alpha : 2.05 Hörte im Bildschirmgespräch Thomas Bernhard wieder sagen: Alles ist immer wirklich, es gibt nichts Erfundenes. Froh bin ich über diesen Satz. Nach Selbstbeobachtung scheint in meiner erzählenden Welt ein Zeitannäherungswerk zu existieren, das nach Entdeckung zunächst arbeiten muss im Kopf. Ich habe gestern unter anderem den Versuch eines Mannes notiert, eine Biene von Stein zu fabrizieren, ein soziales Wesen, das in der Lage sein sollte, sich in die Luft zu erheben. Diese Vorstellung war mir zunächst fremd gewesen, mein eigener Gedanke. Als ich dann nach zwei Stunden von einem Spaziergang an den Schreibtisch zurückkehrte, war mir der Mann und sein Unternehmen so vertraut geworden, als würde er in einer benachbarten Wohnung leben, ich würde ihn besucht haben und über die Schulter geschaut, wie er etwas Felsspat mit einem Meißelchen behutsam fächert, dass es als Flügelteilchen bald einmal durch die Luft segeln könnte. Es scheint vielleicht so zu sein, dass sich meine Wirklichkeit zunächst mittels einer Wörterzunge vorsichtig in unbekannte Räume tastet. — Vier Uhr zwei in Homs, Syria. — stop

Aus der Wörtersammlung: not
ein ballon
echo : 6.22 — Ein Vogel, ein Sperling, sitzt auf dem Sims vor meinem Fenster. Es ist kurz nach zwei Uhr. Der Vogel scheint zu schlafen unter einem geschlossenen Augenlid, das andere Auge schaut mich an, wie ich mich vorsichtig nähere. Langsam fahre ich mit dem Kopf an die Scheibe heran. Ich glaube, ich bin einem Sperling in meinem Leben noch nie so nahe gekommen, nur Zentimeter, etwas Glas, etwas Luft trennen uns. Der Vogel scheint mich in diesem Moment sorgsam zu beobachten, beide Augen sind geöffnet, er plustert sich, jetzt macht er beide Augen wieder zu. Ich gehe zum Schreibtisch, bin schläfrig geworden, nein, ich darf mich auf keinen Fall aufs Sofa setzen, das wäre das Ende der Arbeitsnacht. Ich notiere: Auf dem Broadway, Ecke 28. Straße, steht ein Mann zwischen Autos vor einer Ampel. Er verkauft Pistolen, die Seifenblasen erzeugen. Es ist kalt und windig, weswegen dem Lauf der Pistole nur kleine Seifenblasen entkommen. Der Mann schimpft vor sich hin, er droht dem Himmel mit der Waffe. Die Geste bleibt ohne Wirkung, weshalb der Mann sich wieder auf den Lauf seines Werkzeuges konzentriert. Sobald ein kopfgroßer Seifenballon doch einmal entsteht, der Ausdruck empörter Zufriedenheit auf seinem Gesicht, aber dann platzt die Blase und er fängt wieder von vorne an, wischt sich die Nase, die ihm davonzulaufen droht, richtet sich den Lumpen, der sein Gesicht umhüllt, die Ampel springt auf Grün, Autos fahren an, weitere Autos halten. Es ist kalt heute. Ich gehe südwärts spazieren, bis ich den Union Square erreiche, sitze ein wenig in der Sonne, Eichhörnchen wälzen sich wie Katzen auf dem sandigen Boden. Nach drei Stunden kehre ich zur Kreuzung Broadway Ecke 28 Straße zurück. Ein Mann steht dort zwischen Autos vor einer Ampel. Er verkauft Pistolen, die Seifenblasen erzeugen. Es ist derselbe Mann, den ich bereits beobachtete, es scheint sich bei dieser Menschenerscheinung um einen Loop zu handeln. Es ist denkbar, dass es Hunderttausende ähnlicher Loops in der Stadt New York zu beobachten gibt, Loops, die in der Subway sich vollziehen, Loops in Bürolandschaften, Loops in Warenhäusern. Ich freue mich über diese Entdeckung. Der Vogel vor dem Fenster lungert dort immer noch herum. Es ist jetzt schon viel später geworden, ich habe sehr langsam gearbeitet. – Astor Piazolla / El Concierto De Lugano. — stop

stand clear to the closing doors
sierra : 0.27 — War auf dem Weg südwärts in einem Subwayzug. Hatte mein Notizbuch in der Hand und notierte Wörter für Geräusche, die ich hörte. Heulen. Scheppern. Klirren. Zischen. Pfeifen. Bald waren alle nahe liegenden Möglichkeiten verzeichnet, und so fing ich an, Wörter zu erfinden, dschumm dschumm. Das war keine leichte Arbeit, vor allem das Notieren von Hand in dieser schwankenden Landschaft war kaum möglich gewesen, ich machte anstatt Wörtern Zeichnungen, die sich über eine ganze Seite meines Notizbuches erstreckten. Und plötzlich war da eine Stimme, eine besondere Stimme. Es war die Stimme einer Frau, die ich hörte. Sie reiste mit im Zug, verkündete die Namen der Stationen, die wir bald erreichen würden. Die Stimme kam aus einem Lautsprecher, der in die Decke des Waggons eingelassen war. Eine sanfte Stimme, eine Stimme, die ich vielleicht deshalb wahrgenommen hatte, weil man in ihr eine Spur von Anteilnahme vernehmen konnte, eine Freude zu sprechen, diese Wörter aufzusagen, Chambers Street. Ein Satz schien ihr besonders am Herzen zu liegen: Stand clear to the closing doors! Diesen Satz wiederholte sie beinahe zärtlich immer dann, wenn der Zug eine der Stationen wieder verlassen sollte. Es war wie eine Melodie. Ich hörte auf zu schreiben, und ich machte eine Tonaufnahme, beobachtete den Ausschlag des Zeigers auf meiner Maschine. Als wir eine halbe Stunde später die Endstation des Zuges erreichten, South Ferry, machte ich mich auf die Suche nach der Frau, der ich zugehört hatte. Es war eine kleine Frau, eine dunkelhäutige Frau mit weißem Haar, sie war sehr fein geschminkt, etwa 60 Jahre alt, sie unterhielt sich, als ich an ihr vorüberkam, mit einem Herrn, der wie sie selbst die blaue Uniform der New Yorker Verkehrsbetriebe trug. Sie schien sehr glücklich zu sein, voller Freude, eine leuchtende Person, dschumm dschumm. — stop

minutengeschichten
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~ : louis
to : daisy und violet hilton
subject : MINUTENGESCHICHTEN
Liebe Daisy, liebe Violet! Grüß Euch ganz herzlich! Früher Morgen hier unten bei uns. How are you doing? Ich hatte, seltsame Sache, in der vergangenen Nacht das Gefühl, irgendjemand würde mir, während ich mit meinem Bleistift arbeitete, über die Schulter schauen. Mehrfach habe ich mich umgesehen, auch vorgegeben, rein gar niemanden bemerkt zu haben, und dann plötzlich, na, Ihr wisst schon, ich bin mir sicher, Ihr wart in meiner Nähe gewesen, wie noch vor wenigen Wochen, als ich unterwegs war in New York, da habe ich Euch leibhaftig gesehen nachts an Bord der John F. Kennedy – Fähre, wie ihr übers Salondeck huschtet, Gespenster, würde man vielleicht sagen, Geister, reizende Erscheinungen. Sagt, habt Ihr nun gelesen, was ich notierte? Jenen kleinen Text der Minutengeschichten, den ich so gern mit der Hand wiederhole in schweren Zeiten? Ich schick ihn Euch zur Sicherheit noch einmal mit, ja, ja, die Büchermenschen, das solltet Ihr wissen, das sind Personen, die selbst dann noch lesen, wenn sie spazieren gehen. Wenn sie einmal nicht spazieren gehen, sitzen sie studierend auf Bänken in Parklandschaften herum, in Cafés oder in einer Untergrundbahn. Dort, aus heiterem Himmel angesprochen, wenn man sich nach ihrem Namen erkundigte, würden sie erschrecken und sie würden vielleicht sagen, ohne den Kopf von der Zeichenlinie zu heben, ich heiße Anna oder Victor, obwohl sie doch ganz anders heißen. Wenn man sie fragte, wo sie sich gerade befinden, würden sie behaupten, in Petuschki oder in Brooklyn oder in Kairo oder auf einem Amzonasregenwaldfluss. — Heute habe ich mir gedacht, man sollte für diese Menschen eine eigene Stadt errichten, eine Metropole, die allein für lesend durch das Leben reisende Menschen gemacht sein wird. Man könnte natürlich sagen, wir bauen keine neue Stadt, sondern wir nehmen eine bereits existierende Stadt, die geeignet ist, und machen daraus eine ganz andere Stadt, eine Stadt zunächst nur zur Probe. In dieser Stadt lesender Menschen sind Bibliotheken zu finden wie Blumen auf einer Wiese. Da sind also große Bibliotheken, und etwas kleinere, die haben die Größe eines Kiosks und sind geöffnet bei Tag und bei Nacht. Man könnte dort sehr kostbare Bücher entleihen, sagen wir, für eine Stunde oder zwei. Dann macht man sich auf den Weg durch die Stadt. Während man geht, wird gelesen. Das ist sehr gesund in dieser Art so in Bewegung. Auf alle Straßen, die man passieren wird, sind Linien aufgetragen, Strecken, die lesende Menschen durch die Stadt geleiten. Da sind also die gelben Kreise der Stunden- und da sind die roten Linien der Minutengeschichten. Blau sind die Strecken mächtiger Bücher, die schwer sind von feinsten Papieren. Sie führen weit aufs Land hinaus bis in die Wälder, wo man ungestört auf sehr bequemen Pinienbäumen sitzen und schlafen kann. In dieser Stadt lesender Menschen haben Automobile, sobald ein lesender Mensch sich nähert, den Vortritt zu geben, und alles ist sehr schön zauberhaft beleuchtet von einem Licht, das aus dem Boden kommt. – Ahoi! Euer Louis — stop
gesendet am
13.03.2012
06.05 MEZ
3015 zeichen
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ein engel im koffer
zoulou : 2.18 — Jeder Mensch sollte für Zeiten der Sorge, der Furcht, der inneren Not über einen Koffer kleiner Geschichten gebieten, Geschichten, die man sich selbst erzählen kann, ohne die Lippen öffnen zu müssen, heitere, tröstliche Kopfgeschichten, Geschichten, die sich bei Tag und bei Nacht, auch eben im Dunkeln ereignen. Ich selbst trage seit bald 15 Jahren einen Koffer dieser Art mit mir herum. Manchmal, wenn ich an meinen Koffer denke, fange ich an zu lachen, ohne ihn noch geöffnet zu haben. Es ist ein Koffer, – jeder, der selbst einen Behälter dieser Art besitzt, wird das wissen -, der durch seine reine, geheime Anwesenheit bereits wirksam werden kann. Manche meiner Geschichten sind kurzen Filmen ähnlich, sie verfügen über kaum eine Handlung, und weil ich sie mir immer wieder vorstelle oder erzähle, sind sie zu wahren Geschichten geworden. Einmal, zum Beispiel, in einem weit in der Zeit zurückliegenden Sommer saß ich auf meinem Sofa und las in irgendeinem Buch herum. Als ich kurz zum Fenster sah, flatterte ein Zitronenfalter vorüber, er flog von links nach rechts, und zwar sehr gerade, das heißt in ein und derselben Höhe. Kaum war er verschwunden kehrte er wieder, dieses Mal flog er von rechts nach links, war nun allerdings nicht mehr allein, ein Engel, groß wie ein Menschenfinger, folgte ihm. Dieser hellhäutige Engel versuchte in der Art und Weise der Zitronenfalter zu fliegen. Er hatte eine Fliegerbrille auf den Kopf gesetzt und seine äußerst filigranen Arme über einem runden Bauch gefaltet, er flog nämlich auf dem Rücken und stürzte aus dieser ungewöhnlichen Haltung ab. Bald war der Zitronenfalter vor meinem Fenster verschwunden gewesen, aber der Engel kam wieder und wieder vorbei in dem Versuch, ein Falter zu sein. Seine Stürze waren so senkrecht wie plötzlich, ein tapferes Wesen, das nicht aufgeben wollte. Ich las dann bald weiter in irgendeinem Buch, und war glücklich, würde ich sagen. – 2 Uhr Nacht. Lou Donaldson Callin’ all cats. — stop
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seltsame geschichte
india : 5.56 — Seit einigen Tagen ereignen sich in oder in der Umgebung meiner Schreibmaschine kuriose Dinge. Es geht darum, dass ein Text, den ich am Montag notierte, sich immer dann, wenn ich schlafe, verändert, und zwar zu seinem Nachteil. Fehlerhafte Wörter, die ich bereits korrigierte, kehren wieder oder ich entdecke vollständig neuartige Missbildungen, verdrehte Buchstaben, Worterfindungen, Punkte oder Kommata verschwinden, aus der Farbe ROT wird die Farbe BLAU, aus Schnee wird Regen, aus Kindern werden Greise. Es ist eine eigenartige Situation, ich gestehe, ich beginne mich zu fürchten. Selbstverständlich habe ich mir die Frage gestellt, ob sich vielleicht ein weiterer Mensch, den ich bislang nicht entdeckte, in meiner Wohnung befindet, oder ob ich vielleicht selbst schlafwandelnd mich an meine Schreibmaschine setze. In diesem Zusammenhang könnte die unheimlichste Aussicht der Gedanke sein, dass meine Schreibmaschine selbst oder gar der Text machen, was sie wollen. Von außen jedenfalls ist ihm nicht anzusehen, ob irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung sein könnte. Zur Prüfung, der Text beginnt so: Der Rasen in Zyp’s Garten war ein Teppich von Moos, auf dem immer irgendetwas blühte. Selbst in den kalten Monaten des Winters, wenn es schneite, wenn das Eis an die Küste schindelte, glaubte Zyp Wesley, die Geräusche des Wachsens und Vergehens zu hören aus dem unsichtbaren Raum unter dem Weiß. Er verfügte über ein hervorragendes Gehör, obwohl er seit Jahren Posaune spielte, wohnte deshalb etwas abseits. Das nächste Haus, indem eine Familie mit Kindern siedelte, war etwa zweihundert Meter weit entfernt, hinter einer Anhöhe passierten die Geleise der Staten Island Rail seine Gegend. Man konnte von dort das Scheppern der Subwayzüge leise hören bei Tag und bei Nacht. – stop
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PRÄPARIERSAAL : schwärme
tango : 1.16 — Gestern, Punkt 10 Uhr abends, habe ich meine anatomische Tonbandmaschine wieder angeworfen. Ich hörte eine Aufnahme, die ich mit der Beschriftung No 87 versehen hatte. Leider konnte ich mich nicht erinnern, wo das Dokument aufgenommen worden sein könnte, weil ich versäumte, Zeit und Ort des Gesprächs, sowie den Namen der sprechenden Person zu notieren. Eine Frauenstimme war zu hören und das Zwitschern von Vögeln. Die Stimme sprach rasend schnell, als ob sie den Vögeln nacheifern wollte. Mehrfach musste ich die Aufnahme in einem ersten Durchgang anhalten und wiederholen, um verstehen oder erahnen zu können, was die Stimme gesagt hatte. Ich habe ihr einen provisorischen Namen gegeben. Melanie erzählt: > Es ist eine aufregende Zeit. Da sind Schwärme von Gedanken, Geräuschen, Bildern, Gerüchen in meinem Kopf. Ich kann sie jederzeit hervorholen. Manchmal kommen sie von selbst. Ungefragt. Vielleicht darum, weil ich etwas Besonderes erlebe. Oft habe ich schon den Versuch unternommen, von meinen Erfahrungen zu berichten. Ich habe das Gespräch gesucht, Sie verstehen, ich bin stolz, der Aufgabe gewachsen zu sein. Deshalb erzähle ich mit Begeisterung. Ich habe zum Beispiel davon erzählt, dass ich sehr gerne an Muskeln präpariere. Ich habe von der luziden, perlmuttfarbenen Haut berichtet, die Muskeln umgibt. Ich habe von der Befriedigung erzählt, die ich empfinde, wenn ich einen Muskel vollständig freigelegt habe, wenn ich den Muskel begreifen konnte, seinen Ursprung und seinen Ansatz erkennen. Ich habe, während ich erzählte, mit meinen Händen vorausgearbeitet, habe mit meinen Händen auf dem Tisch Bewegungen ausgeführt, als wartete dort eine Struktur, die ich noch rasch präparieren sollte. Handarbeit, sagte ich, wenn du eine gute Ärztin sein willst, musst du zunächst eine gute Handwerkerin sein. Wenn du nicht Hand anlegen willst an einen Menschen, ist alle Mühe nicht wert. Eine Professorin erklärte einmal: Seien Sie neugierig. Verfolgen Sie die Strukturen weiter bis zu ihrem Ende. Glauben Sie nichts, prüfen Sie, ob das, was in den Anatomiebüchern steht, wirklich stimmt. Sehen Sie nach und sie werden mit Strukturen belohnt. — Ja, es ist aufregend. Eine Assistentin notierte eine wunderbare Geschichte für mich. Das war an dem Tag gewesen, als Gehirne entnommen worden waren. Da sei eine Kollegin durch den Saal auf sie zugekommen und habe ihr ein Gehirn in die Hände gelegt. Sie wollte ihr eine erste Erfahrung schenken, und sie wollte in diesem bedeutenden Moment an ihrer Seite sein. Das Gehirn, ihr erstes Gehirn, sei unerwartet schwer gewesen. Sie erinnerte sich gut an ihre Sorge, sie könnte das Gehirn fallen lassen. Sie habe in diesem Augenblick daran gedacht, dass sie eine ganz Welt in Händen halte, Träume eines Lebens, Bilder, Sätze, Wörter, Wörter, die nie wieder erreichbar sein werden. – stop

manhattan : zuccotti park
marimba : 17.55 — Die folgende Geschichte, oder Teile dieser Geschichte, haben sich in meinem Leben nicht gerade so ereignet, wie ich sie erzählen werde. Ich habe sie mir ausgedacht, das heißt, die Geschichte, die von einer Pizzeria berichtet, ist mir eingefallen, als ich tatsächlich genau diese erzählte Pizzeria besuchte in der Greenwich Street nahe dem Zuccotti Park. Ich war einige Stunden in der Fähre zwischen Manhattan und Staten Island gependelt, hatte Geräusche aufgenommen, fotografiert und über Gerüche notiert. Saß nun auf einem Hocker am Fenster des kleinen italienischen Ladens in der Wärme, aß und trank und schaute auf den Zaun, hinter dem sich unmittelbar das Gelände des World Trade Centers befindet. Ich versuchte mir vorzustellen, wie dieser Ort den Einsturz der riesigen Gebäude überstehen konnte, was in diesen Räumen geschehen war in den Minuten der Katastrophe. Fenster könnten geborsten, Tisch und Stühle vom Luftdruck der Staubwolke durch den Raum geschleudert worden sein. Vielleicht hatten sich Menschen bis hierher geflüchtet, vielleicht waren sie verletzt, vielleicht waren sie an dieser Stelle gestorben, erstickt, erschlagen oder verbrannt. Der kleine Laden jedenfalls hatte sich gut erholt. Keinerlei Spur von der Hölle, die sich in nächster Nähe entfaltet hatte. Auch der Mann hinter dem Tresen wirkte kräftig und gesund, obwohl der Lärm der gewaltigen Baustelle hinter dem Zaun an seinen Nerven gezerrt haben musste. Ich überlegte, ob er Augenzeuge gewesen sein könnte, beobachtete ihn eine Weile, und als er sich einmal näherte, fragte ich ihn. Der Mann musterte mich mit einem schnellen Blick, ohne zu antworten. Bald stand er wieder hinter seinem Tresen, so als wäre nichts geschehen, keine Gegenfrage, kein Versuch, in der Zeit zurückzukommen. Ich konnte in diesem Moment nicht einmal sagen, ob ich tatsächlich gefragt oder mir die Frage nur vorgenommen hatte, auch ob der Mann so lange geschwiegen hatte, bis ich mich der Türe näherte, um auf die Straße zu treten, konnte ich nicht mit Sicherheit behaupten. Seine Stimme in diesem Moment: It was horrible! Dann wieder das Rattern der Motorschrauber. Im Park, im berühmten Zuccotti Park, eine Handvoll Menschen von Polizisten umringt. Keine Zelte, keine Möwen, aber Tauben, Tauben, Tauben. — stop
midtown : library
alpha : 0.22 — Im Laden der New York Public Library entdecke ich einen Brief, den Emilie Dickinsons im Jahre 1852 an Susan Gilbert notierte. Weiterhin Briefe des Schriftstellers H.D.Lawrence an Ernest Weekly, Jack Londons an Anna Strunsky, sowie Mark Twains an Enid Jocelyn Agnew. Diese Briefe kosten in einer Sammlung 50 $. Sie sind auf Tischtüchern festgehalten, feine, helle Stoffe, Handarbeit: Made in India. Seltsame Sache. — stop

upper east side : mail
india : 2.08 — Im 22. Stock des Hauses in Manhattan, in dem ich wohne, befindet sich vor Aufzügen ein Briefkasten der United States Postal Services, ein Schlitz, der in die Wand eingelassen wurde, ein gusseiserner Mund, genauer, mit einem schweren Häubchen von roter Farbe. Ich war im Postoffice an der Penn Station gewesen, um eine Briefmarke zu besorgen und einen Briefumschlag, eine Postkarte hatte ich schon, sie zeigt eine Fotografie der Mundharmonika Jack Kerouacs. Ich habe nun Folgendes unternommen. Ich habe auf die Postkarte einen Satz für mich selbst notiert, der natürlich geheim bleiben muss. Dann habe ich die Postkarte in den Briefumschlag gesteckt, meine Adresse notiert und den Brief in den kleinen Mund vor den Aufzügen gesteckt. In dem Moment, da ich den Brief aus den Händen in die Tiefe gleiten ließ, mein Ohr hatte ich dicht an den Schlitz herangeführt, war kein Geräusch zu hören gewesen, als ob der Brief in einem Nichts verschwinden würde. — Spaziert im Central Park. Leichter Regen. Eine Stadt voller Menschen unter Schirmen, die miteinander zu sprechen scheinen. – stop




