Aus der Wörtersammlung: net

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ein mädchen

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alpha : 17.15 UTC — Auf dem Heim­weg begeg­ne­te ich in der Nähe einer Kreu­zung einem Mäd­chen namens Lara, das ich sofort wie­der­erkann­te. Lara stand auf der Stra­ße und zeich­ne­te mit­tels eines Putz­ge­rä­tes Her­zen von Sei­fe auf die Front­schei­ben schnur­ren­der Auto­mo­bi­le. Ver­mut­lich ver­such­te sie in die­ser Wei­se einen Kon­takt zu Per­so­nen her­zu­stel­len, die in den Limou­si­nen war­te­ten, um einen Auf­trag zur Säu­be­rung der Fahr­zeug­schei­ben ins­ge­samt zu erhal­ten. Lara war nicht sehr erfolg­reich, aber eben­so ent­schlos­sen und char­mant, wie vor Jah­ren noch, als sie ver­sucht hat­te, im Bahn­hof mein Porte­mon­naie zu rau­ben. Eigent­lich soll­te Lara um die­se Uhr­zeit in der Schu­le sein. Plötz­lich bemerk­te sie, dass sie beob­ach­tet wur­de, sie lächel­te zunächst, blick­te dann aber äußerst grim­mig in mei­ne Rich­tung, nicht etwa, weil sie in mir unmit­tel­bar eines ihrer frü­he­ren Opfer erkann­te, son­dern ver­mut­lich des­halb, weil sie in mei­nem Blick etwas ent­deck­te, das sie an frü­he­re Tätig­keits­fel­der erin­ner­te. Also flüch­te­te sie mit­tels ele­gan­ter Sprün­ge über zwei Motor­hau­ben hin­weg zur gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te hin. Dort dreh­te sie sich um und lächel­te. — stop

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kaktusblüte

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nord­pol : 18.52 UTC — Ein Zufall führ­te mich in einem Moment zu Herrn K., als er gera­de zum ers­ten Mal sein neu­es Büro­zim­mer betrat. Er führ­te einen Kar­ton mit sich, nicht grö­ßer als eine Schuh­schach­tel. Aus die­sem Behält­nis hob er eine Note­book­schreib­ma­schi­ne, ein Mäpp­chen mit Blei­stif­ten, eine far­bi­ge Foto­gra­fie sowie einen Kak­tus, der blüh­te. Herr K. prüf­te die Schub­la­den des Schreib­ti­sches, der zu dem klei­nen Zim­mer mit Aus­blick auf einen Park gehör­te, sie waren leer. Sei­nen Kak­tus stell­te er auf die Fens­ter­bank, die Foto­gra­fie neben ein Tele­fon, das sich bereits im Zim­mer befun­den hat­te, ehe Herr K. ein­ge­tre­ten war. Er setz­te sich auf einen Stuhl und sag­te: Wis­sen Sie, mehr brau­che ich nicht. Das soll­ten Sie immer beden­ken, nur nie­mals hei­misch wer­den, nur nicht glau­ben, dass Ihnen die­ses Büro gehört. Im Gegen­teil, Sie selbst gehö­ren die­sem Zim­mer wie jeder ande­re, der nach Ihnen an die­ser Stel­le arbei­ten wird. Wer in und von die­sem Zim­mer aus ope­riert, muss sich bewusst sein, dass er jeder­zeit eben­so plötz­lich wie er gekom­men ist, auch wie­der gehen wird. In die­ser Pos­ti­on, die Sie hier oben beklei­den, haben Sie Erfolg oder sie haben kei­nen Erfolg. Bin­den Sie sich also nicht, arbei­ten Sie kon­zen­triert und genie­ßen Sie die Aus­sicht, aber, um Him­mels wil­len, füh­len Sie hier nie­mals zu Hau­se! — Die­se Geschich­te ereig­ne­te tat­säch­lich an einem Frei­tag im Juli des ver­gan­ge­nen Jah­res. — stop

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nachtfaltung

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sier­ra : 20.22 UTC – Etwas Merk­wür­di­ges hat sich ereig­net. Ich will das schnell erzäh­len. Es ist näm­lich so, dass ich einer Figur, die in einem Text­ge­sche­hen exis­tiert, vor Mona­ten ein­mal, ich glau­be im Novem­ber bereits, einen Namen gege­ben habe, wel­cher dun­kel leuch­tet, ein mäch­ti­ger, unheim­li­cher Name. Es han­delt sich um die Zei­chen­fol­ge Man­drill. Immer wie­der ein­mal erzähl­te ich in der lang­sa­men Ent­wick­lung des Tex­tes von einem Mann die­ses Namens. Als Man­drill ges­tern unver­mit­telt in einer Wei­se han­del­te, die ich nicht erwar­tet hat­te, zart und ein­fühl­sam, schmerz­te der Name, als hät­te ich mei­ner Figur Unrecht getan. Heu­te Mor­gen war die wil­de Ver­wer­fung, die ich ges­tern noch spür­te, wie­der schön gefal­tet. Ich trat ans Fens­ter im ers­ten Licht der Son­ne, der Him­mel war voll Was­ser­dampf­spu­ren, wel­che Nacht­fern­flü­ge an den Him­mel zeich­ne­ten. Kein Mensch auf der Stra­ße, aber zwei Eich­hörn­chen, die auf einem Brief­kas­ten saßen. Das habe ich noch nie so gese­hen, ges­tern noch hät­te ich behaup­tet, Eich­hörn­chen wür­den nie­mals auf Brief­käs­ten sit­zen. Deniz Yücel wei­ter­hin in Haft. — stop

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von rechenkernen

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lima : 18.12 UTC — Apfel­kern. Man­del­kern. Rechen­kern. — Ich stell­te mir vor, wie ich mit feins­ten Werk­zeu­gen einen Kirsch­kern öff­ne, wie ich in der Kirsch­kern­höh­le ein gefal­te­tes Blatt Papier able­ge, auf dem mit kleins­ten Schrift­zei­chen ein Gedicht ver­zeich­net wur­de. Wie ich nun den Kern ver­schlie­ße, wie ich ihn zurück­le­ge in sei­ne Frucht, wie ich jetzt zufrie­den und glück­lich bin. — Oder die Vor­stel­lung der Rechen­ker­ne eines Pro­zes­sors. Wie ein oder zwei Roman­ent­wür­fe mög­li­cher­wei­se heim­lich in ihren Regis­ter­wer­ken ver­steckt sein könn­ten, kurio­se Idee. Das habe ich mir aus­ge­dacht, weil ich ges­tern Abend hör­te, dass Rechen­ker­ne für mathe­ma­tisch-logi­sche Sprach­ein­drü­cke zu jeder Zeit emp­fäng­lich sind. Dar­über soll­te unbe­dingt wei­ter nach­ge­dacht wer­den. — stop
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anjuta

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ulys­ses : 5.25 UTC — Es ist Mon­tag, frü­her Mor­gen, und die Vögel pfei­fen. Ich bin noch nicht ganz wach, ich habe gut geschla­fen, ich hat­te einen lus­ti­gen Traum: In die­sem Traum war ich ver­sucht, Anton Tschechow einen Brief zu schrei­ben. Tat­säch­lich habe ich mich im Traum an mei­ne Schreib­ma­schi­ne gesetzt und notiert: Lie­ber Mr. Tschechow, ges­tern las ich eine trau­ri­ge Geschich­te, die Sie ein­mal auf­ge­schrie­ben haben. Sie erin­nern sich viel­leicht an Anju­ta?  Sie leb­te in der Pen­si­on Lis­sa­bon mit einem Stu­den­ten der Medi­zin in einem schmut­zi­gen Cha­os. Eigent­lich woll­te ich nach­le­sen, wie Sie vom ana­to­mi­schen Stu­di­um berich­ten, vom Ler­nen oder Pau­ken, eine Ärz­tin hat­te mich auf ihre Geschich­te auf­merk­sam gemacht. Was mich dann sehr berühr­te, war das Mäd­chen Anju­ta selbst, ihre Geduld oder Duld­sam­keit, wie trau­rig, wie sie als mensch­li­cher Gegen­stand ange­se­hen und behan­delt wur­de, eine gute Geschich­te! Es ist noch etwas Wei­te­res gesche­hen, ich erin­ner­te mich im Traum ein­mal, vor eini­gen Jah­ren, Ihre gesam­mel­ten Erzäh­lun­gen, Novel­len, Thea­ter­stü­cke, Essays in digi­ta­ler Spur aus dem Inter­net gela­den zu haben, 19657 Posi­tio­nen. Ich bemerk­te damals, dass es tatsäch­lich mög­lich ist, für den Preis einer Pista­zien­eis­kugel Joseph Roths Gesam­melte Wer­ke auf ein Paperw­hite – Lese­gerät zu holen. James Joy­ces Ulys­ses kos­tet soviel wie kei­ne  Eis­ku­gel. Vir­gi­nia Wool­fes Mrs. Dal­lo­way eine hal­be Kugel. Ihre, Anton Pawlo­witsch Tsche­chows Kurz­ge­schichten, Novel­len, Dra­men wie­der­um eine voll­stän­dige Kugel / Down­loadrei­se­zeit : 5,2 Sekun­den. Sehr beun­ru­hi­gend, wie ich fin­de. Gleich wer­de ich auf­wa­chen, ich wer­de einen Cap­puc­ci­no trin­ken, und dann wer­de ich Ihnen die­sen Brief, den ich träum­te, notie­ren an einem frü­hen Mor­gen bald, wenn Mon­tag sein wird bei leich­tem Regen, und die Vögel pfei­fen. — stop

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ai : HAITI

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MENSCHEN IN GEFAHR: „Die Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger David Boni­face und Juders Yse­mé fürch­ten nach dem plötz­li­chen Tod ihres Kol­le­gen Nis­sa­ge Mar­tyr um ihr Leben. Nis­sa­ge Mar­tyr starb einen Tag, nach­dem die drei in den USA gegen Jean Moro­se Vili­ena, den ehe­ma­li­gen Bür­ger­meis­ter ihrer Hei­mat­stadt in Hai­ti, Kla­ge wegen schwe­rer Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen ein­ge­reicht hat­ten. Die Män­ner berich­ten seit 2007 von wie­der­hol­ten Mord­dro­hun­gen und Angrif­fen durch den ehe­ma­li­gen Bür­ger­meis­ter. Sie müs­sen daher ange­mes­se­nen Schutz erhal­ten. / Am 22. März reich­ten David Boni­face, Juders Yse­mé und Nis­sa­ge Mar­tyr Kla­ge gegen Jean Moro­se Vili­ena, den ehe­ma­li­gen Bür­ger­meis­ter ihrer Hei­mat­stadt Les Irois im Süd­wes­ten von Hai­ti, bei einem Bun­des­ge­richt in Bos­ton im Nord­os­ten der USA ein. Die Kla­ge wur­de in den USA ein­ge­reicht, weil Jean Moro­se Vili­ena Anfang 2009 in die USA geflo­hen war, nach­dem die hai­tia­ni­schen Behör­den wegen des Mor­des an David Boni­faces Bru­der im Jahr 2007 und eines Angriffs auf den Gemein­de­ra­dio­sen­der im Jahr 2008 ein Straf­ver­fah­ren gegen ihn ein­ge­lei­tet hat­ten. Bei die­sem Angriff ver­lor Nis­sa­ge Mar­tyr ein Bein und Juders Yse­mé ein Auge. Die drei Män­ner wer­fen Jean Moro­se Vili­ena vor, dass er für eine Rei­he von Angrif­fen gegen sei­ne Kritiker_innen ver­ant­wort­lich ist, dar­un­ter “Brand­stif­tung”, “außer­ge­richt­li­che Hin­rich­tun­gen”, “ver­such­te außer­ge­richt­li­che Hin­rich­tung”, “Fol­ter” und “Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit”. Die Ver­bre­chen wur­den auf sei­ne Anwei­sung hin von einer bewaff­ne­ten Grup­pe ver­übt, die mit sei­ner poli­ti­schen Par­tei in Ver­bin­dung steht. Am 24. März 2017, einen Tag nach­dem die Kla­ge gegen Jean Moro­se Vili­ena ein­ge­reicht wor­den war, erkrank­te Nis­sa­ge Mar­tyr plötz­lich schwer und starb auf dem Weg ins Kran­ken­haus von Les Irois. Sei­ne Fami­lie gibt an, dass er zuvor ganz gesund war. Mit Hil­fe ihrer Rechts­bei­stän­de for­dert die Fami­lie eine sofor­ti­ge unab­hän­gi­ge Aut­op­sie und umfas­sen­de Unter­su­chun­ge sei­nes Todes. Die ört­li­che Staats­an­walt­schaft hat zwar die Aut­op­sie geneh­migt, doch bis jetzt kei­ne Unter­su­chung auf­ge­nom­men. / David Boni­face und Juders Yse­mé sind Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger und wer­den als Unter­stüt­zer der Par­tei Orga­ni­sa­ti­on du Peu­ple en Lut­te, einer Oppo­si­ti­ons­par­tei in Hai­ti, betrach­tet. Seit 2007 berich­ten die bei­den Män­ner und Nis­sa­ge Mar­tyr, dass Jean Moro­se Vili­ena und sei­ne Ver­bün­de­ten ihnen Mord­dro­hun­gen schi­cken und sie tät­lich angrei­fen und ver­sucht haben, sie zu töten, weil sie ihre legi­ti­me Arbeit als Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger aus­füh­ren. Im Zuge des­sen haben sie das ers­te Gemein­de­ra­dio initi­iert sowie die straf­recht­li­che Ver­fol­gung von Jean Moro­se Vili­ena und sei­nen Ver­bün­de­ten ange­strebt, um der Gewalt in der Gemein­de ein Ende zu berei­ten. 2015 gewähr­te die Inter­ame­ri­ka­ni­sche Men­schen­rechts­kom­mis­si­on den drei Män­nern und ihren Fami­li­en Schutz­maß­nah­men, um ihre Sicher­heit zu gewähr­leis­ten. David Boni­face und Juders Yse­mé berich­te­ten Amnes­ty Inter­na­tio­nal, dass die hai­tia­ni­schen Behör­den auf­grund der gras­sie­ren­den Straf­lo­sig­keit im Land jedoch nichts unter­nom­men hät­ten, um die­sen Maß­nah­men Fol­ge zu leis­ten. Die bei­den Män­ner sind nach Nis­sa­ge Mar­tyrs Tod mit ihren Fami­li­en aus Les Irois geflo­hen, da sie um ihre Sicher­heit fürch­ten. Sie gaben an, dass der ein­zi­ge Weg zu Gerech­tig­keit ihre Aus­sa­ge gegen Jean Moro­se Vili­ena sei, doch dass sie ohne ange­mes­se­nen Schutz fürch­ten, getö­tet zu wer­den, noch ehe sie ihre Aus­sa­ge machen kön­nen.“ — Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen sowie emp­foh­le­ne schrift­li­che Aktio­nen, mög­lichst unver­züg­lich und nicht über den 24. Mai 2017 hin­aus, unter »> ai : urgent action

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morgenstaubgeschichte

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ulys­ses : 12.22 UTC — Was für ein schö­ner Sonn­tag. Das noch tief ste­hen­de Licht der Son­ne, die am frü­hen Mor­gen in den Zen­tral­bahn­hof leuch­tet, als wür­de sie immer dort in genau die­ser Höhe von Osten her durch die Fens­ter schei­nen. Eine Son­ne nur für die­sen Ort. Da ist fei­ner Rauch­staub, der aus einem Laden her­aus durch die Hal­le schwebt. Die Rau­cher rau­chen, indes­sen sie neue Rauch­wa­ren besor­gen. Bit­ter schme­cken­de Holz­pa­pier­luft. So muss das geduf­tet haben, genau so oder so ähn­lich, ohne moder­ne Par­fü­me, wenn unter den Hafen­him­meln des 16. Jahr­hun­derts, nach lan­ger Fahrt, die Bäu­che der Han­dels­schif­fe geöff­net wur­den. Die Ent­zün­dung des getrock­ne­ten, des weit gereis­ten Mate­ri­als vor der Mund­öff­nung eines Euro­pä­ers führ­te zu einem Vor­gang, den man zunächst als die Sau­fe­rei des Nebels bezeich­ne­te, als Rauch- oder Tabakt­rin­ken. Ja, was für ein schö­ner Sonn­tag. Ich gehe zu unge­wohn­ter Zeit mit Tag­au­gen durch mei­ne Stadt, als wür­de ich durch Brook­lyn spa­zie­ren. — stop

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eine frau

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del­ta : 12.22 UTC — Eine Frau sitzt neben einem Tisch auf einem har­ten Stuhl. Ihr rech­ter Arm liegt auf dem Tisch, eine Ärz­tin misst den Blut­druck. Es ist still in dem Zim­mer in die­sem Augen­blick. Nur das Moto­ren­ge­räusch des Mess­ge­rä­tes, das Luft in eine Man­schet­te pumpt, die um den Arm der Frau gelegt wur­de, brummt als hock­te ein gro­ße träu­men­de Flie­ge unter dem Tisch. Dann ist die Flie­ge plötz­lich still und die Ärz­tin notiert eini­ge Zah­len und nickt mir zu, ohne etwas zu sagen. Als ich mich zu der Frau set­ze, weicht sie auf dem Stuhl kaum merk­lich zurück. Ich fra­ge: Wol­len Sie viel­leicht Tee? — Die Frau schüt­telt den Kopf und lächelt. Darf ich Ihnen ein oder zwei Fra­gen stel­len? — Wie­der lächelt die Frau. Sie ist scheu. Aber sie will nicht zei­gen, dass sie scheu ist, so könn­te das sein. Ein selt­sa­mer Moment, alles im Zim­mer scheint zu schwe­ben, der Tisch, die Stüh­le, die Men­schen. Ich weiß, dass die Frau, deren Blut­druck gemes­sen wur­de, aus der Fer­ne gekom­men ist, so fern ist das Land, von dem sie gekom­men ist, dass ein Jahr ver­ge­hen wür­de, ehe man die­ses Land zu Fuß erreich­te. Es ist ein Wun­der, dass sie mei­ne Spra­che ver­steht, immer wie­der den­ke ich, wie gut, dass Men­schen in der Lage sind, die Spra­chen ande­rer Men­schen zu erler­nen. Und wie sie jetzt lächelt, ich mei­ne, noch nie zuvor ein der­art muti­ges Lächeln gese­hen zu haben, wäh­rend die Ärz­tin etwas getrock­ne­tes Blut von ihrem Hals tupft. Behut­sam wird eine klei­ne Wun­de ver­sorgt, die unter dich­tem Haar im Ver­bor­ge­nen liegt. Die Ärz­tin nimmt sich viel Zeit, sie geht hin­ter der ver­letz­ten Frau in die Hocke und beginnt lei­se zu spre­chen. Sie sagt: Das ist merk­wür­dig! Und noch ein­mal sagt sie: Das ist merk­wür­dig. Wie sie sich wie­der auf­rich­tet, macht sie ein sehr erns­tes Gesicht. Bald kniet sie vor der ver­letz­ten Frau auf dem Boden, nimmt eine Hand der Frau und drückt sie fest: Machen sie sich kei­ne Sor­gen, das ist nur eine klei­ne Wun­de, die Blu­tung ist längst gestillt. Die Ärz­tin, die etwas schwitzt, sieht der mutig lächeln­den Frau in die Augen. Plötz­lich fragt sie: Sind Sie geschla­gen wor­den? Sofort nickt die Frau, ihr Gesicht scheint zu leuch­ten, und noch ein­mal nickt sie und sagt mit hel­ler Stim­me: Ja. Und die Ärz­tin fragt: Sie wis­sen, von wem sie geschla­gen wur­den?Ja, ant­wor­tet die Frau ein zwei­tes Mal, das weiß ich. Die Ärz­tin erhebt und wen­det sich wie­der dem Ort zu, da die Frau am Kopf ver­letzt wur­de. Erneut geht sie in die Hocke und betrach­tet die Ver­let­zung auf das Genau­es­te. Behut­sam fährt sie der Frau über das Haar, sie scheint eine wei­ter­füh­ren­de Unter­su­chung vor­zu­neh­men. Und wie sie so arbei­tet, schließt die ver­letz­te Frau ihre Augen, als woll­te sie viel­leicht ver­ber­gen, was sie fühl­te. So, mit geschlos­se­nen Augen, sagt sie plötz­lich mit fes­ter Stim­me: Ich wür­de doch ger­ne einen Tee trin­ken!Das ist gut, ant­wor­te ich und ste­he auf. Die Ärz­tin ist indes­sen mit ihrer Unter­su­chung zu Ende gekom­men, sie setzt sich auf den frei­ge­wor­de­nen Stuhl und stellt mit nüch­ter­ner Stim­me fest: Sie sind nicht zum ers­ten Mal geschla­gen wor­den! — Die Frau nickt wort­los. Und die Ärz­tin sagt: Sie sind oft geschla­gen wor­den! Immer wur­den Sie auf den Kopf geschla­gen, kann das sein? — Wie­der nickt die Frau und beginnt zu wei­nen. — stop

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nachtzug nach douala

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tan­go : 7.15 UTC — Akos­si­wa, die ihr jun­ges Leben über­wie­gend in der Stadt Yaoun­dé ver­brach­te, erklär­te wäh­rend eines Gesprä­ches im Zug, Tie­re, die ich als wil­de Krea­tu­ren bezeich­ne­te, Affen, sagen wir, Löwen, Anti­lo­pen, wür­den in ihrem Hei­mat­land im zen­tra­len Zoo der Haupt­stadt leben. Man kön­ne sie dort besu­chen, man müs­se sich nicht fürch­ten, aller­dings wür­de der Besuch Ein­tritt kos­ten. Erst ein­mal musst Du über­haupt nach Kame­run flie­gen. Du fliegst, sagt Akos­si­wa, am bes­ten über Paris oder Ams­ter­dam nach Yaoun­dé, das ist über­haupt kein Pro­blem. Ich hat­te Akos­si­wa eine dra­ma­ti­sche Vor­stel­lung ihres Lan­des skiz­ziert, in der ver­mut­lich wirk­li­che wil­de Tie­re natür­li­cher­wei­se auch jen­seits der Natur­re­ser­va­te exis­tie­ren. Kurz dar­auf ent­wi­ckel­te sich ein auf­re­gen­des Gespräch über Wahr­neh­mung, Wirk­lich­keit und Pro­jek­ti­on einer­seits, ande­rer­seits über die Exis­tenz wie­der­um der nie­der­bay­ri­schen Auer­häh­ne in mei­nem per­sön­li­chen Leben. Eine Zug­fahrt von Ngaoun­dé­ré nach Dou­a­la sei reiz­voll, berich­te­te Akos­si­wa, es exis­tie­re auch eine Nacht­zug­ver­bin­dung, die wür­de sie aber nicht emp­feh­len: Weil Du nichts siehst! — stop

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von gedankenlichtern

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bamako : 22.01 UTC — Vor weni­gen Tagen spa­zier­te ich an einem spä­ten Nach­mit­tag in einem Gar­ten. Da ist etwas Merk­wür­di­ges gesche­hen. Wäh­rend ich sehr lang­sam Schritt für Schritt vor­wärts, seit­wärts oder rück­wärts ging, begann ich zu erzäh­len, Geschich­ten wie Blü­ten in mei­nem klei­nen Kopf. Kaum hat­te ich eine Geschich­te zu Ende erzählt, waren wei­te­re Geschich­ten aus den Wör­tern bereits gewach­sen, die sich öff­ne­ten, die erzählt wer­den woll­ten, hel­le oder dunk­le­re Geschich­ten wie Lebe­we­sen, und ich dach­te noch, wie das so geht, wie die Geschich­ten kom­men und gehen, Erin­ne­run­gen, als woll­te sich plötz­lich mein hal­bes Leben erzäh­len. So, im Erzäh­len im lang­sa­men Gehen, habe ich die Zeit ver­ges­sen. Der Flug der Tau­ben­schat­ten vor dem Abend­him­mel, die vom Luft­glück der Vögel erzähl­ten. Ich hör­te von Gedan­ken­lich­tern, von glim­men­den Tas­ta­tu­ren. Seit zwei Tagen sit­ze ich immer wie­der ein­mal ganz still und ver­su­che mir Gedan­ken vor­zu­stel­len, die par­al­le­le Gedan­ken sind, Gedan­ken zur sel­ben Zeit. Ich befin­de mich sozu­sa­gen auf der Suche nach Gedan­ken, die viel­leicht stimm­los, aber voll Licht sind, Gedan­ken wie Bil­der, die sich in der­sel­ben Zeit bewe­gen? Jetzt habe ich einen klei­nen Kno­ten im Kopf. — stop
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