sierra : 23.25 — Ich hatte bis zum späten Abend keine Zeitung gelesen und auch die Fernsehmaschine nicht angestellt. Gegen 22 Uhr rief ein Freund an, fragte, ob ich die Fotografie mit dem Jungen gesehen hätte, der aus Kobanê geflüchtet, vor einem Urlauberstrand der Türkei ertrunken und Land gespült worden sei. Er sagte, er habe mir die Aufnahme gerade eben geschickt, und ich hörte genau in diesem Moment das Geräusch einer ankommenden E‑Mail mit dem Betreff: Der Junge. Eine halbe Stunde später öffnete ich die Datei. Auf der Fotografie war der Körper eines Kindes am Strand zu erkennen, einsam, unendlich einsam, so, als habe das Meer, in dem das Kind ertrunken war, seinen Körper behutsam am Strand abgelegt, seht her, schaut, was geschehen ist, öffnet die Grenzen, lasst Flüchtlingsmenschen endlich mit Flugzeugen zu euch kommen, wehrt sie nicht ab, errichtet keine Zäune, hört auf, Waffen zu liefern, mit welchen tatsächlich auf Menschen geschossen wird, ich bin das Meer, aus dem ihr alle gekommen seid. Millionen elektrische Exemplare dieser Fotografie eines leblosen Kindes sollen sich innerhalb weniger Stunden um die Welt verbreitet haben, eine Fotografie, die nie wieder verschwinden wird, ein Gedächtnisbild möglicherweise, wie das Bild (Pulitzerpreis 1973) der durch friendly fire schwer verletzten Kim Phúc und der Geschwister des Mädchens, fliehend auf einer Straße im Süden Vietnams, ein Gedächtnisbild, an das sich die Menschheit nun gewöhnen wird, das Bild betrachten und bedenken, damit es seinen Schrecken verliert, bis man es nicht mehr wahrnehmen wird. Der Name des Jungen: Aylan Kurdi. Er wurde 3 Jahre alt. Nicht alle werden sich gewöhnen. — stop
Aus der Wörtersammlung: jung
kontrabass
romeo : 6.15 — Das warme Licht, das im Holz der Kontrabässe brennt, ein Glühen, in das ich vernarrt bin, soweit ich zurückdenken kann? Die Schuhe eines uralten Bassisten, wie sie vor dem kleinen Jungen sehr fest auf dem Boden einer Kellerbühne stehen, während die Welt drumherum aufgewühlt ist, schwarze, spiegelblanke Schuhe, und irgendwo, weit oben am Schneckenturm, dunkle Hände, die wie Echsen über Holz und kupferne Seile springen. Mein seltsam fühlender Bauch. Wunderte mich, dass sie miteinander sprechen, während sie spielen, lachen, spaßen, sich befeuern und beim Namen nennen. Hört ich nicht gerade noch Thelonius Sphere Monks Stimme wie er im Jahre 1957 : Coltrane! Coltrane! ruft? — Welches Geräusch würde ein Kontrabass von Eis erzeugen? — stop / koffertext
afrikatram
india : 5.05 — Eine Straßenbahn, tatsächlich, am frühen Morgen. Staubige junge Männer, Malerarbeiter, sie lehnen aneinander und schlafen wieder oder erzählen sich irgendwelche wilden Geschichten in polnischer Sprache, wie an jedem Tag zu dieser Zeit, auch wenn Sonntag ist oder Samstag. Am Max-Weber-Platz, fünf Uhr und acht Minuten, steigen uralte, afrikanische Frauen zu, sind in weiße, goldbestickte Tücher gehüllt, auf dem Weg zur Morgenandacht vielleicht. Auch sie erzählen sich irgendwelche wilden Geschichten, helle Stimmen, so hell oder schnell, dass sie kaum noch hörbar sind. Es ist jetzt eine Stunde, die nicht länger zur Nacht, aber auch noch nicht in den Tag gehört. Nur in dieser 1 Stunde Zeit fahren Straßenbahnen herum, die voll staubiger, müder Männer und heiterer, uralter Frauen sind, die sich Geschichten erzählen, vielleicht von der Furcht, die sichtbar wird in Gesten, scheuen Blicken, Lamelleniris, nur nicht sprechen, tatsächlich, von der Furcht, von der ich weiß, Nesrin hat mir erzählt, von heimlicher Furcht, an die man am besten nicht denkt. — stop
martha
marimba : 20.24 — Als Martha vor wenigen Tagen ein neues Telefon bekam, sollte ich ihr zeigen, wie man den Anrufbeantworter des Telefons in Betrieb setzt, vor allem helfen, eine Begrüßung auf Band festzuhalten. Als wir so weit gekommen waren, dass sie sprechen konnte, machte Martha ein bedeutendes Gesicht, sie sagte: Guten Tag, guten Tag! Hier spricht Martha, ich bin nicht zu Hause oder vielleicht doch, ich rufe bald zurück. Sobald sie fertig gesprochen hatte, wollte sie ihre Ansage noch einmal hören, ich drückte also auf den Knopf, der die Wiedergabe startete, und wir hörten nun gemeinsam Marthas Stimme, rau geworden von der Zeit. Martha war zufrieden: Schau, das klingt überzeugend, das wird noch dann zu hören sein, wenn ich gar nicht mehr anwesend sein werde. Und wie sie so durch ihr Wohnzimmer ging, sah ich in ihr eine lustige Frau, die sich an Tischen, Stühlen, Schränken festhalten musste, ich konnte mir vorstellen, wie sie noch ganz jung gewesen war, eben eine lustige junge Frau, leichtfüßig. Sie suchte nach ihrem Telefonapparat, der ihr 12 Jahre gedient hatte, zuletzt waren seine Tasten für Marthas zitternde Hände zu klein geworden. Sie sagte: Ich will hören, wie ich damals gesprochen habe. — stop
cäsium
whiskey : 2.45 — Das Fernsehen erzählte heute eine Geschichte von einem Jungen, der nahe der Stadt Fukushima im Strahlenmesszentrum Nihonmatsu in das Gehäuse einer Maschine gestellt wurde, um die Strahlenbelastung seines Körpers innen wie außen und von oben bis unten zu messen oder zu zählen, demzufolge von Kopf bis Fuß. Der Junge, auf dem Bildschirm mehrfach zu sehen, war noch nicht einmal zehn Jahre alt, er und seine Mutter wohnen in verseuchtem Gebiet. Ein Radiologe erzählte der Mutter, was sie zu ihrem Schutz im Wohnhaus unternehmen könnte. Sie sollte mit Wasser gefüllte Plastikflaschen auf die Fensterbretter der Zimmer stellen, gut geeignet seien die viereckigen Zweiliterflaschen. Ihr Sohn sollte, wenn möglich, im Erdgeschoss schlafen, nicht im ersten Stock. Am niedrigsten sei die Strahlenbelastung in der Mitte des Zimmers. Draußen sei die Strahlenbelastung umso höher, je tiefer man sich befindet. Aber im Haus sei das genau andersherum. Weiter unten sei die Dosis geringer. Das komme daher, dass das Cäsium, das sich auf dem Dach ansammelte, die Dosisrate in den Zimmern darunter erhöhe, eine plausible Begründung. Ich sah und hörte zu und dachte an Georges Perec, der notierte: Es ist ein Tag wie dieser hier, ein wenig später, ein wenig früher, an dem alles neu beginnt, an dem alles beginnt, an dem alles weitergeht. — stop
who is fred wesley?
tango : 2.30 — Heiterer Stimmung war ich gestern Abend der Geschwindigkeit, mit welcher Waren, die ich kaufte, an der Kasse eines Supermarktes behandelt wurden, nicht gewachsen, vielleicht deshalb, weil ich überhaupt langsamer geworden bin, oder weil ich in dem Augenblick, da meine Ware über einen Scanner bewegt wurde, darüber nachdachte, ob es sich bei E‑Mails, die ich manchmal schreibe, noch um Wesen handelt, die man als Schriftstücke bezeichnen könnte. Ohnehin drohte ein Fiasko, da sich die Waren, die gerade in meinen Besitz übergegangen waren, hinter dem Fließband ineinander schoben wie Packeisschollen auf dem Atlantik vor Grönland. Eine junge kolumbianische Assistentin kam glücklicherweise bald zu Hilfe, ich führte mehrere gefaltete Papiertüten mit mir, die sehr sorgfältig bepackt werden mussten. Sie sprach nur wenige Wörter meiner Sprache, und sie schwitzte indessen und versuchte mir zu erklären, dass es in ihrem Land noch viel wärmer sei als bei uns in Europa, aber dass sie dort, auch im Regenwald nicht, niemals so heftig schwitzen würde wie hier, die Klimaanlage sei ausgefallen, dass ich etwas langsamer sei als üblich, wäre geradezu vernünftig. Ja, vermutlich bin ich langsamer geworden, und ich dachte, man könnte einmal Schnellkassen in dem Sinne bedenken, dass dort rasende Menschen mit rasenden Händen rasende Geldbörsen bedienen, alles ginge dort so schnell, dass man als ein langsamer Mensch, auf der anderen Seite der Zeit befindlich, nur noch Unschärfen in der Luft wahrnehmen würde, nicht aber einkaufende Personen, während einer wie ich als eine Fotografie erscheinen würde, als Etwas, das sich niemals bewegt. — Kurz nach zwei Uhr. Wunderbar kühle Luft. Who is Fred Wesley? — stop
ein zeitraum wird sichtbar
echo : 0.28 — Wann war es das erste Mal gewesen, dass ich von der Filmemacherin Laura Poitras hörte. Vielleicht im Sommer des Jahres 2013. Ich erinnere mich, jemand erzählte, sie sei eine in sich ruhende, sehr starke Frau, die niemals, auch in gefährlichen Situationen nicht, ihre Fähigkeit der Konzentration verlieren würde. In ihrem Dokumentarfilm Citizenfour, der vornehmlich in einem Hotel der Stadt Hongkong gedreht wurde, ist sie selbst kaum zu sehen. Ich meine ihre Gestalt sowie ihre Kamera in einem Spiegel für einige Sekunden wahrgenommen zu haben. Ein merkwürdiger, intensiv wirkender Film, dessen Bilder vage Vorstellungen der Ereignisse jenes Sommers mit wirklichen Bildern füllte. Edward Snowden sitzt barfuß auf einem Bett, meine Augen beobachteten ihn im Licht der vorgestellten, vermutlich sehr realen Gefahr, in der sich der junge, mutige und überaus klar sprechende Mann befand. Immer wieder hielt ich den Film an, um nachzudenken oder zu lernen. Einmal beobachtete ich indessen, wie sich Schnecke Esmeralda über den Boden meines Arbeitszimmers in Richtung eines geöffneten Fensters fortbewegte. Sie wanderte gemächlich die Wand hinauf zum Fensterbrett, wartete dort einige Minuten, während sie den Nachthimmel mit ihren Augen betastete, um sich schließlich hinaus an die raue Hauswand zu wagen. Einige Stunden später, in der Dämmerung des Morgens, kehrte sie zurück. Ihre Kriechspur schimmerte im ersten Licht des Tages an der Wand des Hauses, sie war, aus der Perspektive einer Schnecke betrachtet, weit herumgekommen. Den folgenden Tag über schlief Esmeralda tief und fest, wie mir schien, in der Küche auf dem Tisch. Ihr schweres Gehäuse lehnte an einer Aprikose. — stop
kyllini
alexandros panagoulis
alpha : 2.58 — Ich beobachtete einen jungen Mann, der lange Zeit neben einer Ampel vor einer Kreuzung stand, eine vornehme und zugleich merkwürdige Erscheinung. Der Mann trug einen eleganten, grauen Anzug, hellbraune, feine Schuhe, ein weißes Hemd und eine Krawatte, feuerrot. Er machte etwas Seltsames, er setzte nämlich seinen rechten Fuß auf die Straße, um ihn sogleich wieder zurückzuziehen, als ob der Belag der Straße zu heiß wäre, um sie tatsächlich betreten zu können. Das ging eine Viertelstunde so entlang, ein früher Nachmittag, es regnete leicht. Der Mann schien nicht zu bemerken, dass ich ihn beobachtete. Um uns herum waren sehr viele Menschen unterwegs gewesen, die die Kreuzung Broadway Ecke 30. Straße schnellfüßig unter sich drehenden Regenschirmen überquerten. Für einen Augenblick hatte ich den Eindruck, der Mann würde sich verhalten wie eine Figur in einem sehr kurzen Film, der sich unablässig wiederholte. Einmal bleibt eine ältere Frau neben ihm stehen, sie schien zu zögern, aber dann trat sie doch entschlossen auf die Straße, um kurz darauf zurückzukehren und dem jungen Mann eine Tüte Nüsse zu überreichen. In genau diesem Augenblick ließ ich los und spazierte weiter in Richtung South Ferry, ohne mich noch einmal nach dem jungen Mann umzudrehen. — Kurz vor drei Uhr. Noch Stille draußen vor den Fenstern, kühle Nacht. Erinnerte mich vor wenigen Stunden an Alexandros Panagoulis, an das vorgestellte Bild des Dichters, wie er im griechischen Militärgefängnis Bogiati in einer Zelle sitzt. Er ist ohne Papier, er notiert Gedichte, die er aufhebt in seinem Kopf. Lange musste ich nach seinem Namen suchen, er war verschwunden gewesen, als hätte ich nie von ihm gelesen. — stop
siatista mittags jahre später
echo : 5.08 — Vor Jahren einmal wurde mir erzählt, ein sehr alter Mann habe sich aus Verzweiflung über die politische Lage seines Landes, andere meinten, weil er im hohen Alter noch hungern musste, an einem wunderschönen Maitag auf dem Marktplatz der malerischen Stadt Siatista, demzufolge in einer nördlichen Provinz Griechenlands, erschossen. Er habe ein Sturmgewehr für seinen letzten Schuss verwendet, eine Waffe, die seit dem Jahre 1944 im Keller seines Elternhauses in Ölpapier gewickelt lagerte. Beinahe wäre das Gewehr, einst Stolz des jungen Mannes im Kampf gegen deutsche Faschisten, für immer in Vergessenheit geraten. Im Detail war damals zu erfahren gewesen, die Kugel habe zunächst den Unterkiefer des alten Mannes durchschlagen, sei von dort aus in das Gehirn vorgedrungen und habe den Kopf über das linke Auge hin wieder verlassen. Bruchteile einer Sekunde später soll das Projektil eine Fliege getötet haben, die sich kurz zuvor auf den Weg südwestwärts gemacht hatte, um sich zuletzt in den Ast eines Salzbaumes zu bohren. — Ist das nun eine Geschichte oder eine Nachricht? Ich habe noch immer keine Antwort auf diese Frage. — stop