kilimandscharo : 6.28 — Für ein oder zwei Minuten war ich wild entschlossen gewesen, ein Gründer zu werden, und zwar gestern Abend um kurz nach 22 Uhr. Ich war zum Briefkasten gelaufen, der nicht weit entfernt vom Haus, in dem ich lebe, an einer Wand befestigt ist. Ein Eichhörnchen, natürlich, begleitete mich. Es war sehr kalt, und plötzlich habe ich wahrgenommen, dass ich, wenn es mir möglich wäre, gern Briefe von Eis verschicken würde, hauchdünne Blätter gefrorenen Wassers, die man in kühlende Kuverts stecken und in alle Welt verschicken könnte. Eine wunderbare Vorstellung nachgerade, wie ein Mensch, dem ich einen Eisbrief gesendet habe, in der Küche vor seinem Eisschrank sitzt und meinen Brief für Sekunden studiert, um ihn dann rasch wieder in die Kälte zurückzulegen, damit er nicht verschwindet in der warmen Luft. Ich sollte also bald einmal jene besonderen Eispapiere, ihre Fabriken und Läden erfinden, und Kuverts, und Briefkästen, die wie Kühlschränke funktionieren. Wo man die Briefe sortiert, in einem Postamt, würde man in tiefgekühlten Räumen arbeiten, und alle diese Automobile, nicht wahr, die vereiste Briefware über das Land befördern. Ein Unternehmen dieser Art, wäre eine wirkliche Herausforderung, eine gute und sehr verrückte Sache, so dachte ich am gestrigen Abend. Kaum war ich wieder in meine Wohnung zurückgekehrt, war aus der Gründerzeit bereits eine Erfinderzeit geworden. Und wie ich in diesem Augenblick voller Freude im polaren Zimmer vor meinem Schreibtisch sitze, dampfender Atem, Stift in der Hand, Stift, der mit kaum noch hörbaren Pfeifen Zeichen in schimmernde Eispapierbögen fräst. Ich schreibe: Mein lieber Theodor, ich wollte Dir schon lange einmal einen Eisbrief notieren. Hier nun, wie versprochen, ist er endlich bei Dir angekommen. Ich hoffe, Du hast es schön kühl bei Dir. Wenn nicht, dann ist es sicher schon zu spät und Du kannst nicht lesen, was ich Dir aufgeschrieben habe, dass ich nämlich den Wunsch habe, bald einmal zwei oder drei Tage zu schweigen, um den Kopfstimmen stummer Menschen nachzuspüren. Ich könnte mich kurz vor Beginn meiner Stille verabschieden von Freunden: Bin telefonisch nicht erreichbar! Oder einen Notizblock besorgen, um Fragen für den Alltag zu verzeichnen, sagen wir so: Führen sie in ihrem Sortiment Hörgeräte für Engelwesen fingergroß? Eine Kärtchensammlung zu erwartender Wiederholungssätze weiterhin: Habe vorübergehend mein Tonvermögen verloren! – Es ist eine angenehme Nacht, lieber Theodor. Ich erinnerte einen Satz René Chars, den er in seiner Gedichtsammlung »Lob einer Verdächtigen” notierte. Er schreibt, es gebe nur zwei Umgangsarten mit dem Leben: entweder man träume es oder man erfülle es. In beiden Fällen sei man richtungslos unter dem Sturz des Tages, und grob behandelt, Seidenherz mit Herz ohne Sturmglocke. Dein Louis, ganz herzlich! — stop
Aus der Wörtersammlung: nämlich
teegedanken
~ : oe som
to : louis
subject : TEEGEDANKEN
date : dec 21 12 11.05 p.m.
Einige Tage und Nächte haben wir alle gemeinsam in der Werkstatt zugebracht. Noe konnte uns hören in der Tiefe, wir hatten unsere Mikrofone nicht ausgeschaltet, um ihn teilhaben zu lassen, an unserem Leben. Jetzt, lieber Louis, jetzt, da der Heilige Abend näher kommt, wird Noe melancholisch. Er fragte wieder nach seinen Eltern, ob seine Mutter und sein Vater noch lebten. Was sollen wir antworten? Was nur, verdammt, sollen wir antworten? Nichts als die Wahrheit? Wir wissen es nicht! Und so tun wir unser Bestes, Noe aufzuheitern. Benny Goodman spielt von der Konserve: Live at Carnegiehall. Noe liebt Benny Goodman seit Kindheitstagen. Weiterhin haben wir Noe in eine leichte, beruhigende Schwingung versetzt, er pendelt jetzt unter dem Schiff mit einer Amplitude von 20 Metern nach links und nach rechts. Indessen ahnt Noe nicht, was hier oben bei uns vor sich geht. Es ist nämlich so, dass wir unserem Taucher eine Überraschung bereiten werden. Eric, unser Maschinist, hatte die Idee, einen Weihnachtsbaum für Noe zu konstruieren, die Anmutung eines Weihnachtsbaumes genauer, der geeignet ist, in die Tiefe gelassen zu werden. Wir haben uns Mühe gegeben, der Baum ist hübsch geworden, drei Meter hoch, ein Gebilde aus Metall, das über einen Stamm und Äste verfügt. Da und dort haben wir Unterwasserfackeln befestigt, die wir von der Ferne zünden werden. Ein besonderer Abend, lieber Louis, steht bevor! Ob wir das Licht erkennen werden an der Oberfläche des Meeres? Was wird Noe sagen? Und wie werden die Fische, die großen und die kleinen Raubfische reagieren? — Es ist jetzt Freitag und spät. Ein Duft von Zimt, Gewürznelken und Kaffee strömt durch das Schiff. Am Montag werden wir uns ein paar junge Süßwasserwelse braten. Es geht alles also einen guten Weg. Vor Stunden noch zitierte Taucher Noe aus dem Gedächtnis einen weisen Satz, den der Philosoph Guido Ceronetti in seinen Teegedanken notierte. Noe sagte: Wenn ich wie ein Verlierer leben könnte, wäre ich es etwas weniger. — In diesem Sinne, lieber Louis: Ahoi! Dein OE SOM
gesendet am
22.12.2012
2065 zeichen
mululela
bamako : 3.05 — Habe in den vergangenen Wochen verschiedene Wörterbücher untersucht, insbesondere jene Sammlungen, die im Hintergrund zahlreicher Texteditoren heimliche Arbeit verrichten. Es ist so, dass auf der Ebene der Sprachen, Nachtmenschen in einem Wort existieren, aber nicht Tagmenschen. Das Wort Tagmensch wird sofort als nicht korrektes Wort ausgewiesen. Es scheint demzufolge für am Tage lebende Menschen möglich zu sein, andere, nämlich Menschen, die überwiegend in der Nachtzeit existieren, mit einem Wort zu kennzeichnen, während hingegen Nachtmenschen nicht möglich ist, jene Menschen, die die Nacht verschlafen, mit einem eindeutigen Wort zu bezeichnen. Das ist aus meiner Sicht zunächst seltsam, eine Übung, die sich vermutlich bald ändern wird, indem sich Lebensarten und Arbeitswelten der Menschen immer fort verdichten. — Flughafen. Leichter Schneefall. Es ist kurz vor drei Uhr. Eine riesige Antonow-Maschine rollt über das Flugfeld. Kein Laut zu hören vom Ungetüm, das doch fliegen kann. Wenigen Minuten zuvor erzählte mir Mululela, 24, Trainee aus Kamerun, dass sich das Leben in Deutschland doch sehr vom Leben in Afrika unterscheide. In ihrem Dorf, zum Beispiel, spaziere sie einfach los, wenn sie an jemanden denken würde, um diesen Menschen sofort zu besuchen. In Deutschland müsse man zunächst telefonieren, fragen, sich ankündigen. Überhaupt müsse man hier für alles, aber auch wirklich alles bezahlen, nur das Wasser in den Trinkbrunnen scheine kostenlos zu sein und die Luft zum Atmen. Ganz sicher sei sie sich in dieser Sache aber nicht! — stop
nachtgecko
alpha : 2.28 — Das Museum der Nachthäuser befindet sich am Shore Boulevard nördlich der Hell Gates Bridge befindet, die den New Yorker Stadtteil Queens über den East River hinweg mit Randilis Island verbindet. Ich weiß nicht, ob das Museum noch immer existiert, es war oder ist ein recht kleines Haus, rote Backsteine, ein Schornstein, der an einen Fabrikschlot erinnert, ein Garten, in dem verwitterte Apfelbäume stehen, und der Fluss so nah, dass man ihn riechen konnte. Während eines Spazierganges, zufällig, entdeckte ich dieses Museum, von dem ich nie zuvor hörte. Es war ein später Nachmittag, ich musste etwas warten, weil das Museum nicht vor Einbruch der Dämmerung öffnen würde, ein Museum für Nachtmenschen eben, die in Nachthäusern wohnen, welche erfunden worden waren, um Nachtmenschen artgerechtes Wohnen zu ermöglichen. Als das Museum dann endlich öffnete, war ich schon etwas müde geworden, und weil ich der einzige Besucher gewesen, führte mich ein junger Mann persönlich herum. Er war sehr geduldig, wartete, wenn ich wie wild in mein Notizbuch notierte, weil er spannende Geschichten erzählte von jenen merkwürdigen Gegenständen, die in den Vitrinen des Museums versammelt waren. Von einem dieser Gegenstände will ich kurz berichten, von einem metallenen Wesen, das mich an eine Kreuzung von Gecko und Spinne erinnerte. Das verrostete Ding war von der Größe eines Schuhkartons. An je einer Seite des Objekts saßen Beine fest, die über Saugnäpfe verfügten, eine Kamera thronte obenauf wie ein Reiter. Der junge Mann erzählte, dass es sich bei diesem Gerät um ein Instrument der Verteidigung handelte, aus einer Zeit, da Nachtmenschen mit Tagmenschen noch unter ein und demselben Hausdach wohnten. Das kleine Tier saß in der Vitrine in einer Haltung, als würde er sich ducken, als würde es jederzeit wieder eine Wand besteigen wollen. Das war nämlich seine vornehme Aufgabe gewesen, Zimmerwände zu besteigen in der Nacht, sich an Zimmerdecken zu heften und mit kleinen oder größeren Hammerwerkzeugen Klopf- oder Schlaggeräusche zu erzeugen, um Tagmenschen aus dem Schlaf zu holen, die ihrerseits wenige Stunden zuvor noch durch ihre erbarmungslos harten Schritte den Erfinder der Geckomaschine, einen Nachtarbeiter, aus seinen Träumen gerissen haben mochten. Es war, sagte der junge Mann, immer so gewesen damals in dieser schrecklichen Zeit, dass sich Tagmenschen sicher fühlten vor Nachtmenschen, die unter ihnen lebten, die mit Schritten Zimmerdecken ihrer Wohnung niemals erreichten. Aus und fini! - stop
muscheln
nordpol : 6.36 — Ich hatte einen lustigen Traum. In diesem Traum saß ich mit einem jungen Mann in einem Café. Ich erinnere mich, dass wir uns über Charlie Parker unterhielten, während ich beobachtete, wie sich die Ohren des jungen Mannes sanft bewegten, so als würden sie über hunderte Muskeln verfügen, Lebewesen mit je einer Seele und eigenem Willen sein. Sie entfalteten sich vor meinen Augen, schirmten aus zur Größe einer Untertasse, dann wieder kehrten ihre Muschelränder zueinander zurück, die Ohren des jungen Mannes wurden zu Knospen, sie sahen jetzt aus, als würden sie schlafen. Aber das war noch nicht alles gewesen, was ich träumte. Der junge Mann hatte nämlich seine Ohrmuscheln bald so dicht zueinander gefaltet, dass er sie in seinen Schädel einführen konnten, sie waren nun vollständig im Kopf verschwunden. Meine Ohren schlafen, sagte der junge Mann und lachte. Aber dann wurde er schnell wieder ernst, weil eine seiner Ohrmuscheln sich verklemmt hatte, während das andere Ohr bereits aus seinem Gehörgangetui hervorgekommen war. stop. Freitag. stop. Die Luft riecht Schnee. stop. Nichts weiter. — stop
indulin
charlie : 2.12 — Der Versuch in den vergangenen Minuten, Farben zu erinnern, die ich in der Sixtinischen Kapelle vor zwei Wochen noch beobachtet habe. Es ist merkwürdig, diese Farben, die doch von meinen persönlichen Augen aufgenommen wurden, sind in dieser Nacht nur sehr flüchtig verfügbar. Da ist zunächst ein intensives BLAU, ein Wort, wie das Wort BLAU in einer Geschichte der katalanischen Schriftstellerin Mercè Rodoreda, deren Existenz mir wieder in den Sinn gekommen ist: Sie ist weiß und sie ist blau. Das heißt, sie ist weiß wie die weiße Rose, und ganz plötzlich wird sie blau. Ein Insekt färbt sie, so scheint es, aber niemand weiß, wie es das macht. Ein Augenblick der Zerstreutheit und schon ist sie blau. Dieses Insekt trägt in einem Knie, mit fädigem Speichel festgenäht, ein Päckchen, und in diesem Päckchen, umgeben von Eiern und von Blau – reinstes Indulin – ist der Ehemann. Dieser Ehemann schläft den ganzen Tag und bebrütet die Eier, die durch ein Loch in das Päckchen fallen, das in dem Knie ist, woran es festgenäht ist. Wenn die Stunde kommt, kriecht das Insekt der Blume ins Herz, lädt das Päckchen ab, und die weiße Blume wird blau von oben bis unten. Sie sagen: – Oh, es ist nämlich so, daß der Ehemann, sobald er sich blumenumhüllt sieht, das Päckchen aufbricht und alles von blauem Saft überschwemmt wird und die Eier platzen und die Kleinen sofort losfliegen, jedes mit seinem Päckchen im Knie … einverstanden. Aber das sind bloße Vermutungen. Die Wahrheit ist, daß die Blume in einem Nu blau wird. Wie? Dahinter kommt man nie, und jedermann ist ein bißchen durcheinander und verwirrt. — stop
giuseppi logan
himalaya : 6.45 — Vor zwei oder drei Monaten habe ich eine Geschichte gelesen, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten bei einem Erdbeben verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf die Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine sehr kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er-Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeulten Saxofon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. — stop
roman opalka
lima : 0.05 — Sobald ich mich in meiner Wohnung aufhalte, begegne ich mehrfach täglich einer Fotografie, die Roman Opalka bei der Arbeit zeigt. Manchmal bleibe ich vor ihr stehen und freu mich über das Projekt der Zahlen, dem der Künstler bis an sein Lebensende folgte. Ich notierte: Eines Tages im Jahre 1965, vielleicht an einem Samstag, vielleicht an einem Sonntag, ich konnte schon laufen und hatte gelernt, mir die Schuhe zu binden, nahm Roman Opalka den kleinsten seiner verfügbaren Pinsel in die rechte Hand und malte mit titanweißer Farbe das Zeichen 1 auf eine schwarz grundierte Leinwandfläche. Bevor er diese erste Ziffer malte, fotografierte er sich selbst. Er war gerade 34 Jahre alt geworden, und als er etwas später seine Arbeit unterbrach, – er hatte weitere Ziffern, nämlich eine 2 und eine 3 und eine 4 auf die Leinwand gesetzt -, fotografierte er sich erneut. Er war nun immer noch 34 Jahre alt, aber doch um Stunden, um Ziffern gealtert. Auch am nächsten und am übernächsten Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr wurde er älter, in dem er Ziffern malte, die an mathematischer Größe gewannen. Wenn eine Leinwand, ein Detail (196 × 135 cm), zu einem Ende gekommen war in einer letzten Zeile unten rechts, setzte er fort auf einer weiteren Leinwand oben links, die um eine Lichtspur heller geworden war, als die Grundierung des Bildes zuvor. Bald sprach er Zahl für Zahl lauthals in die Luft, um mit seiner Stimme auf einem Tonband die Spur seiner Zeichen zu dokumentieren. – In unserer Zeit, heute, ja, sagen wir HEUTE, oder nein, sagen, wir morgen, ja, sagen wir MORGEN, wird Roman Opalka mit weißer Farbe auf weißen Untergrund malen, Ziffern, die nur noch sichtbar sind durch die Erhebung des Materials auf der Oberfläche des Details. Der Betrachter, stelle ich mir vor, muss das Bild von der Seite her betrachten, um die Zeichen in ihren Schatten erkennen zu können. — Am 6. August 2011 ist der Maler Roman Opalka in Rom gestorben. Seine letzte auf eine Leinwand gesetzte Ziffer war folgende gewesen: 5607249. — stop
raumzeitstelle
olimambo : 6.55 — Ich habe äußerst merkwürdig geträumt. Ich meinte, im Traum mich wiederum an einen Traum erinnert zu haben, in dem faltenlose Elefanten vorgekommen waren. Kaum wach geworden, suchte ich nach Spuren dieses Traumes in meinen Notizen und wurde bald fündig. Ich hatte tatsächlich am 23. August des vergangenen Jahres von einem Traum berichtet, in dem faltenlose Elefanten in Erscheinung traten. Als ich den kleinen Text aus dem Elefantenhaus damals verfasste, muss ich noch recht müde gewesen sein, weil ich seine Existenz beinahe vollständig vergessen habe und damit eben jenes Elefantenhaus, das kein gewöhnliches Elefantenhaus gewesen war, vielmehr ein Ort, den sehr seltsame Elefanten bewohnten. Das waren nämlich Elefanten ohne jede Falte, sie waren so glatt, als wären sie von Glas geblasen, helle Augen, die sich flink bewegten, peitschende kleine, faltenlose Schwänze, lautlos schwingende, faltenlose Rüssel, riesige haarlose Körper, grau, braun, rosa. Ich saß auf einer Bank in ihrer Nähe. Vögel stürmten unter dem Kuppeldach hin und her. Sobald sie versuchten sich auf dem Rücken eines der Elefantentiere niederzulassen, rutschten sie ab und landeten auf dem Boden. Ein weiterer Vogel saß auf meiner Schulter. Der Vogel war mit einem meiner Ohren beschäftigt, hackte kleinere Portionen aus der Muschel, knurrte zufrieden vor sich hin. Sobald das Ohr, um das sich der kleine Vogel bemühte, verschwunden war, holte ich aus meiner Hosentasche ein neues Ohr, befestigte das Ohr an meinem Kopf, und schon fraß der kleine Vogel weiter vor sich hin. Einmal kostete ich heimlich von einem der Ohren, die sich in meiner Hosentasche befanden. Schmerzen hatte ich keine. – Von wem habe ich das feine Wort Raumzeitstelle gehört? — stop
doppellunge
~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : DOPPELLUNGE
Heute, liebe Daisy, liebe Violet, als ich im Park spazierte, hab ich an Euch gedacht. Das war nämlich so gewesen, dass ich wieder einmal übte, im Wandern die Luft anzuhalten. Ich versuchte 100 Meter weit zu kommen, langsam, sehr langsam, dann etwas schneller gehend. Es ist möglich, heute endlich ist es möglich geworden. Plötzlich fragte ich mich, welche Wirkungen die Übung des Luftanhaltens bei Euch früher einmal gezeitigt haben könnte. Ich überlegte, ob ihr Euch über das Luftanhalten verständigt haben würdet. Es ist immerhin denkbar, dass das Anhalten der Luft in Euerem Falle, bei der einen wie der anderen eine gewisse Kurzatmigkeit hervorgerufen haben müsste. Vielleicht werdet Ihr Euch erinnern? Wenn ja, dann gebt mir recht bald Bescheid. Ich arbeite zurzeit sehr hart in diesen Dingen. Vor einigen Tagen habe ich mir eine Passage der Kleinen Erinnerungen José Saramago’s laut vorgelesen, und zwar in der Art und Weise langsamen Ausatmens. Das ist folgendermaßen vorzustellen: Ich fasste das erste Wort der ersten Zeile des kleinen Textes ins Auge, schöpfte Luft so tief ich konnte und begann zu lesen. Ich sprach zunächst laut: Manchmal frage ich mich, ob bestimmte Erinnerungen wirklich meine eigenen sind oder vielleicht eher fremde, in denen ich unbewusst mitgespielt habe. Ich las so lange ich konnte, ich las, ohne zu atmen, ich las, bis ich alle Luft verloren hatte. Im ersten Versuch kam ich 11 Zeilen weit. Das war natürlich nicht befriedigend. Also setzte ich noch einmal von vorn an, ich hatte eine entspannte Position des Sitzens eingenommen und füllte meine Brust mit Luft und begann zu sprechen. Dieses Mal las ich mit leiser Stimme, wie geflüstert. Ich kam exakt 1 Zeile, also 55 Zeichen weiter. Kurz darauf war zu beobachten gewesen, wie ich mich rücklings auf mein Sofa legte und denselben Text noch einmal hauchte. Das liegende atemlose Lesen ermöglichte nun eine weitere Zeile a 55 Zeichen. Ich machte also kleine Fortschritte in dieser Kunst des Lesens, ich vermochte bald die Zeile 14 des kleinen Textes zu erreichen in einem Zustand, da ich Wort für Wort noch mitdenken konnte. Nach einer Stunde des Übens hörte ich für diese Nacht auf, um in der kommenden Nachtzeit fortzufahren. — Herzlichst grüßt Euch Euer Louis. Ahoi! – stop
gesendet am
10.07.2012
22.01 MESZ
2252 zeichen