Aus der Wörtersammlung: iss

///

hände

9

alpha : 3.12 — Ein jun­ger Mann erklärt, was zu tun ist, damit ich unter Men­schen, also unter sei­nen Freun­den, nicht unan­ge­nehm auf­fal­len wer­de. Er sag­te: Wenn ich Dich mit­neh­me ins Vier­tel, hältst Du am bes­ten den Mund. Coo­le Män­ner spre­chen wenig, und wenn sie ein­mal spre­chen, dann ver­wen­den sie Wör­ter so spar­sam wie mög­lich! — Der jun­ge Mann, von dem hier die Rede ist, ver­brach­te sei­ne frü­he Kind­heit in Marok­ko. Da, wo ich zu Hau­se war, das ist ein Dorf oder eine klei­ne Stadt am Ran­de des Atlas­ge­bir­ges, die er jedes Jahr im Herbst besucht. Sei­ne Ver­wand­ten leben dort seit Jahr­hun­der­ten. Er zeig­te mir eine Foto­gra­fie, deu­te­te auf ein Haus von rot erdi­ger Far­be: Das ist das Haus mei­ner Geburt. Im Hin­ter­grund waren schrof­fe, baum­lo­se Ber­ge zu erken­nen, das Dorf selbst ruh­te gebor­gen in einem Kranz saf­ti­ger Wäl­der, Pal­men, Dat­teln, Fei­gen, Zypres­sen, Oran­gen, Zitro­nen. Der jun­ge Mann erklär­te, das Was­ser, das die­se schö­ne grü­ne Far­be mache, ent­kom­me ste­tig den stei­ner­nen Hügeln nahe der Häu­ser, die eigent­li­che Tür­me sei­en, stei­le, enge Trep­pen führ­ten in Zim­mer, wel­che nach oben hin schma­ler und schma­ler wür­den. Ich bin Afri­ka­ner, setz­te er hin­zu, mit Leib und See­le, eigent­lich bin ich mit Leu­ten wie Dir nicht bekannt, aber nun, da wir uns schon ein­mal begeg­net sind! Wenn ich Dich mit­neh­me, hältst also am bes­ten den Mund. Sie wer­den Dich begrü­ßen, weil sie freund­lich sind. Dann hebst Du die rech­te Hand bis in Höhe der Schul­ter, Du öff­nest Dei­ne Hand und sie wer­den ein­schla­gen, sie wer­den Dei­ne Hand fest drü­cken und das wird weh­tun, aber Du wirst Dir nichts anmer­ken las­sen. Nach eini­ger Zeit, Du hast nicht gespro­chen, son­dern nur zuge­hört, wer­den sie Dich mögen, weil Du cool bist. Zum Abschied machst Du eine Faust. Mit dem Rücken Dei­ner Faust berührst den Rücken der Fäus­te, die sich Dir ent­ge­gen­stre­cken, dann hast Du alles rich­tig gemacht, das mit den Hän­den ist not­wen­dig, und alles ist gut, und Du weißt ein wenig mehr als vor­her. — stop
polaroidtaucher2

///

stille

9

tan­go : 22.15 — Am 21. Dezem­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res notiert Wolf­gang Herrn­dorf auf Posi­ti­on Arbeit und Struk­tur : Ago­ta Kris­tofs Tri­lo­gie zum drit­ten Mal nach­ein­an­der in Fol­ge gele­sen, das Per­so­nal ver­irrt sich schon in mei­ne Träu­me. Einer der ein­ei­igen Zwil­lin­ge, Klaus, Schrift­stel­ler wie im Buch, steht von Gaf­fern und Poli­zis­ten umringt auf dem Nürn­ber­ger Haupt­markt und hält ein Manu­skript mit dem Titel Die glück­li­che Stadt hoch, des­sen sofor­ti­ge Publi­ka­ti­on er ver­langt. Es hand­le von Unge­heue­rem, Skan­da­lö­sem, Ver­bor­ge­nem. Doch nie­mand, scheint ihm, nimmt ihn ernst; man behan­de­le ihn wie einen Wahn­sin­ni­gen. Ein Poli­zist sagt: War­um brin­gen Sie es nicht zur Zei­tung, um es dort ver­öf­fent­li­chen zu las­sen? / Klaus betritt ein Gebäu­de, des­sen Flu­re und Räu­me an einen vor Jahr­zehn­ten still­ge­leg­ten Büro­kom­plex der Deut­schen Post erin­nern, und gibt sein Manu­skript zusam­men mit einem klei­nen Zet­tel an der zustän­di­gen Stel­le ab. Beim Ver­las­sen der Redak­ti­on bemerkt er, dass alle ihm mit­lei­dig nach­schau­en. Er kehrt um. Ein jun­ger Mann erklärt: Sie kom­men jedes Jahr ein­mal mit Ihren Doku­men­ten hier­her und geben sie zusam­men mit einem Zet­tel ab, auf dem steht: “Bit­te neh­men Sie mein Manu­skript ent­ge­gen, tun Sie so, als ob Sie es dru­cken, und las­sen Sie mich nie­mals wis­sen, was auf die­sem Zet­tel steht.” / Das gro­ße Heft. / Der Beweis. / Die drit­te Lüge. / Die Geschich­te des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts in einer Nuss­scha­le, die die Dimen­sio­nen eines Rie­sen­tan­kers hat, unge­heu­er, wahn­sin­nig, maxi­mal kaputt.Stil­le. - stop

ping

///

ai : USBEKISTAN

aihead2

MENSCH IN GEFAHR : “Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­nov ist seit April ohne Zugang zu sei­ner Fami­lie in Usbe­ki­stan inhaf­tiert. Sei­ne Fami­lie befürch­tet, dass ihm Fol­ter und ande­re Miss­hand­lun­gen dro­hen. / Der 38-jäh­ri­ge Tadschi­ke Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­nov ist am 25. April in Usbe­ki­stan ange­kom­men, um sein Kind aus ers­ter Ehe zu besu­chen. Er hät­te am 28. April wie­der nach Tadschi­ki­stan zurück­keh­ren sol­len. Am 29. April erhielt Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­novs Bru­der in Tadschi­ki­stan einen Anruf von des­sen Ex-Frau, die ihn dar­über in Kennt­nis setz­te, dass Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­nov am 27. April vom usbe­ki­schen natio­na­len Sicher­heits­dienst fest­ge­nom­men wor­den war. Sei­ne Ange­hö­ri­gen hat­ten seit­dem kei­nen Kon­takt mehr zu ihm. Berich­ten zufol­ge wur­de er zwei Tage lang auf einer Poli­zei­wa­che in Beko­bod in Ost-Usbe­ki­stan, 150 km von der Haupt­stadt Tasch­kent ent­fernt, fest­ge­hal­ten. Am 10. Juni erhielt die Fami­lie einen Anruf von einem Mann, der angab, in einer vor­über­ge­hen­den Haft­ein­rich­tung in Tasch­kent inhaf­tiert gewe­sen zu sein, in der auch Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­nov inhaf­tiert war. Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­novs Fami­lie weiß nicht, ob er Zugang zu einem Rechts­bei­stand hat. / Sein Bru­der kon­tak­tier­te das tadschi­ki­sche Kon­su­lat in Tasch­kent, um sich über die Grün­de für die Inhaf­tie­rung von Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­nov zu erkun­di­gen. Das tadschi­ki­sche Kon­su­lat bat das usbe­ki­sche Außen­mi­nis­te­ri­um um Aus­kunft und erhielt am 30. Mai die Rück­mel­dung, dass Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­nov nicht von der Poli­zei in Beko­bod fest­ge­nom­men wor­den war. Abdu­mav­lon Abdu­rakhmo­novs Vater schrieb dar­auf­hin im Juni an den tadschi­ki­schen Men­schen­rechts­om­buds­mann, um Unter­stüt­zung und Hil­fe bei der Auf­klä­rung des Ver­bleibs sei­nes Soh­nes zu erhal­ten. Der tadschi­ki­sche Ombuds­mann lei­te­te die Anfra­ge an den usbe­ki­schen Ombuds­mann wei­ter. Bis­her hat der tadschi­ki­sche Ombuds­mann jedoch kei­ne Ant­wort erhal­ten. / Men­schen, die ohne Kon­takt zur Außen­welt inhaf­tiert sind, dro­hen unab­hän­gig von der Län­ge der Inhaf­tie­rung Fol­ter und ande­re Miss­hand­lun­gen.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 2. Okto­ber 2013 hin­aus, unter »> ai : urgent action

ping

///

ein faden

pic

vic­tor : 2.37 — Ich habe eine kur­ze Geschich­te ent­deckt, viel­mehr einen Gedan­ken oder eine Beob­ach­tung, die bedeu­tend zu sein scheint. Der unga­ri­sche Dich­ter Ist­ván Örké­ny ver­zeich­net sie in sei­nen Minu­ten­no­vel­len unter dem Titel Der Sinn des Lebens. Die­se Geschich­te, ich bin mir nicht sicher, ob ich sie wie­der­ge­ben darf, geht so: Wenn wir vie­le Kirsch­pa­pri­kas auf einen Faden auf­fä­deln, bekom­men wir einen Papri­ka­kranz. Wenn wir sie aller­dings nicht auf­fä­deln, bekom­men wir kei­nen Kranz. Dabei sind es genau­so vie­le Papri­kas, sie sind genau­so rot, genau­so scharf. Und trotz­dem sind sie kein Kranz. Soll­te es nur der Faden sein, der den Aus­schlag gibt? Es ist nicht der Faden. Die­ser Faden ist, wie wir wis­sen, ein neben­säch­li­ches, dritt­klas­si­ges Ding. Was ist es dann? Wer sich dar­über Gedan­ken macht und dar­auf ach­tet, dass sei­ne Gedan­ken nicht alle Rich­tun­gen abschwei­fen, son­dern in die rich­ti­ge Rich­tung vor­an­schrei­ten, kann gro­ßen Wahr­hei­ten auf die Spur kom­men. — stop
ping

///

babuschka

9

echo : 4.12 — Vor eini­ger Zeit hat­te ich einen Text geschrie­ben, den ich nur des­halb notier­te, um ihn mit­tels eines Ver­schlüs­se­lungs­pro­gramms in einen Zustand der Unles­bar­keit zu ver­set­zen. Genau­ge­nom­men hat­te ich den Text mit einer beson­de­ren Haut, mit einer Zeit­haut umge­ben. Um ihn näm­lich lesen zu kön­nen, müss­te man den Text zunächst deco­die­ren, das heißt, solan­ge mit­tels einer Com­pu­ter­ma­schi­ne sei­ne Öff­nung pro­bie­ren, bis der rich­ti­ge Schlüs­sel gefun­den ist. Ges­tern, bei gro­ßer Hit­ze, stell­te ich mir vor, was gesche­hen wür­de, wenn nun nach Tagen, Wochen oder Jah­ren des Rech­nens das suchen­de Pro­gramm mel­den wür­de: Ich bin fün­dig gewor­den! Wie ein mensch­li­cher Ana­lyst sich in die­sem Moment zufrie­den sei­nem Bild­schirm nähert, um fest­zu­stel­len, dass sich hin­ter den Zei­chen eines ver­schlüs­sel­ten Tex­tes wei­te­re ver­schlüs­sel­te Zei­chen befin­den. stop – Auf den ers­ten Blick ist fol­gen­dem kodier­ten Text nicht anzu­se­hen, hin­ter wie vie­len Zeit­häu­ten sein les­ba­rer Ursprung ver­bor­gen lie­gen könn­te: ANFANG === B U C W 0 G c o a G j I B W W f k p h Z L v 0 h 4 Y J j 9 4 4 t m c e K C l x B M b L 4 q T d x Y I w B U v V 3 E b p b X y A z Y B e R 5 C a 9 n b s E B p U I 6 z q 3 Z C 6 a Q A R Q 1 a 8 P I N 1 j T L B b V 9 e O F 0 j 5 G s F f y 5 E M D 3 5 a r / C G 0 j V z 4 v n e u M z p T K W Y t 4 D m s J t e / F E C Y C a j 3 Z L Z / h l x G M W I 4 7 v 8 / B I g H c E / Q 2 F 9 G s W Z i z Q K 0 7 k t O W 7 8 k S k A t q u J Z 5 2 F A u n a J 6 C G B u A 7 R o C u P p D n C m 8 F 7 9 F E e m H / T T 3 K x z S 7 r 3 i 0 y 4 g M Z u m G m x i A q 4 l z d A x i o P m 0 O I b x M i T I x P w X j 5 A I i 1 z c e + T W i i x A + 6 A h k p q h o n a D e M / y s A l y W r i p 4 s Z m m / q X y n 2 o P H R q z g U i + T s H B c z + J v K 3 A a d v j Z F L 9 i R M s C f m W y U d 6S 4 4 O f z l 8 x P z H B W z 1 H 2 6 z Z o z F s C U U D Y v k +Y N F 0 f U t A y k a Y 7 E L j / u N X s s q 1 K 1 V z A C i z K Z Y 7 F N J C q y t x s Q c b W r C 3 k 4 i f V 1 l K u g f b N i P t y O 8 1 7 e l u y x d r o i d 5 d X 3 E D g O V s X i T e e 5 Q q i 0 U 6 E o 3 G 5 y r 2 9 a f a w X M a U U r Q V d b i U A V 8 F e y 4 m k e W b 9 e u b 1 i S W F g m K y 4 P 1 0 m 0 e 3 x 5 V q b N W c v i 3 6 j L h / u O I j K 8 L s t Y B s 9 F 4 l l c Q A h B J s Q h U 6 i b R U 5 B 4 f g 3 f j r 2 C I i k c M q R U C 4 4 F E u o Y i R w A r D x H W u 2 2 P w 9 d 8 f A 1 f A r 3 5 D l V 3 B G p / J m h b h 8 w F n 7 p v x g x z 9 i b / S h F t K M v 6 l 6 W L A 5 r 7 U F R S O k l C f 0 L H B a J h n V y w Q 0 e Y k 9 w 9 y / Z M 4 Y m F W O T m x 4 s s A W 5 w X 2 N z L g 3 + 9 + d x L 7 T 8 U + A Y C U L b T M J y l M + H Q y S F 7 S T D I / 8 O 6 4 K F 0 4 d 7 g v I === ENDE / code­wort : babusch­ka — stop

polaroidno7772

///

ai : MEXICO

aihead2

MENSCHEN IN GEFAHR : “Der Men­schen­recht­ler Herón Six­to López ist im mexi­ka­ni­schen Bun­des­staat Oaxa­ca ver­schleppt und getö­tet wor­den. Amnes­ty Inter­na­tio­nal befürch­tet, dass auch sei­ne Fami­lie und Kol­le­gIn­nen in Gefahr sind. Am 20. Juli wur­de die Lei­che des Men­schen­rechts­ver­tei­di­gers Herón Six­to López nahe der Gemein­de San Sebas­tián Teco­maxt­la­huaca im Bun­des­staat Oaxa­ca im Süden Mexi­kos gefun­den. Sie wies min­des­tens sechs Schuss­wun­den auf. Herón Six­to López war am 15. Juli als ver­misst gemel­det wor­den; an die­sem Tag war er zuletzt in sei­nem Büro des Ori­en­tie­rungs- und Bera­tungs­zen­trums für indi­ge­ne Völ­ker (Cen­tro de Ori­ent­a­ción y Ase­so­ría a Pue­blos Indí­ge­nas — COAPI) gese­hen wor­den. Sein Ver­schwin­den wur­de bei der Staats­an­walt­schaft von Oaxa­ca in Jux­tla­huaca offi­zi­ell ange­zeigt. / Herón Six­to López setz­te sich in loka­len Gemein­den für die Rech­te indi­ge­ner Grup­pen ein. So ver­trat er bei­spiels­wei­se das indi­ge­ne Volk der Mix­te­ken in Land­strei­tig­kei­ten. In den letz­ten Mona­ten sei­nes Lebens hat­te er zahl­rei­che anony­me Anru­fe erhal­ten. Einer der Anru­fer sag­te ihm offen­bar, dass man ihn “ver­schwin­den” las­sen wür­de. Seit sei­nem Tod haben sei­ne Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen Vor­fäl­le ange­zeigt, die den Schluss nahe­le­gen, dass sie sich eben­falls in Gefahr befin­den. Am 21. Juli wur­de die Fami­lie nach der Beer­di­gung von Herón Six­to López von einem Auto ver­folgt. / Die Umstän­de, die zum Tod von Herón Six­to López führ­ten, müs­sen noch in vol­lem Umfang geklärt wer­den. Dabei ist es aller­dings wich­tig, dass ein etwa­iger Zusam­men­hang mit sei­ner Men­schen­rechts­ar­beit umfas­send unter­sucht wird.” — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 5. Sep­tem­ber 2013 hin­aus, unter »> ai : urgent action

ping

///

lufteis

9

ulys­ses : 0.22 — Ob es geheim­dienst­li­chen Ana­ly­se­ma­schi­nen mög­lich ist, zwi­schen fik­tio­na­len Tex­ten und nicht fik­tio­na­len Tex­ten zu unter­schei­den? — Wei­ter­hin Wär­me in den Zim­mern. Kaum Flie­gen, viel­leicht weil es drau­ßen schön kühl ist. Gewit­ter­duft, wür­zig nach Moos und Frö­schen. Ich erin­ne­re mich in die­sem Moment vor eini­gen Jah­ren einen beson­de­ren Kühl­schrank in Emp­fang genom­men zu haben, einen Behäl­ter von enor­mer Grö­ße. Ich wie­der­ho­le, dass die­ser Kühl­schrank, in wel­chem ich pla­ne im Som­mer wie auch im Win­ter kost­ba­re Eis­bü­cher zu stu­die­ren, eigent­lich ein Zim­mer für sich dar­stellt, ein gekühl­tes Zim­mer, das wie­der­um in einem höl­zer­nen Zim­mer sitzt, das sich selbst in einem grö­ße­ren Stadt­haus befin­det. Nicht dass ich in der Lage wäre, in mei­nem Kühl­schrank­zim­mer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unter­zu­brin­gen und eine Lam­pe und ein klei­nes Regal, in dem ich je zwei oder drei mei­ner Eis­bü­cher aus­stel­len wer­de. Dort, in nächs­ter Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen wei­te­ren klei­ne­ren, äußerst kal­ten, einen sehr gut iso­lier­ten Kühl­schrank auf­ge­stellt, einen Kühl­schrank im Kühl­schrank sozu­sa­gen, der von einem Not­strom­ag­gre­gat mit Ener­gie ver­sorgt wer­den könn­te, damit ich in den Momen­ten eines Strom­aus­fal­les aus­rei­chend Zeit haben wür­de, jedes ein­zel­ne mei­ner Eis­bü­cher in Sicher­heit zu brin­gen. Es ist näm­lich eine uner­träg­li­che Vor­stel­lung, jene Vor­stel­lung war­mer Luft, wie sie mei­ne Bücher berührt, wie sie nach und nach vor mei­nen Augen zu schmel­zen begin­nen, all die zar­ten Sei­ten von Eis, ihre Zei­chen, ihre Geschich­ten. Seit ich den­ken kann, woll­te ich Eis­bü­cher besit­zen, Eis­bü­cher lesen, schim­mern­de, küh­le, uralte Bücher, die knis­tern, sobald sie aus ihrem Schnee­schu­ber glei­ten. Wie man sie für Sekun­den lie­be­voll betrach­tet, ihre pola­re Dich­te bewun­dert, wie man sie dreht und wen­det, wie man einen scheu­en Blick auf die Tex­tu­ren ihrer Gas­zei­chen wirft. Bald sitzt man in einer U‑Bahn, den lei­se sum­men­den Eis­buch­rei­se­kof­fer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeis­ter­ten Bli­cke der Fahr­gäs­te, wie sie flüs­tern: Seht, dort ist einer, der ein Eis­buch besitzt! Schaut, die­ser glück­li­che Mensch, gleich wird er lesen in sei­nem Buch. Was dort wohl hin­ein­ge­schrie­ben sein mag? Man soll­te sich fürch­ten, man wird sei­nen Eis­buch­rei­se­kof­fer viel­leicht etwas fes­ter umar­men und man wird mit einem wil­den, mit einem ent­schlos­se­nen Blick, ein gie­ri­ges Auge, nach dem ande­ren gegen den Boden zwin­gen, solan­ge man nicht ange­kom­men ist in den fros­ti­gen Zim­mern und Hal­len der Eis­ma­ga­zi­ne, wo man sich auf Eis­stüh­len vor Eis­ti­sche set­zen kann. Hier end­lich ist Zeit, unter dem Pelz wird nicht gefro­ren, hier sitzt man mit wei­te­ren Eis­buch­be­sit­zern ver­traut. Man erzählt sich die neu­es­ten ark­ti­schen Tief­see­eis­ge­schich­ten, auch jene ver­lo­re­nen Geschich­ten, die aus purer Unacht­sam­keit im Lau­fe eines Tages, einer Woche zu Was­ser gewor­den sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist kei­ne Zeit für alle die­se Din­ge. Es ist immer die ers­te Sei­te, die zu öff­nen, man fürch­tet, sie könn­te zer­bre­chen. Aber dann kommt man schnell vor­an. Man liest von uner­hör­ten Gestal­ten, und könn­te doch nie­mals sagen, von wem nur die­se fei­ne Luft­eis­schrift erfun­den wor­den ist. — stop

polaroidcassini

///

ludmilla

9

echo : 6.12 — Ich habe eine E‑Mail bekom­men. Lesen Sie selbst: Ver­ehr­ter Lou­is, wie geht es Ihnen? Ich hof­fe, Sie sind wohl­be­hal­ten zurück­ge­kehrt von Ihrer Rei­se. Lei­der konn­ten wir uns nicht tref­fen, so wie noch im Janu­ar geplant. Es ist schwie­ri­ger gewor­den, das Haus zu ver­las­sen. Ich füh­le mich nicht län­ger sicher auf der Stra­ße. Aber auch unter mei­nem eige­nen Dach habe ich immer wie­der das Gefühl, beob­ach­tet zu wer­den. Ich neh­me an, es exis­tie­ren längst Ideen über mich, viel­leicht wird man sagen: Er könn­te nun doch ver­rückt gewor­den sein. Aber natür­lich weiß ich, was ich tue und wovor ich mich fürch­te. Im April war ich noch lan­ge Stun­den am Strand unter­wegs gewe­sen, besuch­te mei­ne Freun­din Lud­mil­la, die abends vor dem Board­walk mit ihren Freu­den im kal­ten See­wind sitzt. Ihr gehört jetzt ein Roll­stuhl, den sie von eige­ner Hand bewe­gen kann, weil sie zäh und leicht ist, Sie wür­den stau­nen. Irgend­wann muss ich das Haus wie­der ver­las­sen, das ist mir Her­zens­wunsch, ich kann Lud­mil­la doch nicht ver­lie­ren, ohne sie noch ein­mal gese­hen zu haben. Im Dezem­ber wird sie 92 Jah­re alt, da kann man an das Ende schon ein­mal den­ken, nicht wahr! Nun, ich will nicht kla­gen, bin sehr vor­sich­tig gewor­den. Wenn ich zum Ein­kau­fen gehe ein­mal in der Woche, dann nie­mals allein, son­dern immer in der Beglei­tung eines alten Freun­des. Sie wer­den ver­ste­hen, dass ich sei­nen Namen nicht erwäh­ne. Er ist zuver­läs­sig, hilft mir beim Tra­gen der Fla­schen. Was ich sonst noch benö­ti­ge, las­se ich mir kom­men. Ich erin­ne­re mich, jetzt, da ich hier sit­ze und schrei­be, dass ich als Kind ein­mal über­leg­te, eine Spra­che zu erfin­den, die nur ich ver­ste­hen kann. Ich hat­te mir vor­ge­nom­men, alle Wör­ter, die ich kann­te, in mei­ne neue Spra­che zu über­set­zen. Ich woll­te ler­nen, mit­tels die­ser Wör­ter zu den­ken. Seit weni­gen Tagen arbei­te ich nun dar­an, mir genau die­sen uralten Wunsch zu erfül­len. Ist das nicht wun­der­bar! Viel­leicht wer­de ich mich bald wie­der sicher füh­len. See­mö­wen sit­zen auf dem Bal­kon, ihre Augen wir­ken bei­zei­ten so, als wären sie Objek­ti­ve, die man füt­tern kann. Genug! Es ist Sonn­tag. Mor­gen wer­de ich Ihnen einen Brief von Papier über­mit­teln, in wel­chem ich eine Lis­te von Wör­tern ver­merk­te, die Sie in Zukunft bit­te nicht wei­ter ver­wen­den, wenn Sie mir eine E‑Mail schrei­ben. Sie wis­sen, wo der Brief zu fin­den ist. Bis bald, mein lie­ber Lou­is. Ihr Micha­el – stop

polaroidbay

///

kekkola

9

ulys­ses : 22.00 — Schnell erzäh­len, was ich ent­deck­te, als ich Kek­ko­la besuch­te, dem ich seit eini­gen Jah­ren ver­bun­den bin, weil er gern sehr selt­sa­me Din­ge tut. Eigent­lich ist er nicht son­der­lich ver­rückt, viel­mehr sind die Men­schen ver­rückt, von deren Leben Kek­ko­la erzählt. Ich habe kei­ne Ahnung, ob sie tat­säch­lich jemals exis­tier­ten, jeden­falls nimmt es Kek­ko­la sehr genau damit, sie zu ver­ste­hen, sich in sie ein­zu­füh­len. Ein­mal soll er drei Tage lang mit einem Luft­ge­wehr reg­los auf sei­nem Bal­kon gekau­ert haben. Er ziel­te gegen einen wei­te­ren Bal­kon, oder auf ein Fens­ter, das sich hin­ter die­sem Bal­kon befand. Er war­te­te. Es war im Win­ter gewe­sen und es war kalt im 38. Stock, ein Schnee­sturm pas­sier­te, ohne Kek­ko­la vom Bal­kon ver­trei­ben zu kön­nen. Als ich ges­tern mit ihm tele­fo­nier­te, hör­te ich im Hin­ter­grund Was­ser­ge­räu­sche. Ich frag­te, ob er zu Hau­se sei und ob ich vor­bei­kom­men sol­le. Ich hat­te den Ein­druck, dass er viel­leicht Fie­ber haben könn­te, weil er nicht sehr deut­lich for­mu­lier­te, schläf­rig und etwas irr. Also eil­te ich zu ihm. Er bemerk­te noch, dass er mir nicht öff­nen wür­de, weil er sich in einem Ver­such befän­de, der Schlüs­sel zur Woh­nung sei in der Lob­by abzu­ho­len. Kek­ko­la saß im Bad auf einem Stuhl vor sei­ner Wan­ne. Um ihn her­um auf dem Boden lagen Was­ser­fla­schen, auch Whis­key, Brot­stan­gen, Bücher und eine Decke, die ihm von den Schen­keln gerutscht sein muss­te. Sei­ne Füße stan­den in der Bade­wan­ne in Salz­was­ser, das von einer grün­li­chen Far­be war. Es roch moo­rig in der Zel­le gleich neben der Küche. Glück­li­cher­wei­se war Kek­ko­la noch am Leben. Er hat­te tat­säch­lich hohes Fie­ber. Ich bat einen Nach­barn um Hil­fe. Wir hoben sei­ne Bei­ne vor­sich­tig aus dem Was­ser, sie waren schwer ent­zün­det, an sei­nen Zehen begann sich die Haut vom Kör­per zu lösen, eine Blau­krab­be hat­te sich in sei­ne lin­ke Wade ver­bis­sen. Kekkola’s Füße stan­ken fürch­ter­lich, er fluch­te, wie wir ihn ins Schlaf­zim­mer schlepp­ten. Vier Tage hat­te er in beschrie­be­ner Hal­tung aus­ge­harrt, fünf Tage woll­te er schaf­fen. Als ich die Bade­wan­ne, der Aus­fluss war ver­stopft, von Hand aus­zu­schöp­fen begann, ent­de­cke ich einen jun­gen Horn­hecht, drei Atlan­ti­kaa­le, Sand­wür­mer, Glas­scher­ben, Schlick­gar­ne­len, Muschel­scha­len und fünf wei­te­re Blau­krab­ben, die sich hef­tig wehr­ten. — stop
polaroidpeaks

///

südostnordwest

2

tan­go

~ : oe som
to : louis
sub­ject : SÜDOSTNORDWEST
date : july 02 13 8.12 p.m.

Tau­cher Noe seit 851 Tagen unter der Was­ser­ober­flä­che. Tie­fe 812 Fuß. Posi­ti­on: 42°55’NORD 51° 42’ WEST. stop. Es ist kurz nach Mit­ter­nacht, die See wie­der ruhig. Ges­tern, unge­fähr zur sel­ben Tages­zeit, wur­den wir wie aus dem Nichts von einer mäch­ti­gen Wel­le getrof­fen. Bei­na­he wären wir geken­tert. Ent­setzt über das Vor­ge­fal­le­ne, lagen wir eini­ge Minu­ten still. Dann mach­ten wir uns auf die Suche, woll­ten wis­sen, ob wir noch voll­zäh­lig waren. Momen­te vol­ler Demut. Ich erin­ne­re mich an Lid­wi­ens zar­tes, blas­ses Gesicht, wie sie vor dem Funk­ge­rät sitzt und Noe anruft, er möge sich mel­den. Es war wie ein Gebet, sie fürch­te­te, ihn ver­lo­ren zu haben, das Tau, an dem er in der Tie­fe schwebt, könn­te geris­sen sein, aber wir spür­ten ein leich­te, schau­keln­de Bewe­gung unter dem Schiff. Es hat­te den Anschein, als wür­de Noe unter uns durchs Dun­kel pen­deln. Nach einer hal­ben Stun­de gedul­di­gen Hof­fens mel­de­te er sich, woll­te wis­sen, was gesche­hen war. Natür­lich ant­wor­te­ten wir aus­wei­chend, um ihn nicht zu beun­ru­hi­gen. Erst ver­gan­ge­ne Woche war es gewe­sen, da wir Noe erklär­ten, dass zu sei­nen Füßen wei­te­re 10660 Fuß Tie­fe war­te­ten. Noe war für zwei Tage sprach­los gewe­sen, dann begann er Mur­phys Geschich­te zu lesen Stun­de um Stun­de, setz­te immer wie­der von vorn an, das Buch scheint ihn zu beru­hi­gen. In die­sem Moment, da ich Dir schrei­be, geht es wie­der los: Die Son­ne schien, da sie kei­ne ande­re Wahl hat­te, auf nichts Neu­es. Mur­phy saß, als ob es ihm frei stün­de, im Schat­ten, in einer Gas­se West Bromb­tons. Hier hat­te er wohl schon sechs Mona­te lang geses­sen, getrun­ken, geschla­fen, sich an- und aus­ge­zo­gen, in einem mit­tel­gro­ßen Käfig mit Front nach Nord­wes­ten und unun­ter­bro­che­ner Sicht auf mit­tel­gro­ße Käfi­ge mit Front nach Süd­os­ten. – Es ist uns, lie­ber Lou­is, ein gutes Zei­chen, dass Noe wie­der liest. Wir haben ihm ver­spro­chen, noch in die­sem Monat eine Bril­le auf­zu­trei­ben, ein Gestell zu fabri­zie­ren, das an sei­nem Helm befes­tigt wer­den kann. Manch­mal den­ke ich, Noe glaubt uns nicht mehr, kei­nem unse­rer Ver­spre­chen, kei­ner Idee. — Ahoi! Dein OE SOM

gesen­det am
03.07.2013
2071 zeichen

oe som to louis »

 

polaroidkueste3



ping

ping