie nicht wis­sen, wo Du wohnst. Ein­mal, kurz nach einer Rei­se nach New York, lese ich ihm eine Geschich­te vor, fol­gen­de Geschich­te, sagen wir, eine Geschich­te wie eine Fra­ge: Im Cen­tral Park zur Mit­tags­zeit ein beten­der Mann, Mos­lem, Rik­scha­fah­rer, der Höhe 61. Stra­ße unter einer mäch­ti­gen, weit­ver­zweig­ten Ulme kniet, viel­leicht unter einem jener Bäu­me, deren Setz­lin­ge im Jahr 2008 nach Ore­gon geschickt wur­den, um sie dort groß­zu­zie­hen und wie­der nach Man­hat­tan zurück­zu­ho­len. Das kla­gen­de Sin­gen der Kin­der­schau­kel. Ein Eich­hörn­chen hetzt über eine Wie­se. Bald kau­ert das Tier in der Nähe des beten­den Man­nes, scheint ihn zu beob­ach­ten. Ich könn­te jetzt war­ten, bis der Mann mit sei­nem Gebet fer­tig gewor­den ist. Ich könn­te mich zu ihm in sei­ne Rik­scha set­zen. Wir könn­ten gemein­sam durch den Park fah­ren. Ich könn­te ihm eine Geschich­te erzäh­len. Ich könn­te erzäh­len, dass ich eben noch in einem Café hör­te, wie eine jun­ge, lus­ti­ge Mut­ter von ihrer Absicht berich­te­te, ihren Sohn, der noch nicht gebo­ren wor­den ist, mit dem Namen „Gram­mo­phon“ zu ver­se­hen. Das ist eine wirk­lich auf­re­gen­de Geschich­te, die ich tat­säch­lich sofort erzäh­len soll­te. Ich soll­te den jun­gen Mann wei­ter­hin fra­gen, ob er mir viel­leicht erklä­ren wol­le, wes­halb es lebens­ge­fähr­lich für mich sein könn­te, wenn ich mich fra­gend über Moham­med, den Pro­phe­ten, äußern wür­de. Viel­leicht wür­de der jun­ge Mann brem­sen, viel­leicht sich unver­züg­lich von sei­nem Fahr­rad schwin­gen. Wir wür­den uns auf eine Bank set­zen und Geschich­ten erzäh­len von Gram­mo­pho­nen, von Pro­phe­ten und wie es ist, im Win­ter Rik­scha zu fah­ren. Und viel­leicht wür­de ich ihm dann noch vom Schnee erzäh­len, den ich als Kind aus der Luft gefan­gen habe. Ja, so könn­ten wir das machen, sofort, gleich, wenn der beten­de Mann sich erhe­ben wird. – stop

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